Die Diskussionen über angeblichen oder tatsächlichen Missbrauch von Sozialhilfe werden seit Urzeiten geführt und auch bei uns in Deutschland gibt es immer wieder – und gerne im Kontext von geplanten oder zu legitimierenden Leistungskürzungen – mediale Schlammschlachten, in denen man das „abweichende“ Verhalten bestimmter Sozialhilfeempfänger über die Bildschirme und Zeitungsseiten verbreitet. In der Realität der Leistungsgewährung gibt es ganz handfeste Konsequenzen, wenn die Menschen, denen man Geldleistungen gewährt, bestimmte Verhaltenserwartungen nicht erfüllen (wollen). Man denke hier an die Sanktionen, die wir im Hartz IV-System haben. Die Frage, ob diese überhaupt und wenn, dann in welcher Form überhaupt verfassungsgemäß sind, beschäftigt das höchste deutsche Gericht seit Jahren. Die Entscheidung darüber soll am 5. November 2019 vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe verkündet werden. Dabei wird es auch um die Frage gehen, ob man eine Sozialhilfeleistung, die das Existenzminimum abdecken soll, kürzen darf, wenn die Betroffenen bestimmte Verhaltensauflagen hinsichtlich ihrer Mitwirkung nicht erfüllen, was beispielsweise die Einhaltung von Meldeterminen oder der Auflagen aus „Eingliederungsvereinbarungen“ angeht. Aber ob der Hartz IV-Empfänger an einer gegen oder für was auch immer gearteten Demonstration teilnimmt, geht das Jobcenter nichts an und kann auch nicht zu einer Leistungskürzung führen. In Australien möchte man genau das aber machen.
»Der australische Innenminister Peter Dutton empfiehlt, Klimaaktivisten, die Gesetze brechen, die Sozialhilfe zu streichen. Angesichts fortgesetzter Proteste in der Stadt Brisbane erklärte er zudem, möglichst viele Menschen sollten die Demonstranten fotografieren und ihre Gesichter veröffentlichen, um so den Druck auf deren Familien zu erhöhen. „Die Menschen sollten die Namen und Fotos dieser Leute aufnehmen und sie so weit wie möglich verbreiten, damit wir sie an den Pranger stellen. Lasst die Familien wissen, was wir von so einem Benehmen halten“, erklärte der Minister im Rundfunk. In Brisbane kommt es immer wieder zu Protesten gegen den Klimawandel und eine neue riesige Kohlemine durch den indischen Adani-Konzern. Dabei ketten sich Demonstranten auch an Straßengitter oder seilen sich von Brücken ab und halten so den Verkehr auf.« Das kann man der Meldung „Strafen für Klimademonstranten. Australischer Innenminister will Sozialhilfe streichen“ entnehmen, der am 4. Oktober 2019 in der Printausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht wurde.
Zum Hintergrund: »Der Bundesstaat Queensland, in dem auch Brisbane liegt, ist die größte Kohleregion Australiens. In der Vergangenheit gab es im ganzen Land mehrfach Protestaktionen und Demonstrationen, insbesondere gegen den geplanten Bau einer weiteren Mine durch den Adani-Konzern.« So der Artikel Gut 70 Festnahmen bei Klima-Protesten. Aber Australien geht noch einen deutlich größeren Schritt weiter.
Darüber berichtet der Wirtschaftsjournalist Norbert Häring in seinem Beitrag Australien führt Sozialhilfeempfänger am digitalen Gängelband und macht die wahre Fratze der bargeldlosen Gesellschaft sichtbar. Und den dort beschriebenen Ansatz sollte man sich sehr genau anschauen – sowohl hinsichtlich der dahinter stehenden gleichsam „neo-viktorianischen“ Philosophie wie auch der Bedeutung des Bargeldes in Zeiten einer zunehmenden Durchdringung des alltäglichen Zahlungsverkehrs mit bargeldlosen Zahlungsvarianten. Zwei Themen, die nur auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben.
