Das Bildungssystem als große Sortiermaschine. Vom Scheitern und den Chancen – an Schulen und Hochschulen, in Ausbildung und Beruf

»Von einer großen Sortiermaschine sprechen manche, wenn es ums Bildungssystem geht. In der Tat hängen Biografien und Karrieren von Zugängen zu Bildung ab. Und über diese Zugänge entscheidet nach wie vor der soziale Hintergrund der Einzelnen. Das … Dezember-Heft der WZB-Mitteilungen analysiert die Verteilung von Chancen – an Schulen, an Universitäten, in Ausbildung und Beruf«, so das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) in einem Hinweis auf die Ausgabe Bildung entscheidet: Von Schu­len, Chancen und Lebensläufen der WZB-Mitteilungen. Herausgekommen ist ein hoch interessanter und vor allem breit angelegter Exkurs in die unterschiedlichen Bereiche dessen, was man angesichts der enormen Heterogenität fast schon euphemistisch als „Bildungssystem“ bezeichnet.

»Es ist weithin belegt, dass Kinder aus benachteiligten Fami­lien weniger Bildungserfolge als Kin­der mit wohlhabenden Eltern erzielen. Aber welche Mechanismen sorgen da­für, dass sich der soziale Status von den Eltern auf die Kinder überträgt? Eine neue Studie mit deutschen Daten zeigt, dass nicht nur wirtschaftliche, soziale und kulturelle Faktoren eine große Rolle spielen, sondern auch psychologische. Erziehungsstile der Eltern und die emotionale Gesundheit von Kindern bilden ein weiteres Ver­bindungsstück zwischen dem sozi­oökonomischen Status der Eltern und den Bildungserfolgen ihrer Kinder«, so Jianghong Li, Till Kaiser und Matthias Pollmann-Schult in ihrem Beitrag Komplizierter als gedacht. Wie sich soziale Ungleichheiten von Eltern auf Kinder übertragen.

Benjamin Edelstein und Wulf Hopf haben ihren Beitrag unter die Überschrift Mehr als bloß Nicht-Diskriminierung. Der lange Weg zur Chancengleichheit in der Bildung gestellt. Angesichts der fast schon inflationären Verwendung des Begriffs der Chancengleichheit in der bildungspolitischen Diskussion hört sich das interessant an. Die beiden Autoren konstatieren eine wichtige Veränderung: »Die bildungspolitischen Bemühungen des Staates haben sich im Lauf der Zeit deutlich intensiviert. Das liegt vor allem daran, dass das gesellschaftliche und politische Verständnis von Bildungschancengleichheit über die Jahrzehnte hin­weg anspruchsvoller wurde und historisch frühere „Versionen“ nicht einfach ersetzt, sondern beibehalten und nach und nach ergänzt wurden. Dabei wurden die Ansatzpunkte des Staates zunehmend „von außen nach innen“ verlagert – von einer Veränderung der rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen des Bildungssystems, über die Veränderung der Schulorganisation bis hin zur Förderung dezidiert pädagogischer Maßnahmen für besonders benachteiligte Schülerinnen und Schüler.« Als einen wichtigen Entwicklungssprung erkennen die beiden Autoren, dass der Staat »gewährleistet, dass alle Kinder und Jugendlichen tatsächlich die Möglichkeit haben, eine höhere Bildungseinrichtung zu besuchen, wenn sie die entsprechenden Leistungsvoraus­setzungen erfüllen. Als ein wichtiges Mittel zu diesem Zweck erkannte der Staat im Laufe des 20. Jahrhunderts die Unentgeltlichkeit der Bildung, die von Sozialdemokratie und fortschrittlichen Lehrervereinigungen bereits im 19. Jahrhundert eingefordert worden war. Lange Zeit war einzig der Besuch der Volksschu­le kostenlos, während für den Besuch von Realschulen und Gymnasien ein Schulgeld zu entrichten war. Zwischen dem Ende der 1940er­ und Anfang der 1960er-Jahre wurde in allen Bundesländern die Schulgeldfreiheit eingeführt. Ziel war es, ökonomische Hindernisse zu beseitigen, die vor allem Kindern aus finanzschwachen Familien den Besuch höherer Schulen und Hochschulen er­ schwerten. Demselben Motiv entspringt der Gedanke der Lernmittelfreiheit, demzufolge auch für Schulbücher, Arbeitshefte und dergleichen keine Kosten anfallen sollen. Diese wird in den Bundesländern bis heute allerdings unter­ schiedlich gehandhabt.« Ein weiterer Hebel zur Erhöhung der Chancengleichheit wird in der Gewährleis­tung einer in etwa gleichen regionalen Versorgung mit Schulen und Hochschu­len gesehen.

