Kein Schadensersatz für „erlittenes Leben“, urteilt der Bundesgerichtshof. Und trotzdem sind einige unzufrieden

Die Sozialpolitik und die Rechtsprechung beschäftigen sich zuweilen mit existenziellen Themen, bei denen es um Leben oder Tod geht. Und manchmal geht es um nicht weniger als den Preis des Lebens – eines ungewollten Lebens. Da werden nicht wenige gehörig schlucken müssen. Was muss man sich darunter vorstellen? »Der Sohn eines ehemaligen Patienten verklagt dessen Arzt, weil er seinen Vater zu lange am Leben erhalten habe«, kann man dem Artikel Der Preis des Lebens oder Leben um jeden Preis? von Maximilian Amos entnehmen. Der Bundesgerichtshof (BGH) musste die Frage verhandeln, »ob das Leben auch ein Schaden sein kann (BGH, VI ZR 13/18). Auf den ersten Blick mag das absurd wirken: das Leben als ersatzfähiger Posten und das sogar in negativer Hinsicht. Doch genau das fordert der Sohn eines 2011 verstorbenen Mannes, der, tödlich erkrankt und schwer dement, von seinem behandelnden Hausarzt am Leben erhalten wurde. Dieser soll nun Schadensersatz zahlen, weil sein Vater weiterleben musste, so das Begehren des Sohnes.«

Das stand am Anfang des Beitrags Schadensersatz für „erlittenes Leben“? Sollte das Weiterleben als ersatzfähiger „Schaden“ anerkannt werden, dann wird das Folgen haben, der hier am 14. März 2019 veröffentlicht wurde. Und zwischenzeitlich hat der Bundesgerichtshof seine Entscheidung in diesem Fall verkündet.

Der BGH hat seine Pressemitteilung dazu vom 2. April 2019 unter die erst einmal nichts konkretisierende Überschrift gestellt: Bundesgerichtshof entscheidet über Haftung wegen Lebenserhaltung durch künstliche Ernährung. Zuerst einmal werden wir über den Sachverhalt informiert:

»Der 1929 geborene Vater des Klägers (Patient) litt an fortgeschrittener Demenz. Er war bewegungs- und kommunikationsunfähig. In den letzten beiden Jahren seines Lebens kamen Lungenentzündungen und eine Gallenblasenentzündung hinzu. Im Oktober 2011 verstarb er. Der Patient wurde von September 2006 bis zu seinem Tod mittels einer PEG-Magensonde künstlich ernährt. Er stand unter Betreuung eines Rechtsanwalts. Der Beklagte, ein niedergelassener Arzt für Allgemeinmedizin, betreute den Patienten hausärztlich. Der Patient hatte keine Patientenverfügung errichtet. Sein Wille hinsichtlich des Einsatzes lebenserhaltender Maßnahmen ließ sich auch nicht anderweitig feststellen. Es war damit nicht über die Fallgestaltung zu entscheiden, dass die künstliche Ernährung gegen den Willen des Betroffenen erfolgte.
Der Kläger macht geltend, die künstliche Ernährung habe spätestens seit Anfang 2010 nur noch zu einer sinnlosen Verlängerung des krankheitsbedingten Leidens des Patienten geführt. Der Beklagte sei daher verpflichtet gewesen, das Therapieziel dahingehend zu ändern, dass das Sterben des Patienten durch Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen zugelassen werde. Der Kläger verlangt aus ererbtem Recht seines Vaters Schmerzensgeld sowie Ersatz für Behandlungs- und Pflegeaufwendungen.«

Vor dem Bundesgerichtshof gab es bereits untere Instanzen, die sich mit dem Fall auseinandergesetzt und abweichende Entscheidungen getroffen haben: »Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht diesem ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000 € zugesprochen. Der Beklagte sei im Rahmen seiner Aufklärungspflicht gehalten gewesen, mit dem Betreuer die Frage der Fortsetzung oder Beendigung der Sondenernährung eingehend zu erörtern, was er unterlassen habe. Die aus dieser Pflichtverletzung resultierende Lebens- und gleichzeitig Leidensverlängerung des Patienten stelle einen ersatzfähigen Schaden dar.«

Und dann kommt die Entscheidung des hohen Gerichts – und die lässt (scheinbar) an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:

»Dem Kläger steht kein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes zu. Dabei kann dahinstehen, ob der Beklagte Pflichten verletzt hat … Hier steht der durch die künstliche Ernährung ermöglichte Zustand des Weiterlebens mit krankheitsbedingten Leiden dem Zustand gegenüber, wie er bei Abbruch der künstlichen Ernährung eingetreten wäre, also dem Tod. Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Deshalb verbietet es sich, das Leben – auch ein leidensbehaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Auch wenn ein Patient selbst sein Leben als lebensunwert erachten mag mit der Folge, dass eine lebenserhaltende Maßnahme gegen seinen Willen zu unterbleiben hat, verbietet die Verfassungsordnung aller staatlichen Gewalt einschließlich der Rechtsprechung ein solches Urteil über das Leben des betroffenen Patienten mit der Schlussfolgerung, dieses Leben sei ein Schaden.«

Und dem Kläger, also dem Sohn, der übrigens als Leiter einer Pflegedienstabteilung eines Krankenhauses tätig ist, schreiben die Bundesrichter dies ins Stammbuch: »Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Ersatz der durch das Weiterleben des Patienten bedingten Behandlungs- und Pflegeaufwendungen zu. Schutzzweck etwaiger Aufklärungs- und Behandlungspflichten im Zusammenhang mit lebenserhaltenden Maßnahmen ist es nicht, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben und den dem Leben anhaftenden krankheitsbedingten Leiden verbunden sind, zu verhindern. Insbesondere dienen diese Pflichten nicht dazu, den Erben das Vermögen des Patienten möglichst ungeschmälert zu erhalten.«

Das muss auch vor dem Hintergrund der Befürchtungen, die im Vorfeld der Entscheidung des BGH vorgetragen wurden, eingeordnet werden. So beispielsweise die Argumentation von Wolfgang Janisch in seinem Artikel Lebensende darf nicht zur Haftungsfrage werden:

»Es geht nicht darum, dass ein Arzt einen Blinddarm herausoperieren wollte, den es nicht mehr gab. Der Vorwurf lautet vielmehr, dass der Arzt nicht den Tod des Patienten gewählt hat, als die bessere Alternative zum Weiterleben, das nur noch ein Weiterleiden war. Er soll haften, weil er das Sterbenlassen verhindert hat. Der leidvolle Lebensrest würde damit zum „Schaden“, der finanziell kompensierbar ist. Wäre dies das juristische Mittel der Wahl, dann wäre der nächste logische Schritt die Entschädigungsforderung der Kranken- und Pflegekassen: Warum sollen sie auf all den Kosten sitzen bleiben, die ein Arzt durch eine rechtswidrige Behandlung verursacht hat?
Welche Kalkulation eine durchökonomisierte Welt dann aufstellte, ist leicht zu ermessen: Ein Leben, das von Rechts wegen hätte zu Ende sein müssen, wird mit den Kosten gegengerechnet, die es verursacht hat. Da ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Schreckensvokabel vom „unwerten Leben“.«

In vielen Beiträgen in Reaktion auf das Urteil des BGH gab es große Zustimmung zu dieser – wie gesagt scheinbaren – Eindeutigkeit der Ausführungen des Gerichts. Aber man findet auch kritische Stimmen, die sollen nicht unerwähnt bleiben, legen sie doch die Finger auf weiterhin offene Fragen.

So hat Dietmar Hipp seine Analyse unter die bereits im Titel Bedenken anmeldende Überschrift Harter Fall, schlechtes Urteil gestellt: Er zitiert den Münchner Anwalt Wolfgang Putz, der den Kläger vertreten hat und der verständlicherweise nicht begeistert war von der Entscheidung: Was der BGH verkündet habe, so der Medizinrechtler Putz, bedeute in der Konsequenz „Lebenserhaltung bis zum Gehtnichtmehr“. Und selbst „ein rechtswidriges Verhalten des Arztes bleibt zivilrechtlich ohne Folge“, erklärt Richard Lindner, der BGH-Anwalt des Klägers, weil der BGH ein Schmerzensgeld oder einen Schadensersatz wegen der Lebenserhaltung generell ablehnte. Das gilt demnach selbst dann, wenn es einen klaren Willen des Patienten gegeben hätte, auf lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten.

