»Deutsche Haushalte beschäftigen hunderttausende Pflegekräfte illegal. Viele Altenheime suchen verzweifelt nach Personal. Experten warnen: In der Pflege droht der Kollaps«, so konnte man es in diesen Tagen in der FAZ lesen und damit die Schreckensbotschaft auch wirklich hängen bleibt, wurde der Artikel so überschrieben: In der Pflege droht der Kollaps. »Nur etwa zehn Prozent der schätzungsweise rund 600.000 ausländischen Betreuungskräfte, die in deutschen Haushalten leben, haben nach Schätzungen der Verbände für häusliche Pflege einen Vertrag und führen Sozialversicherungsbeiträge ab. Der Rest arbeitet schwarz.« Die Bedeutung ausländischer Betreuungskräfte in der häuslichen Pflege wird nach Ansicht des Bundesverbandes häusliche Seniorenbetreuung (BHSB) von der Politik totgeschwiegen. Die Politik setzt nach Ansicht des Pflegeexperten und Rechtswissenschaftlers Thomas Klie aus Kostengründen in nicht verantwortlicher Weise auf diese Arbeitsverhältnisse. „Das ist eigentlich immer jenseits dessen, was rechtlich erlaubt ist. Und trotzdem kümmert sich die deutsche Politik weder auf Landes- noch auf Bundesebene in einer irgendwie ernsthaft zu nennenden Weise darum“, so wird er zitiert.
Skandal, mag der eine denken. Ein ganz alter und immer wieder mal hervorgeholter Hut, werden andere antworten. Auch hier wurde immer wieder über eine der ganz großen „Lebenslügen“ der Pflegepolitik in Deutschland berichtet. Der Terminus „Lebenslüge“ wurde von dem Dramatiker Henrik Ibsen Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt. Er prangerte damit scheinheilige Verlogenheit, Doppelmoral und krampfhaftes Festhalten am schönen Schein an, was in seiner Sicht typisch war für das Bürgertum seiner Zeit. In der Pflegepolitik ist hier die Tatsache gemeint, dass immer wieder Namen wie Olga, Svetlana oder Anna als letzte Rettung in Situationen der höchsten Not genannt werden, wenn es um die Versorgung und Betreuung eines pflegebedürftigen Menschen zu Hause geht, zugleich aber die meisten Familien, die eine Olga, Svetlana oder Anna beschäftigen, permanent „mit einem Bein im Knast stehen“, weil sie teilweise gegen mehrere Vorschriften gleichzeitig verstoßen – und verstoßen müssen, auch wenn sie es gar nicht wollen. Denn es gibt im Grunde keine wirkliche legale, also nicht gegen deutsche Arbeits- und Sozialgesetze verstoßende Ausgestaltung einer irreführend oftmals als „24-Stunden-Pflege“ apostrophierten Betreuungsarrangements.
Aber wieder zurück in die aktuelle Berichterstattung, wie beispielsweise den bereits zitierten Artikel In der Pflege droht der Kollaps. „Es ist allen bekannt – die häusliche Versorgung wäre ohne diese Betreuung nicht zu bewerkstelligen“, so wird dort Michael Isfort, der am Deutschen Institut für Pflegeforschung (DIP) forscht, zitiert. „Es ist ein großer Bereich geworden, der wesentlich zur Versorgung beiträgt.“ Das Thema müsse enttabuisiert werden.
