Zumindest die etwas älteren Semester werden sich alle erinnern an das Jahr 1985, als das Buch „Ganz unten“ von Günther Wallraff erschien und – man kann es so sagen – ein Ruck durch Deutschland ging angesichts der Schilderung desaströser Arbeitsbedingungen in der Undercover-Reportage, in der Wallraff als Türke „Ali“ unter anderem auch mit der Leiharbeit Bekanntschaft gemacht hat (vgl. anlässlich des 30jährigen Jubiläums das Interview mit ihm: „Ausländer sucht Drecksarbeit, auch für wenig Geld“). Auch heute noch hat die Leiharbeit (nicht nur) ein Image-Problem. Vor allem im Gefolge der erheblichen Expansion der Leiharbeit in den Jahren nach der großen Deregulierung im Zuge der „Hartz-Reformen“ 2003 ging ein gehöriger Anteil der zusätzlichen Leiharbeiter auf die offensichtliche Lohndumping-Strategie eines Teils der Unternehmen zurück, was dem eigentlichen Sinn der Leiharbeit, also die Abdeckung kurzfristiger Auftragsspitzen oder die temporäre Kompensation ausgefallener eigener Mitarbeiter, zuwiderläuft. Bei dieser Verschiebung hin zu einer dauerhaften Beschäftigung von Leiharbeitern (nicht zu verwechseln mit dauerhafter Beschäftigung der einzelnen Person) in den Entleihunternehmen ging es nicht nur um die Ausnutzung des Lohndifferentials zwischen Stamm- und flexibler Randbelegschaft sowie der Realisierung eines „atmenden Unternehmens“ aufgrund der hohen Flexibilität durch Leiharbeiter, von denen man sich ohne Probleme schnell wieder trennen bzw. umgekehrt die man schnell anheuern kann, wenn Bedarf besteht. Es wurde mit der expandierenden und weitgehend rechtlosen Randbelegschaft zugleich auch ein Druckmittel vergrößert gegen die Stammbelegschaft, die sich angesichts ihrer zumindest teilweisen Ersetzbarkeit zurückhalten sollte bei Forderungen gegenüber dem eigenen Arbeitgeber.
Insofern muss man von einer hoch problematischen Doppelwirkung der Leiharbeit ausgehen – zum einen in die Reihen der Stammbelegschaft hinein, zum anderen aber natürlich auch in Form oftmals deutlich schlechterer Arbeitsbedingungen für die Leiharbeiter selbst. Die Berichte darüber füllen eine ganze Bibliothek. Und auch der DGB, der sich mit dem Papier Risiken und Reformbedarf in der Leiharbeit nun zu Wort gemeldet hat, komprimiert in seinen Ausführungen die bekannten und immer wieder vorgetragenen „wunden Punkte“ hinsichtlich der Situation der Leiharbeiter selbst:
»Das besondere Dreiecksverhältnis zwischen Verleiher und Entleiher sowie der Leiharbeitskraft verlagert die Risiken des Arbeitsmarktes einseitig auf die Beschäftigten. So sind Leiharbeiter nach wie vor oft arbeitslos. Das Leitbild, ein Beschäftigter wird in verschiedenen Unternehmen eingesetzt, ist aber bei einem Verleiher dauerhaft angestellt, hat mit der Realität nichts zu tun. Die Risiken des flexiblen Arbeitsmarktes tragen die Beschäftigten, nicht die Arbeitgeber. Der Kündigungsschutz ist schwach. Rund die Hälfte der Arbeitsverhältnisse endet bereits vor Ablauf von drei Monaten. Insgesamt werden innerhalb eines Jahres rund eine Million Arbeitsverhältnisse beendet, obwohl nur 850.000 in der Branche beschäftigt sind. Leiharbeit ist nur selten eine Brücke in feste Beschäftigung, zumindest nicht bei dem Betrieb, in dem sie eingesetzt werden. Diese Brückenfunktion wird in der öffentlichen Debatte überschätzt. Leiharbeiter werden oft unterhalb ihrer Qualifikation eingesetzt. 