Seit den 1960er Jahren wurde dann ein erweitertes Konzept der Chancengleichheit entwickelt. Das korrespondiert mi »der Erkenntnis, dass es nicht nur rechtliche, finanzielle und sozialräumliche Einschränkungen der Chancengleichheit gibt, sondern dass die Ungleichheit der Bildungschancen auch soziokulturelle Ursachen hat, also in den Denkmustern, Verhaltensweisen und Wertvorstellun­gen von Familien unterschiedlicher sozialer Milieus verankert ist. Dazu gehören etwa Ungleichheiten in der Lernmotivation, im Sprachgebrauch, in der Vertraut­heit mit den in der Schule behandelten Inhalten, aber auch in der Bereitschaft, den Eintritt in die Erwerbstätigkeit hinauszuzögern und Zeit und Mühe in eine – stets mit Unsicherheiten behaftete – Bildungskarriere zu investieren.« Vor diesem Hintergrund ging es nun mit den Worten des Soziologen Ralf Dahrendorf um „materiale“ Chancengleichheit – im Gegensatz zur nur rechtlich-­formalen Chancengleichheit. »Darunter verstand er die „Lösung der Menschen aus unge­fragten Bindungen und Befreiung zu freier Entscheidung“. Mit den „ungefragten Bindungen“ meinte er die Abhängigkeit der Menschen von den traditionellen Selbst-­ und Fremdzuschreibungen der sozialen Herkunft, der Geschlechterzuge­hörigkeit, der Religion und Region, die den Bildungsweg und die Lebensplanung des Einzelnen unweigerlich prägen und seiner freien und selbstbestimmten Entfaltung entgegenstehen.«

Eine Kritik an den bestehenden Strukturen des Schulwesens wurde Anfang der 1970er Jahre vom Deutschen Bildungsrat geleistet. »Der Bildungsrat sprach sich 1970 in seinem Strukturplan für das Bildungswesen für ein Schul­system aus, das nicht mehr aus strikt getrennten Schularten bestehen, sondern sich in Richtung aufeinanderfolgender „Schulstufen“ entwickeln sollte. Eine ge­meinsame Orientierungsstufe sollte die Schularten in den unteren beiden Klas­sen verbinden, in den oberen Klassen sollte die Durchlässigkeit zwischen den Bildungsgängen gestärkt werden. Zugleich sollten Schulversuche mit Gesamt­schulen mögliche Vorzüge anderer Modelle der Schulorganisation ausloten und berufliche und allgemeine Bildung stärker integriert werden. Diese Vorschläge stießen vor allem bei Wirtschaftsverbänden, beim Philologenverband und Bun­deselternrat auf große Vorbehalte und scheiterten schließlich am Widerstand der CDU­regierten Länder. Sie wurden nur in einigen SPD­Ländern und auch dort nur in Teilen umgesetzt.«

