Pflege-Comeback als Hoffnungsträger im Pflegenotstandsland? Über ein wichtiges Thema und 48 Prozent aus 21 tiefenbefragten Menschen + 50 Sonstige

Eines hat die Debatte über den Pflegenotstand bewirkt – es ist überall angekommen, dass uns vorne und hinten Pflegekräfte fehlen, in allen Bereichen des Pflegesystems. Zugleich wird der Mangel zunehmen müssen, denn der Bedarf an Pflegekräften ist ein dynamisches Ziel, man denke nur an die parallel steigende Nachfrage nach pflegerischen Leistungen aufgrund der demografischen Entwicklung. Und es wird immer deutlicher, dass es in Deutschland nicht nur zu wenig Pflegekräfte gibt, auch der „Nachschub“ kann bei weitem nicht den Bedarf decken. Das führt dann zu solchen, fast schon als Mobilisierungsaufrufe des letzten Aufgebots daherkommende Meldungen: Spahn will Pflegeausbildung im Ausland aufbauen. Vom Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat der Herr Minister neun Mio. Euro bekommen. Die will er im Ausland investieren: »Mit dem Geld könnten Kooperationspartner für Pflegeschulen im Ausland gefunden werden. Die künftigen Fachkräfte sollten in ihrem Heimatland bereits Deutsch lernen … Als mögliche Länder für eine solche Kooperation nannte er den Kosovo, Mazedonien, die Philippinen und Kuba.«

Und der Herr Minister bekommt kirchlichen Beistand: Es brauche eine verstärkte Ausbildung in Nicht-EU-Ländern, um dem Pflegenotstand zu begegnen, so wird der Präsident des evangelischen Wohlfahrtsverbandes Diakonie, Ulrich Lilie, zitiert:  „Es führt kein Weg daran vorbei, selbst zu qualifizieren, in Afrika, Fernost oder in Osteuropa.“ Als Träger von Ausbildungsinitiativen kann sich Lilie neben staatlichen Stellen auch NGOs oder diakonische Einrichtungen vorstellen.

Nun könnte man natürlich auf die Idee kommen, im eigenen Land genauer hinzuschauen, wo hier noch Möglichkeiten sind, Pflegekräfte zu mobilisieren – und angesichts der zahlreichen Berichte über einen Ausstieg von Pflegekräften aus ihrem Beruf, bei Twitter mit dem eigenen Hashtag #pflexit versehen, liegt der Gedanke nahe, dass die Rückkehr dieser bereits ausgebildeten Kräfte eine bedeutsame Quelle beim Kampf gegen den Personalmangel wäre bzw. sein könnte. 

Und mit Blick auf diese große Gruppe soll uns diese hoffnungsvoll stimmende frohe Botschaft erreichen: Pflege-Comeback: Jede zweite ausgestiegene Pflegekraft bereit zur Rückkehr, so die Überschrift in der Online-Ausgabe der Ärzte Zeitung. Das offenbaren aktuelle Ergebnisse der „#PflegeComeback-Studie“, über die in dem Artikel berichtet wird. Und deren Präsentation wurde mit gewichtiger Unterstützung aus Berlin zelebriert:

Andreas Joehle, CEO der HARTMANN GRUPPE (links), Radostina Filipowa, ehemalige Pflegekraft (Mitte) und Andreas Westerfellhaus, Staatssekretär und Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung (rechts) freuen sich über 48 % Rückkehrerpotenzial unter ehemaligen Pflegekräften. Foto: obs/HARTMANN

Die zentrale Botschaft der #PflegeComeback“-Studie, die dann auch von vielen Medien aufgegriffen wurde (bis hin zu Aufmacher-Artikeln in Tageszeitungen), geht so: »48 Prozent der ausgebildeten Pflegekräfte, die ihrem Beruf in den vergangenen Jahren den Rücken gekehrt haben, können sich einen Wiedereinstieg in die Pflege vorstellen. Geschätzt liegt die Zahl potenzieller Rückkehrer damit bei 120.000 bis 200.000 Personen.«