Und der Geschäftsführer des Verbandes für Häusliche Betreuung und Pflege (VHBP), Frederic Seebohm, fordert ein Ende moralisierender Kritik. Gäbe es keine ausländischen Betreuungskräfte, „dann bräuchte es auf einen Schlag 250.000 bis 300.000 zusätzliche stationäre Pflegeplätze“, sagt er. Diese Arbeitsverhältnisse seien sozusagen alternativlos. „Umso erstaunlicher, dass die Politik den Kopf in den Sand steckt, 90 Prozent Schwarzarbeit duldet und keine Rechtssicherheit herstellen will.“
Und in dem Artikel Schwarzarbeit trägt häusliche Pflege mit werden Zahlen genannt: Eine von einer Agentur vermittelte Kraft kostet im Monat zwischen 1800 und 2000 Euro, so die Angaben des VHBP. »Das entspreche in etwa dem Niveau des Eigenanteils für einen Platz in einem Pflegeheim. Hinzu kommen den Angaben zufolge allerdings noch Kost und Logis für die im Haushalt lebenden Beschäftigten und die Lebenshaltungskosten des zu Betreuenden.« Und zur Herkunft der Betreuungskräfte aus Osteuropa erfahren wir: »Ursprünglich kamen die meisten Betreuungspersonen aus Polen, zu 90 Prozent sind dies Frauen, berichtet VHBP. Inzwischen aber rücke Südosteuropa, insbesondere Rumänien, in den Vordergrund, so der Verband.«
Und auch hier wird der Pflegewissenschaftler Michael Isfort vom Institut für angewandte Pflegeforschung (DIP) zitiert: „Wäre häusliche Versorgung zu bewerkstelligen, wenn diese Arbeitsverhältnisse wegfielen? Nein!“, so Isfort. Es gehe bei dem, was die Politik endlich zu leisten habe, »nicht nur um den Schutz von Betreuungspersonen vor Ausbeutung, sondern auch um den der ihnen anvertrauten alten Menschen. Nötig sei eine Debatte, die zwischen den beteiligten Ministerien stattfinden müsse. „Da müssen Ausnahmetatbestände definiert und Sozialrechte angefasst werden – es ist ein Riesenaufwand“, sagte er. „Aber es muss passieren.“«
Das nun wird den einen oder anderen daran erinnern – alles schon mal vorgetragen, angemahnt und gefordert. Im SPIEGEL Heft 48/2010 kann man diesen Beitrag finden: Pflegen in der Grauzone – mit einer Aussage, die auch derzeit wieder eins zu eins abgedruckt werden kann: »Tausende Deutsche lassen ihre alten Eltern von Osteuropäerinnen betreuen. In vielen Fällen tun sie das notgedrungen illegal. Die Regierung ignoriert das Problem.«
»Auf Hilfe von Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) können die Betroffenen nicht hoffen. Dieser redet derzeit zwar ständig über Probleme in der Pflegebranche und plant eine Reform für 2011. Die Frage, wie die Arbeitssituation von Pflegekräften wie Marija verbessert werden kann, steht allerdings nicht auf der Agenda der Beratungen, die Anfang Dezember beginnen sollen. Zuständig sei hier das Arbeitsministerium, heißt es im Gesundheitsministerium (BMG). Aber auch Ministerin Ursula von der Leyen interessiert sich nicht für das Problem.
Das ärgert nicht nur die Walters, sondern auch die Sozialverbände und die Wissenschaft. Der Druck auf die Regierung wächst. „Die Politik kann nicht einfach ignorieren, dass immer mehr Menschen gezwungen sind, sich in einer rechtlichen Grauzone zu bewegen“, sagt Heike von Lützau-Hohlbein, Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Auch der Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell fordert, „dass sich die Politik mit der Realität in Deutschland auseinandersetzt“.«
Dann wird von Vorschlägen berichtet, die 2010 in dieser Veröffentlichung zur Diskussion gestellt wurden:
➔ Stefan Sell (2010): Abschied von einer „Lebenslüge“ der deutschen Pflegepolitik. Plädoyer für eine „personenbezogene Sonderregelung“ und für eine aktive Gestaltung der Beschäftigung von ausländischen Betreuungs- und Pflegekräften in Privathaushalten. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 09-2010, Remagen 2010
Eine mehr als heikle Angelegenheit, muss man sich doch im wahrsten Sinne des Wortes die Finger „schmutzig“ machen bei jedem Versuch, in dieser Schattenwelt der formalen Rechtsverstöße, der existenziellen Bedarfe Pflegebedürftiger hier und des die Pendelmigration bestimmenden Wohlstandsgefälles zwischen Ost und West eine Lösung zu finden, die ein Kompromiss darzustellen vermag zwischen dem Bedarf hier und der Lage der betroffenen Betreuungskräfte aus Osteuropa, die ja nicht deshalb nach Deutschland kommen, weil wir so schöne Gegenden haben. Vor diesem wahrhaft unschönen Hintergrund verfiel die Politik in den Modus der Vogel-Strauß-Haltung. Oder der drei Affen: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.
Und immer wieder gab es mal an der einen oder anderen Stelle Vorstöße, das Problem nun endlich offiziell anzugehen und zu bearbeiten, vgl. dazu beispielsweise der Beitrag Abschied von einer Lebenslüge der deutschen Pflegepolitik reloaded? Eine „Mischstrategie der Regulierung und der Förderung“ mit Blick auf die „24-Stunden-Pflege“ vom 30. Juli 2016, in dem nicht nur die Vorschläge aus dem Jahr 2010 berichtet wurde, sondern auch über eine „Mischstrategie der Regulierung und Förderung“ aus dem Oswald von Nell-Breuning-Institut. Aber auch das verpuffte in der Welt der Vogel-Strauß-Verantwortlichen.