40 Prozent der Leiharbeiter, die als Hilfskräfte eingesetzt werden, haben eine abgeschlossene Berufsausbildung. Darüber hinaus fehlen Entwicklungsmöglichkeiten und Weiterbildung. Auch die gesundheitlichen Risiken sind höher als bei allen Beschäftigten insgesamt. Auch die sozialen Risiken sind hoch. Sechs Prozent der Leiharbeiter müssen ihren Lohn durch Hartz-IV-Leistungen aufstocken, weil das Einkommen zu gering ist. Hierfür wenden die Steuerzahler 200 Mio. Euro pro Jahr auf. Bei Arbeitslosigkeit greift der Schutz der Arbeitslosenversicherung für viele nicht. 38 Prozent derjenigen, die arbeitslos werden, rutschen direkt in Hartz IV, obwohl sie vorher sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben … Nach wie vor werden Leiharbeiter deutlich schlechter bezahlt als ver- gleichbare Beschäftigte in den Einsatzbetrieben.«
Und die Verleihunternehmen bedienen sich gerne und intensiv der Infrastruktur der Arbeitsagenturen und Jobcenter, man kann sogar soweit gehen zu sagen, ohne die würde das Geschäftsmodell nicht funktionieren:
»In keiner anderen Branche ist der Personalumschlag größer als im Verleihgewerbe. Allein den Arbeitsagenturen und Jobcentern melden die Verleiher im Jahresschnitt gut 700.000 Arbeitsstellen, Tendenz wieder steigend. Dies entspricht einem Anteil von rd. 35 Prozent aller deutschlandweit gemeldeten Stellen.
Arbeitslose sind ein wichtiges Rekrutierungsfeld für die Verleihbranche. 392.000 Arbeitslose haben innerhalb von 12 Monaten (Juni 2014 bis Mai 2015) als Leiharbeitskraft einen neuen Job gefunden. Jeder fünfte durch die BA vermittelte Arbeitslose, kommt somit in der Verleihbranche unter. Im Verleihgewerbe werden gut doppelt so viele Arbeitslose eingestellt wie im Verarbeitenden Gewerbe, obwohl diese Branche weit größer ist … Die Verleiher greifen … in starkem Maße auf Personengruppen zurück, die zuvor nicht oder instabil beschäftigt waren. Diese Arbeitnehmergruppen nehmen oftmals mangels anderer Alternativen auch schlechter bezahlte und nur vorübergehende Jobs an. Dies bedeutet aber nicht, dass sie stabil in den Arbeitsmarkt eingegliedert sind. Für den Verleiher sind Arbeitslose schnell verfügbar und können so kurzfristig und vorübergehend genutzt werden. Durch die hohe Verfügbarkeit dieser Gruppen können die Verleiher ihre Risiken leicht abwälzen. Sie haben kein Interesse daran, die Beschäftigen langfristig zu binden und auch bei Auftragsmangel zu halten.«
Soweit die Diagnose, die auch in vielen anderen Berichten schon anzutreffen ist. Was nun fordert der Deutsche Gewerkschaftsbund mit Blick auf die demnächst anstehende nächste Regulierungsrunde der Leiharbeit?