In dieser Zeit wurden viele Grundlagen gelegt, die man auch und gerade für die heutigen Debatten kennen sollte: »Ein anderer für die Chancengleichheit bedeutsamer Reformvorschlag setzte sich dagegen in den Folgejahrzehnten in allen Bundesländern immer stärker durch: der Ausbau der Vorschulerziehung in Kindertagesstätten und Krippen. Damit weiteten staatliche und private Institutionen ihren Einfluss auf die Moti­vations-­, Sprach-­ und Sozialentwicklung von Kindern aus – Erziehungsbereiche, die nach den damals in Westdeutschland vorherrschenden Vorstellungen der Familie vorbehalten sein sollten (anders in der DDR). Es entstand das Konzept einer „kompensatorischen Erziehung“ im Vor­ und Grundschulalter. Sie sollte Defizite sozial benachteiligter Kinder vor Schulbeginn ausgleichen.«

Interessant in diesem Zusammenhang der Hinweis auf eine damalige Kritiklinie an diesem Ansatz, die heute wieder eine wenn auch anders gelagerte Relevanz bekommt: »Vertreter der 68er­Bewegung kritisierten an diesem Konzept, dass es im Namen von „Chancengleichheit“ eine Anpassung von Kindern aus unteren Schichten an die Normen und die Kultur der Mittelschicht erzwinge, anstatt die Schule darauf zu verpflichten, die Pluralität unterschiedlicher Schichten und Milieus anzuerken­nen. Diese Debatte versiegte in den 1970er-Jahren, das Problem nicht. Unter den heute geänderten Bedingungen einer kulturell pluralisierten Gesellschaft taucht der Konflikt zwischen der Anpassung an die schulischen Leistungsnormen und der Anerkennung von gleichwertigen Differenzen in der Diskussion um Hetero­genität und eine Pädagogik der Vielfalt erneut auf.«

Und heute? »Heute folgt der Staat zunehmend einem Verständnis von Chancengleichheit, das über formal gleiche Zugangsrechte und Angebotsstrukturen hinausgeht … Die Schulkultur, der Unterricht und die Erziehung, kurzum: das gesamte „Innenleben“ der Schule, soll so gestaltet werden, dass es die ungleichen Lebensverhältnisse der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt und soweit möglich kompensiert.« Das ist für den Staat weitaus schwieriger (bis unmöglich), als am Schulrecht oder der formalen Schulorganisation herumzuwerkeln. Das hat Folgen für neue Steuerungsversuche: »So wird in jüngerer Zeit mehr und mehr vom herkömmlichen Grundsatz der Finanzierung abgewichen, alle Schulen nach dem Gießkannen­ prinzip mit gleichen Ressourcen auszustatten, also etwa die Zahl der Lehrerstellen und die Höhe des Schulbudgets einfach nach den Schülerzahlen zu bemessen. Stattdessen werden zum Beispiel auf Sozialindikatoren gestützte Verfahren der Personal-­ und Mittelzuweisung entwickelt, die den besonderen Schwierigkeiten von Schulen in sozial belasteten Stadtteilen Rechnung tragen. In einer Formel gesagt: Ungleiches wird ungleich behandelt.«