Dass ein Behandlungs- oder Aufklärungsfehler vorlag, ließ der BGH in seiner Entscheidung ausdrücklich offen. Den Anspruch auf Schmerzensgeld und Schadensersatz ließ der BGH vielmehr an ganz grundsätzlichen Erwägungen scheitern, die bereits zitiert wurden. Hier setzt Dietmar Hipp an: »In ihrer Absolutheit würde diese Aussage aber bedeuten, dass Ärzte künftig nicht mehr finanziell haften müssen, wenn sie in pflichtwidriger Weise Leben erhalten. Dies dürfte sogar gelten, wenn sie lebenserhaltende Maßnahmen fortsetzen, obwohl dem ein klarer, in einer Patientenverfügung geäußerter Wille entgegensteht.«

Selbst der Aspekt, dass der Bundesgerichtshof darüber hinaus auch einen Schadensersatz für unnötig aufgewendete Behandlungs- und Pflegekosten ablehnt, was bei vielen Beobachtern sicher auf Zustimmung stoßen wird angesichts der möglichen finanziellen Interessen von Angehörigen an der Beendigung eines „teuren Lebens“, wird mit Bezug auf die Auffassung des Kläger-Anwalts kritisiert: »Dass ein Schadensersatz für pflichtwidrige Lebenserhaltung ausgeschlossen ist, würde selbst dann gelten, wenn etwa eine Pflegeeinrichtung entgegen des erklärten Patientenwillens diesen am Leben erhält, und damit – auch gegenüber den Angehörigen – weiter Kasse machen kann. Gerade die Pflege von Wachkomapatienten, so Putz, sei relativ lukrativ.« Darauf kommen wir gleich noch zu sprechen.

Dieses Beispiel wird auch in einem anderen Beitrag aufgerufen: Leben ist kein Grund für Schadenersatz, so ist der Artikel von Anette Dowideit überschrieben: »Das Urteil hat hohe Relevanz für die Medizin- und Pflegebranche. Denn es beantwortet, zumindest aus rechtlicher Sicht, eine grundsätzliche Frage: Welches Leben ist es wert, noch gelebt zu werden? Die öffentliche Debatte über diese Frage gewinnt seit ein paar Jahren rasant an Bedeutung, und zwar an ethischer und auch an wirtschaftlicher. Schon jetzt leben in Deutschland Zehntausende Intensivpflegepatienten, die dauerhaft künstlich am Leben gehalten werden und bei denen keine Aussicht mehr auf Besserung besteht.« Sie umreißt eine mittlerweile ganz eigene Branche, die übrigens immer wieder Gegenstand einer kritischen Berichterstattung ist: »Patienten liegen teils über Jahre hinweg, oft ohne Bewusstsein, in Krankenhäusern, in der eigenen Wohnung oder in der steigenden Zahl an Intensivpflege-WGs. Nach Branchenschätzungen werden derzeit allein in diesen WGs schon mehr als 5.000 Menschen bundesweit versorgt.«

Dowideit sieht das mehr als kritisch: »All die Schwerstkranken pflegen zu lassen, kostet das Gesundheitssystem Milliarden. Geld, das nicht nur der steigenden Zahl an ambulanten Intensivpflegediensten zufließt, sondern zum Teil auch Finanzinvestoren, die diese Dienste aufkaufen, und Immobilienfonds, die an den Intensivpflege-WGs mitverdienen.
Kritische Mediziner befürchten angesichts dieser Entwicklung, dass Patienten immer wieder auch aus finanziellen Motiven über Jahre hinweg am Leben gehalten werden. Denn mit den Intensivpflegepatienten, die rund um die Uhr unter Beobachtung stehen müssen, lassen sich pro Patient monatlich um die 25.000 Euro verdienen.«

Auch Jakob Simmang betritt in seinem Artikel Lernen loszulassen dieses verminte Gelände: »Leben zu verlängern, obwohl es medizinisch sinnlos ist, kann niemals ein Schaden sein, hat der BGH entschieden. Zu Recht. Doch das Problem der Überversorgung bleibt.« In einem ersten Schritt zeigt Simmang großes Verständnis für die konkrete Entscheidung des BGH: »Diese Art der Rechtsprechung ist von einer Vorsicht geprägt, die aus historischer Perspektive absolut verständlich – und richtig – ist. Die Nationalsozialisten hatten das Leben von Menschen mit geistigen Behinderungen und kranken Patienten massenhaft als „lebensunwert“ bezeichnet und sie mit Medikamenten oder in Gaskammern umgebracht. Unter Mithilfe von Ärzten – und beschönigend „Euthanasie“ (Griechisch für: „guter Tod“) genannt – wurden so Hunderttausende ermordet. Der Begriff „lebenswertes Leben“ ist seitdem vergiftet und die Debatte um Sterbehilfe (im Englischen übrigens: „Euthanasia“) wird hierzulande anders geführt als etwa in der Schweiz oder den Niederlanden. Es gibt ein größeres Bewusstsein dafür, wie stark Urteile über den Wert eines Lebens von politischen Erwägungen und gesellschaftlichen Strömungen abhängen können und dass darin eine große Gefahr steckt.«