Dazu passt dann leider auch der Hinweis am Ende des SPIEGEL-Artikels aus dem Jahr 2010: »Wie es Menschen wie Marija in Deutschland eigentlich geht, das weiß von offizieller Seite bisher niemand.« Das nun lässt sich heute, im Jahr 2019, erneut so aufrufen. Dazu ein Blick in die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage im Bundestag: „Arbeitsbedingungen von im Haushalt lebenden Pflegekräften“, Bundestags-Drucksache 19/6792 vom 02.01.2019. Darin werden am Anfang der Bundesregierung diese fünf hoch relevanten Informationsfragen gestellt:
➞ (1) Wie viele sogenannte Live-in-Pflegekräfte gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung in Deutschland und wie hoch war die Anzahl vor fünf, zehn, 15 und 20 Jahren (bitte wenn möglich nach Bundesländern und nach Ge- schlecht aufschlüsseln)?
➞ (2) Wie viele „24-Stunden-Pflegekräfte“ arbeiten nach Kenntnis der Bundesregierung im Jahr als Selbstständige, und wie viele sind angestellt beschäftigt (bitte Entwicklung seit 1998 beschreiben)?
➞ (3) Wie viele ausländische Pflegekräfte, die in deutschen Haushalten leben und arbeiten, sind nach Kenntnis der Bundesregierung Frauen?
➞ (4) Welche Informationen liegen der Bundesregierung über die Anwerbungskriterien der Vermittlungsagenturen, also bestimmte Voraussetzungen wie Alter, Geschlecht, berufliche Bildung etc., der Pflegekräfte in ihren Herkunftsländern vor?
➞ (5) Wie viele Agenturen zur Anwerbung von im Haushalt lebenden Pflegekräften sind der Bundesregierung in Deutschland bekannt, und wie viele davon haben ihren Firmensitz nicht in Deutschland (bitte Entwicklung seit 1998 beschreiben)?
Das sind natürlich sehr relevante Grund- und Hintergrundinformationen. Und die Antwort der Bundesregierung?
»Die Fragen 1 bis 5 werden gemeinsam beantwortet. Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor.«
Okay. Das muss man dann erst einmal sacken lassen.
Und man muss noch einen Nachschlag liefern, der dann schon an die Grenzen der Sprachlosigkeit führt. Konkret geht es um die Fragen 12 und 13 der Anfrage:
➞ Welche gesetzlichen Initiativen plant die Bundesregierung, um die Situation der im Haushalt lebenden Pflegekräfte zu verbessern?
➞ Ist die Bundesregierung der Meinung, dass die im Haushalt lebenden Pflegekräfte in Deutschland hinreichend vor Misshandlung und Ausbeutung geschützt sind, und wenn ja, welche Regelungen und Verordnungen schützen die im Haushalt lebenden Pflegekräfte vor Gewalt und Ausbeutung?
Und wie lautet die Antwort der Bundesregierung in diesem Fall?
»Spezielle Regelungen für den genannten Personenkreis sind zumindest derzeit nicht vorgesehen, da bestehende Regelungen im Haushalt lebende Pflegekräfte schützen. Allerdings hat die Gleichbehandlungsstelle EU-Arbeitnehmer bei der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration im Austausch mit Beratungsstellen (z. B. Faire Mobilität) und Wohlfahrtsverbänden den Eindruck gewonnen, dass sich die Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte in privaten Haushalten, die im weitesten Sinne der Pflege zugerechnet werden, durch einen hohen Grad an Intransparenz auszeichnen. Eine Klärung des Tätigkeitsprofils der Betreuungs- und Pflegekräfte in privaten Haushalten, eindeutige rechtliche Rahmenbedingungen (etwa zu Bereitschaftszeiten, Arbeitsperioden etc.) und eine Verbesserung der Informationslage sowohl auf Arbeitgeber- als auch auf Arbeitnehmerseite wären wünschenswert.
Heute schon aber werden Haushalt lebende Pflegekräfte durch die Straftatbestände des siebzehnten Abschnitts des Strafgesetzbuches (Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit) vor Gewalt geschützt, insbesondere durch die Straftatbestände der Körperverletzung (§ 223 StGB), gefährlichen Körperverletzung (§ 224 StGB), schweren Körperverletzung (§ 226 StGB) und Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB).«
Also das Strafgesetzbuch schützt die Frauen aus Rumänien, Bulgarien, zunehmend aus der Ukraine und anderen Drittstaaten jenseits der polnischen Grenze. Darauf muss man erst einmal kommen. Diese Antwort manifestiert zugleich aber auch den Abwehrreflex der Verantwortlichen auf der Bundesebene – eben nichts sehen, nichts hören, nichts sagen (müssen).
Erneut werden wir Besucher eines in einer Wiederholungsschleife gefangenen Trauerspiels.