Bleiben wir im Schuluniversum und werfen mit Marcel Helbig einen Blick auf die Grundschulen – die konnte man tatsächlich mal als die einzigen echten Gesamtschulen in diesem Land bezeichnen. Aber Helbig hat seinen Beitrag unter diese eher ernüchternde Aussage gestellt: (K)eine Schule für alle. Die Ungleichheit an deutschen Grundschulen nimmt zu. Er diagnostiziert, dass »es mittlerweile – durch die Fokussierung auf die Rolle des Gymnasiums in der öffentlichen Diskussion weitgehend unbemerkt – auch Hinweise auf horizontale Ungleichheiten, also solche innerhalb des Grundschulsystems (gibt). Die Schulgemeinschaften werden sozial homogener.« Symptome einer waagerechten Segregation sind zwar nicht flächendeckend zu beobachten, treten aber bei genauerer Analyse deutlich hervor. » Interessanterweise treten diese Symptome zunehmender horizontaler Segregation verstärkt in einer Zeit auf, während der auch die Einkommens­ und Vermögensungleichheiten in der deutschen Gesellschaft deutlich zugenommen haben«, so Helbig und er illustriert das an drei Beispielen.
➞  Beispiel Nordrhein­Westfalen: Seit Gründung der Bundesrepublik gibt es im dortigen Grundschulbereich (in kleinerem Ausmaß auch in Niedersachsen) ein Parallelsystem von öffentlichen Gemeinschaftsschulen und öffentlichen Bekenntnisschulen. Laut Helbig sei das deshalb problematisch, weil »immer mehr Eltern – trotz einer zunehmenden Säkularisierung der Gesellschaft – Bekenntnisschulen (nutzen), um ihre Kinder von Schülerinnen und Schülern mit anderen ethnischen oder weltanschaulichen Wurzeln abzugrenzen, auch weil es keine festen Einzugsgebiete für diese Schulform gibt (seit dem Schuljahr 2008/09 bestehen insgesamt keine Grundschuleinzugsgebiete mehr in NRW). Dies ist besonders problematisch, da in NRW die soziale Spaltung der Gesellschaft entlang ethnischer und religiöser Grenzen verläuft.«
➞  Die Privatisierung von Grundschulen ist das zweite Anzeichen, das auf eine zunehmende horizontale Ungleichheit im deutschen Schulsystem deutet. Die Anzahl privater Grundschulen ist erheblich angestiegen, von 1992 bis 2016 um 345 Prozent. »Der starke Privatisierungsanstieg ist einerseits auf Nachholeffekte in den ostdeutschen Regionen zurückzuführen; andererseits kam es aber auch zu einem hohen Zuwachs privater Grundschulen im städtischen Raum.« Helbig spricht davon, dass sich ein Parallelsystem von öffentlichen und privaten Grundschulen herausgebildet habe, wenn auch nicht flächendeckend. Für den einen oder anderen ist es sicher eher eine Überraschung, wenn man erfährt, dass »Studien des WZB belegen, dass private und öffentliche Grundschulen besonders in Großstädten sozial gespalten sind. Weitere Studien zeigen, dass die soziale Zusammensetzung der Schulgemeinschaft an privaten Grundschulen heute vergleichbar mit jener der öffentlichen Gymnasien ist.«
➞  Das wichtigste und folgenschwerste Merkmal horizontaler Ungleichheit im Grundschulbereich ergibt sich allerdings aus der Segregation durch das Wohnumfeld. Diese hat in den letzten Jahrzehnten in einigen deutschen Städten stark zugenommen und ist besonders deutlich bei Familien mit Kindern ausgeprägt. »In 36 von 74 der größten deutschen Städte gibt es mittlerweile Viertel, in denen mehr als die Hälfte aller Kinder in Familien aufwachsen, die von sogenannten Hartz ­IV-­Leistungen leben. Auf der anderen Seite gibt es Wohngebiete, in denen kaum noch arme Kinder leben.«

Helbigs Fazit: »Die zunehmende soziale Spaltung der deutschen Gesellschaft insgesamt schlägt sich also über den Wohnungsmarkt und den Rückzug des Staates aus der Wohnraumversorgung mittlerweile direkt in den Grundschulen nieder. Je homogener Grundschulen in ihrer Sozialstruktur werden (ob nun durch Wohnsegregation, Privatisierung oder Bekenntnisschulen), desto wichtiger wird die soziale und ethnische Zusammensetzung für die Schulwahl von Eltern. Ab einem gewissen Niveau könnte ein „Point of no return“ erreicht sein und ein Gegensteuern unmöglich werden.«

In den WZB-Mitteilungen finden sich weitere schulrelevante Beiträge, so Pia König und Michael Wrase zum Thema Privatschulregulierung. Berlin steht vor weitreichenden Änderungen oder Dorothea Kübler über Faire Wege zur Wunschschule. Wie die Berliner Lotterie verbessert werden kann.