Der zentrale Ansatzpunkt des Konzepts, das die australische Regierung nun auf das ganze Land ausweiten möchte: »In Australien laufen seit einigen Jahren in verschiedenen Regionen Versuche, bei denen Sozialhilfe auf Debitkarten ausgezahlt wird. Diese sollen das Verhalten der Inhaber steuern. Zum Bezahlen bestimmter Güter und Dienste können sie nicht verwendet werden.« Es geht um das Cashless Debit Card program. Dieses richtet sich (bislang) an Kommunen, in denen überdurchschnittlich viele Menschen Sozialhilfehilfeleistungen beziehen und gleichzeitig viele „soziale Schäden“ beobachtet werden. Norbert Häring übersetzt das vor dem Hintergrund der Besonderheiten in Australien so: »Gemeint fühlen sich vor allem Gemeinden und Gemeinschaften von Ureinwohnern, die in starkem Maße auf Sozialhilfe angewiesen sind.« Der Kern des Programms besteht aus dieser Zielsetzung:
»The Cashless Debit Card is testing whether reducing the amount of cash available in a community will reduce the overall harm caused by welfare fueled alcohol, gambling and drug misuse.«
Man will also einen (angeblich) „wohlfahrtsinduzierten Missbrauch“ beispielsweise von Alkohol reduzieren. Und welche Rolle spielt dabei der Kartenansatz? Man ahnt es schon – mit einem bargeldlosen Zahlungsverkehr könnte man in jede einzelne Transaktion eingreifen, diese beispielsweise auch verhindern. So ist es auch im australischen Fall: »Das Geld auf der Karte kann nicht für Alkohol, Spiele und bestimmte Geschenkgutscheine ausgegeben werden. Online kann man damit nur bei von der Regierung genehmigten Händlern einkaufen. Bargeld abheben kann man mit der Karte auch nicht.« Und das soll nun nicht nur ausgeweitet werden auf andere Regionen, sondern auch hinsichtlich der Ausschließlichkeit, denn: »Bisher gehen 80 Prozent der Sozialhilfe auf die beschränkten Karten, 20 Prozent werden auf ein normales Konto überwiesen. Nach der geplanten Gesetzesreform hätte die Regierung allerdings die Möglichkeit, den Prozentsatz auf 100 Prozent anzuheben.«
Norbert Häring sieht das grundsätzlich skeptisch: »Bei genauerem Hinsehen wird jedoch der totatlitäre Charakter des Projekts deutlich. Ziel ist es, den Menschen durch umfassende Kontrolle und Manipulation ihres Handelns die Freiheit zu nehmen, Schlechtes zu tun. Freiheit ist aber nicht teilbar. Wenn man keine Freiheit mehr hat, Schlechtes zu tun, dann ist man nicht mehr frei.«
Der in diesem Beitrag bereits angesprochene „neo-viktorianische“ Charakter des Programms wird deutlich, wenn man sich anschaut, was man von denen erwartet, die das Programm verlassen wollen, also wenn man die Sozialhilfe nicht mehr bargeldlos auf eine Karte bekommen möchte: »Sie müssen auf entwürdigende Weise beweisen, dass sie im umfassenden Sinnen aufrechte Bürger sind. Nicht die Regierung muss beweisen, dass sie eine Gefahr für sich oder die Menschen um sie herum sind. Sie müssen beweisen, dass sie es nicht sind«, so die Zusammenfassung von Häring. Wer sich das im Original anschauen möchte, der kann das konkret am Antragsformular nachvollziehen: Cashless Debit Card Exit Application. Dort heißt es dann gleich am Anfang: »To exit the program, you will need to show that you can reasonably and responsibly manage your personal and financial affairs.« Wenn man das nicht nachweisen kann, dann geht das nicht mit dem Ausstieg aus dem Programm.
»Dafür nimmt sich die Regierung ausdrücklich das Recht, die gesamte Zahlungshistorie mit der Debitkarte zu durchforschen. Der Antragsteller soll darüber hinaus unter anderem beweisen, dass er in der Gemeinschaft engagiert ist und dass er sich bemüht, Arbeit zu finden. Wenn er seine Beweise beigebracht hat, muss er noch ein Telefoninterview mit jemand vom Amt führen und bestehen«, so beschreibt Häring die Prozedur.
Man kann sich durchaus vorstellen, wie das, was am Anfang schrittweise für Sozialhilfeempfänger durchgesetzt wird, in andere gesellschaftliche Bereiche diffundiert und man immer öfter fordern wird, Menschen an ein „bargeldloses Gängelband“ zu ketten.