»Die Koalitionsparteien haben u.a. vereinbart die Überlassungshöchstdauer gesetzlich auf 18 Monate zu begrenzen und die Leiharbeitskräfte nach spätestens neun Monaten beim Entgelt mit den Stammarbeitskräften des Einsatzbetriebes gleichzustellen.« (DGB 2015: 14)
Das wird mitgetragen und unterstützt – wobei die beabsichtige Begrenzung der Überlassungshöchstdauer (die es bis zu den Hartz-Gesetzen gegeben hatte und die mal bei 3 Monaten gestartet ist, um dann im Laufe der Jahre seit 1985 immer mal wieder angehoben zu werden (zum 1.1.2002, also vor der Arbeit der Hartz-Kommission auf 24 Monaten, bei einer Gleichstellung mit den Stammbeschäftigten nach 12 Monaten) durchaus kritisch diskutiert werden muss (vgl. dazu meinen Blog-Beitrag 18 Monate und nicht länger. Oder darf es doch mehr, also länger sein? Die Leiharbeit und die Versuche, sie zu re-regulieren vom 1. August 2015). Aber die Gewerkschaften fordern weitere Schritte (vgl. hierzu DGB 2015: 14):
- Streikbrecherarbeiten durch Verleihbetriebe müssen gesetzlich verboten werden. Die Verleihbetriebe haben sich zwar im Tarifvertrag verpflichtet, keine Streikbrecher einzusetzen. Der Poststreik hat aber gezeigt, dass es Schlupflöcher gibt, so sind z.B. ausländische Leiharbeiter eingesetzt worden. Ein gesetzliches Verbot schafft hier Klarheit und Gleichbehandlung.
- Leiharbeitskräfte müssen bei den betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten berücksichtigt werden. So werden Arbeitgeber daran gehindert, durch das Auslagern von Arbeit auf Verleihunternehmen die Betriebsräte zu schwächen.
- Darüber hinaus soll es nicht mehr möglich sein, einen Werkvertrag nachträglich in Leiharbeit umzuwandeln. Dieses Schlupfloch hatten viele Unternehmen offen gehalten, wenn sie Werkverträge konstruiert haben, die zweifelhaft waren. Wenn es zu einer Beanstandung kam, wurde der Werkvertrag in Leiharbeit „umgewandelt“, dies hatte zur Folge, dass der Einsatzbetrieb die Beschäftigten nicht als eigene Arbeitskräfte übernehmen musste. Das Verbot der Umwandlung soll also insbesondere „schwarze Schafe“ abschrecken.
Zum letzten Punkt: Dieser Regelungsvorschlag, um den berühmten „Reserve-Fallschirm“ der Werkvertragsunternehmen, die in Wirklichkeit keine echten Werkverträge durchführen, sondern unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung betreiben, aus deren Arsenal zu entfernen, was natürlich einen erheblichen Druck auf die (faktisch entleihenden) Unternehmen aufbauen würde, die Korrektheit der Werkverträge sicherzustellen, wurde bereits vor Jahren vom Arbeitsrechtler Peter Schüren vertreten. Vgl. hierzu meine entsprechende Forderung in Sell, S.: Lohndumping durch Werk- und Dienstverträge? Problemanalyse und Lösungsansätze (= Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 13-2013), Remagen 2013.
Diese Regelung ist schon längst überfällig, denn seit einigen Jahren expandieren die Werkverträge – auch deshalb, weil die seit 2011 an Fahrt aufnehmende Re-Regulierung der Leiharbeit, vor allem aber die Einführung von Branchenzuschlägen beispielsweise im Metallbereich die Leiharbeit aus Sicht der entleihenden Unternehmen erkennbar verteuert hat, so dass man sofort begann, neue Umgehungsstrategien zu identifizieren.
Möglicherweise wird die in den kommenden Wochen aus dem Bundesarbeitsministerium erwartete Regulierung der Leiharbeit im Sinne der erwähnten Punkte Überlassungshöchstdauer und Gleichstellung kommen und als Erfolg gefeiert werden, während in der Realität viele Unternehmen schon weiter gezogen sind und versuchen, die „zu teure“ Leiharbeit durch andere Beschäftigungsformate zu ersetzen. Auch wenn die Werkverträge ebenfalls gesetzgeberisch eingehegt werden sollen – das wird wesentlich schwieriger werden als eine Regulierung der Leiharbeit (vgl. dazu meine Beiträge Werkverträge als echtes Problem für Betriebsräte und Gewerkschaft. Und eine „doppelte Tariffrage“ für die IG Metall vom 24. September 2015 sowie Outsourcing mit Folgen: Werkverträge im Visier. Die IG Metall versucht, den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen vom 1. September 2015).