Ein ganz bestimmte Schulform darf in einem solchen Themenheft nicht fehlen vor dem Hintergrund einer der ganz großen bildungspolitischen Debatten: die „Förderschulen“ in Zeiten der „Inklusion“. Anne Piezunka hat sich such die Suche gemacht und herausgekommen ist dieser Beitrag: Gesucht: Definition für Inklusion. In Praxis und Forschung herrscht keine Einigkeit. Es gibt weder in der Praxis noch in der Forschung ein einheitliches Verständnis, was unter Inklusion im schulischen Kontext verstanden wird. Mithilfe von qualitativen Experteninterviews wurden vier Verständnisse von Inklusion identifiziert. Die einzelnen Verständnisse unterscheiden sich in Bezug auf die Ziele von Inklusion, die Zielgruppe und den Grad der Realisierbarkeit.

Und die „Förderschule“ ist Gegenstand dieses Beitrags von Jonna M. Blanck: Ziel verfehlt. Die Förderschule „Lernen“ trägt nicht zur beruflichen Integration von Jugendlichen mit Behinderung bei. Die Autorin umreißt das bisherige Forschungsdefizit: »Bisherige Studien deuteten bereits darauf hin, dass Absolventinnen und Absolventen von Förderschulen nur sehr geringe Chancen auf eine Ausbildung haben und Förderschulen den Übergang von der Schule in die Ausbildung sogar erschweren. Allerdings war die Aussagekraft dieser Studien begrenzt, da sie überwiegend auf sehr kleinen, selektiven und regionalen Stichproben basierten. Zum anderen hatten sie nur eine begrenzte Erklärungskraft, da in ihnen lediglich die Übergänge von Förderschülerinnen und -schülern sowie Jugendlichen anderer Schulformen beschrieben und darauf aufbauend verglichen wurden. Dabei konnte nicht berücksichtigt werden, dass Förderschülerinnen und -schüler möglicherweise auch aufgrund ihrer Fähigkeiten oder ihres familiären Hintergrunds schlechtere Chancen haben, einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Es blieb also unklar, ob die geringen Ausbildungschancen von Förderschülerinnen und Förderschülern tatsächlich auf den Besuch der gesonderten Einrichtung selbst zurückzuführen sind oder ob sie schlichtweg an der Zusammensetzung der Gruppe liegen. Im Vergleich etwa zu Hauptschulen bestehen hier tatsächlich deutliche Unterschiede, denn Kinder und Jugendliche in Förderschulen kommen häufiger aus benachteiligten Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status.«

Eine neue Datenquelle ermöglicht es, so Blanck, hier neue Wege zu beschreiten: »Mit den Daten des Nationalen Bildungspanels ist es nun erstmals möglich, den Zusammenhang des Förderschulbesuchs mit den Ausbildungschancen anhand einer deutschlandweiten repräsentativen Stichprobe von Förderschülerinnen und -schülern mit „Lernbehinderung“ statistisch zu untersuchen. Dabei zeigt sich, dass es tatsächlich nur einem geringen Anteil von 17 Prozent der Förderschülerinnen und ­schüler gelingt, im Anschluss an die Schule direkt einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Bei den auch als benachteiligt geltenden Hauptschülerinnen und -schülern sind es immerhin fast die Hälfte.« Nun greift an dieser Stelle der von ihr selbst vorgetragene Einwand, dass hier sehr wahrscheinlich unterschiedliche Personen verglichen werden. Aber auch da werden Fortschritte berichtet: »Ein sogenanntes statistisches Matching bezieht dabei nur jene Schülerinnen und Schüler von Förderschulen und Hauptschulen in die Analyse ein, die vergleichbare Charakteristika, beispielsweise bei der Familiensituation, aufweisen.« Vor diesem Hintergrund macht dann die folgende Fragestellung Sinn: „Wie hoch wären die Chancen eines Schülers oder einer Schülerin gewesen, wenn er oder sie statt der Förderschule eine Hauptschule besucht hätte?“, um den Effekt des Förderschulbesuchs auf die Ausbildungschancen zu ermitteln. »Die Ergebnisse legen gravierende Unterschiede offen: Die Chancen der Förderschülerinnen und ­-schüler, einen Ausbildungsplatz zu erhalten, wären im Durchschnitt um 28,4 Prozentpunkte höher, wenn sie statt einer Förderschule eine Hauptschule besucht hätten. Dabei handelt es sich um eine konservative Schätzung: In die Analysen wurden vor allem solche Förderschülerinnen und Förderschüler einbezogen, die hinsichtlich ihres familiären Hintergrunds sowie ihrer Fähigkeiten vergleichsweise gute Ausgangsbedingungen für eine erfolgreiche Ausbildungsplatzsuche haben. Weiterführende Berechnungen legen nahe, dass der negative Effekt des Förderschulbesuchs für Jugendliche mit schlechteren Startchancen noch stärker ausfällt.«