Dann kommt das „Aber“: »Und trotzdem lässt sich das Urteil des BGH auch kritisch betrachten. Die Medizin hat erstaunliche Fortschritte gemacht und kann mit Apparaten und Eingriffen das Leben oftmals um Jahre verlängern.« Und das wird offensichtlich als Problem gesehen, denn: »In dieser Versorgung von Schwer- und Todkranken, von Menschen mit Demenz und Krebs, läuft inzwischen etwas schief. Von Beatmungen über Chemotherapien, Bestrahlung und künstliche Ernährung bis hin zur Wasserzufuhr: Viel zu oft wird am Lebensende viel zu viel getan. „Die sogenannte Übertherapie am Lebensende, die mit Blick auf das Patientenwohl meist de facto eher eine Untertherapie darstellt, [wird] in den nächsten Jahren zu einer der zentralen medizinethischen Herausforderungen“, schreibt der Medizinethiker Ralf Jox von der LMU München.« Und dann formuliert Simmang eine Erwartung an den BGH, bei der man sich aber fragt, wie das Gericht das nun leisten soll: »Was man in dem Urteil vermisst, ist ein klares Signal an Ärztinnen und Angehörige: Lernt, loszulassen, wenn ein Kranker nicht mehr leben will!«

Martin Wortmann spricht von einer Ethik-Sternstunde mit Haken: »Eine Trennung zwischen wertem und unwertem Leben verbietet sich. Leben kann unter keinen Umständen ein Schaden sein; daher kann es auch niemals Schadenersatz geben. Die BGH-Rechtsprechung zur Patientenverfügung und nun dieser unmissverständliche Gegenpol – das kann als ethische Sternstunde der deutschen Justiz gelten.« Wortmann weist allerdings auch darauf hin, dass es gerade der BGH war, der mit seinen anderen Entscheidungen der Patientenverfügung zum Durchbruch verholfen hat. Wenn deren Aussage klar ist, darf niemand daran rütteln – Angehörige und Betreuer nicht, Ärzte und Pflegekräfte nicht. An dieser Stelle hat die „ethische Sternstunde der deutschen Justiz“ nun einen gewaltigen Haken, so Wortmann mit Blick auf die neue Entscheidung des BGH: »Die Argumentation gilt auch für Patienten, die eine Patientenverfügung haben. Wer sich darüber hinwegsetzt, muss nach dem BGH-Urteil ebenfalls keinen Schadenersatz zahlen. Das ist folgerichtig, doch so wird die Patientenverfügung eher geschwächt.«

Wolfgang van den Bergh hat das Dilemma in seinem Kommentar in der „Ärzte Zeitung“ unter der passenden Überschrift Es bleibt eine Gratwanderung so formuliert: »Kein Gericht der Welt wird jemals exakt feststellen können, wann eine lebenserhaltende Maßnahme abgebrochen werden muss oder nicht. Diese Entscheidung wird Ärzten niemals abgenommen werden können. Und daher wird selbst die zu Lebzeiten geäußerte Willensbekundung immer wieder im konkreten Fall geprüft, auch wenn die Konsequenzen für Ärzte oft schwer zu ertragen sind.
Umso schwerer wiegt die Entscheidung, liegt keine Willensbekundung vor. Wie ist der mutmaßliche Wille des Patienten einzuschätzen? Wo und wann weicht eine Behandlung vom medizinischen Standard ab? Gibt es konkrete Hinweise darauf, dass dieser Mensch in der finalen Phase seines Lebens unendlich leidet? Und was sagen die Angehörigen?«

Fragezeichen über Fragezeichen. Und die sind mit dem neuen Urteil des BGH keineswegs beseitigt.