Vor diesem Hintergrund überrascht das eindeutig daherkommende Urteil der Autorin nicht: »Die Entscheidung vieler Bundesländer, Förderschulen zu erhalten, muss im Lichte der neuen Forschungsergebnisse aber auch insofern scharf kritisiert werden, als dass die Förderschulen ihren eigenen Zielen nicht gerecht werden: Sie können ihr Versprechen, die Benachteiligung ihrer Schülerinnen und Schüler auszugleichen und zu einer gelingenden beruflichen Integration beizutragen, nicht nur nicht einlösen – sie verstärken die ohnehin bestehende Benachteiligung sogar noch.« Allerdings sichert sie sich ab gegen berechtigte Zweifel, die man an dieser Stelle vortragen könnte: »Dennoch: Der schlichte Ausbau der Regelbeschulung von Jugendlichen mit (Lern-) Behinderung zum Beispiel an Hauptschulen kann nicht als Lösung oder gar Inklusion betrachtet werden. Es gilt, wie bereits vom UN-­Fachausschuss für die Rechte von Menschen für Behinderung vorgeschlagen, begleitende strukturelle Maßnahmen zu entwickeln, damit die Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung an Regelschulen gelingt.« So einfach ist es dann eben doch nicht.

Auch die duale Berufsausbildung fehlt in dem hier vorgestellten Heft der WZB-Mitteilungen nicht: Mehr Beschäftigte, weniger Auszubildende. Warum die duale Berufsausbildung in Deutschland schwächelt, so ist der Beitrag von Robert Scholz überschrieben: »Obwohl die Beschäftigung in Deutschland stabil ist und konzernbezogen sogar ansteigt, ist die Zahl der dual Auszubildenden in den größten börsennotierten Unternehmen rückläufig. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Es gibt Branchenunterschiede, eine verstärkte Verschiebung in Richtung des dualen Studiums und es kommt zur Internationalisierung der Ausbildungsaktivitäten. Unter dem Strich ist der Rückgang bei der Zahl der Auszubildenden in Betrieben größer als die Zunahme der Ausbildung im Hörsaal und im Ausland.« Keine frohe Botschaft für dieses angebliche Pfund des deutschen Ausbildungswesens.

»Dass die Unternehmen schlichtweg keine Auszubildenden finden – ein häufiges Argument zum vielfach zitierten Fachkräftemangel –, kann angesichts des hier gezeigten starken Rückgangs in der dualen Berufsausbildung nicht die zentrale Ursache sein. Gegen das Argument spricht auch, dass diese börsennotierten Unternehmen über eine gute Reputation verfügen, im Vergleich zum Klein­ und Mittelstand oftmals tarifliche Bindungen, Übernahmeoptionen und Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Hinzu kommt das Paradox, dass sich in diesen Firmen die Beschäftigung in Deutschland insgesamt sehr stabil entwickelt und im Ausland sogar ansteigt. Die Ursachen für den starken Rückgang sind daher vielfältig. Einerseits gibt es eine anhaltende Verschiebung in Richtung des dualen Studiums. Die dual Studierenden machen derzeit etwa ein Fünftel aller Auszubildenden aus, ihr Anteil nimmt aber zu. So wie es für die Beschäftigten insgesamt schon seit Jahrzehnten zu beobachten ist, gibt es nun auch hier eine verstärkte Tendenz „von der Werkstatt ins Büro“. Allerdings kompensieren die zunehmenden Studierenden nicht den Wegfall der Auszubildenden. Zentral sind außerdem Branchenunterschiede. Da sich etwa im Bankensektor das Internet­Banking immer weiter etabliert, sinkt massiv der Bedarf an Bankkaufleuten, die im Kundengeschäft tätig sind. Ein anderes Beispiel ist der Rückgang der Ausbildung im Energiesektor, wo die Energiewende und die Dezentralisierung der Strukturen den Bedarf an Nachwuchs in den Großkonzernen schrumpfen lässt. Die nur moderat steigenden Zahlen etwa im Gesundheitssektor kompensieren die Rückgänge in den anderen Branchen nicht. Schließlich werden speziell in der Industrie die Ausbildungsaktivitäten internationalisiert. Ein teils erheblicher Teil der beruflichen Bildung findet inzwischen an den ausländischen Standorten statt.«

Gibt es auch „positive“ Botschaften? Ja, aus einem Bereich, aus dem viele das wahrscheinlich nicht primär erwartet hätten – dem vielfältig kritisierten sogenannten „Übergangssystem“, oft als „Maßnahmen-Dschungel“ im Nirwana zwischen Schule und Berufsausbildung bezeichnet. Dazu der Beitrag Besser als ihr Ruf. Übergangsmaßnahmen erhöhen Ausbildungschancen bei leistungsschwachen Jugendliche von Martin Ehlert, Anne Christine Holtmann, Laura Menze und Heike Solga. Ihre Kurzfassung geht so: »Etwa die Hälfte der Jugendlichen ohne Mittleren Schulabschluss beginnt nach der Schule eine Maßnahme des Übergangssystems zwischen Schule und Berufsausbildung. Wir gehen der Frage nach, ob diese Maßnahmen die Ausbildungschancen der teilnehmenden Jugendlichen verbessern oder eher eine Warteschleife darstellen. Anhand von Längsschnittdaten des NEPS lässt sich zeigen, dass die Maßnahmen die Ausbildungschancen verbessern – besonders für Jugendliche mit besonders schlechten Ausbildungschancen direkt nach der Schule. Der Effekt ist stärker, wenn die Jugendlichen einen Schulabschluss nachholen oder viel Zeit im Betrieb verbringen.« Die Studienergebnisse deuten auf eine Polarisierung hin, denn: »Trotz dieser größtenteils positiven Befunde müssen wir allerdings auch festhalten, dass die Teilnahme an einer Maßnahme des Übergangssystems für die Hälfte der Jugendlichen nicht zum gewünschten Erfolg führt. Für etwa jeden zweiten gering qualifizierten teilnehmenden Jugendlichen führt der Weg auch nach der Maßnahme nicht in eine Ausbildung, sondern in eine weitere Maßnahme des Übergangsbereichs oder in die Arbeitslosigkeit beziehungsweise gering qualifizierte Erwerbstätigkeit.«

Weitere Artikel zu den Themenfeldern Hochschulen und Weiterbildung runden das Heft der WZB-Mitteilungen ab. Die Ausführungen mögen gezeigt haben, dass es sich lohnt, einen vertiefenden Blick in diese Ausgabe zu werfen. Natürlich wird hier keine wissenschaftliche Auseinandersetzung in dem Sinne geleistet, dass die Standpunkte der Autoren kontrastiert werden mit anderen Positionen und Forschungsbefunden, beispielsweise bei der Privatschulfrage. Aber eine gelungen Sammlung an Beiträgen von Wissenschaftlern des WZB ist das auf alle Fälle.