➔ Der eine oder andere wird sich fragen, wie die denn auf die beindruckende Zahl von 120.000 bis 200.000 potenziellen Rückkehrern kommen. Dem, was veröffentlich wurde, kann man hierzu die folgende Kalkulation entnehmen: „In den vergangenen 25 Jahren wurden in Deutschland rund 625.000 Pflegekräfte ausgebildet.“ Man bezieht sich dabei auf dieses Zahlenwerk: Absolventen mit bestandener Abschlussprüfung von Schulen des Gesundheitswesens. Dann braucht man noch „die“ Zahl der Aussteiger und bezieht sich dabei explizit und nur auf diese Veröffentlichung: Anja Hall (2012): Kranken- und Altenpflege – was ist dran am Mythos vom Ausstiegs- und Sackgassenberuf? Aus diesen Quellen wird dann offensichtlich die hochgerechnete Zahl abgeleitet. Nun weiß jeder, der sich mit dem Thema Verweildauer in den Pflegeberufen näher beschäftigt hat, dass das nicht mehr als eine Pi-mal-Daumen-Schätzung ist, denn es ist eben gerade nicht so, dass wir genau wissen, wie sich das Ausstiegsgeschehen darstellt. Vgl. dazu nur als ein Beispiel die Erörterung in diesem Beitrag vom 17. Februar 2018: Die Altenpflegekräfte bleiben viel länger im Beruf als bislang immer behauptet. Aber Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der statistischen Porzellankiste.

Und die „Studie“ präsentiert uns interessante Zahlen, beispielsweise was notwendig wäre, damit die flüchtigen Pflegekräfte wieder zurück kommen:

➞  42 Prozent der ehemaligen Pflegekräfte erwarten andere Strukturen und Arbeitsbedingungen
➞  36 Prozent fordern mehr Personal
➞  30 Prozent fordern eine bessere Bezahlung

Das klingt alles mehr als plausibel, wenn man die real existierenden Bedingungen in der Pflege kennt.

Und weiter berichtet die Ärzte Zeitung von solchen Befunden: »Die Aussteiger sind in ihren neuen Berufen meist nicht glücklicher als zuvor. So lag der Auswertung zufolge der Anteil der absolut Zufriedenen beim Einstieg in den Pflegeberuf bei 63 Prozent. In der Position nach dem Ausstieg waren es demnach nur noch 44 Prozent der Befragten. Um den Wiedereinstieg zu erleichtern, sahen die Befragten vor allem Schulungen und Training als wichtiges Mittel an (71 Prozent). Auch Schnuppertage (67 Prozent) können die Rückkehr erleichtern.«

Um es an dieser Stelle abzukürzen. Das alles wären interessante Punkte, wenn sie denn irgendeine empirische Relevanz haben würden. Haben sie aber nicht. Denn das Jonglieren mit den beeindruckend daherkommenden Absolutzahlen an (potenziellen) Rückkehrern, vor allem aber die präsentierten Prozentzahlen basieren auf dieser fulminanten Datenbasis:

Im Auftrag der Hartmann Gruppe hat das „unabhängige Forschungsinstitut“ – es handelt sich um eine Unternehmensberatung – Psyma Health & CARE ehemalige Pflegekräfte befragt. Und dann das hier: »Es gab 21 qualifizierte Tiefeninterviews und 50 quantifizierte Ergebnisse.«

Allein angesichts der Größenordnung muss man schon die Frechheit „bewundern“, in der Auswertung mit Prozentzahlen zu argumentieren und die Befunde dieses kleinen qualitativen Samples auf die hunderttausenden „Aussteiger“ hochzurechnen. Und selbst das haben die „Studien“-Autoren semantisch aufgeblasen: Die Befragung »ist ein valides Stimmungsbild mit robuster Trendaussage, basierend auf den repräsentativen Merkmalen der Grundgesamtheit der Pflegefachkräfte.«

Ah ja, eine „robuste Trendaussage“ der n= 21 + 50 (? die werden nicht weiter erläutert). Man lernt wieder einmal, wie man mit Unternehmensberatungssprech offensichtlich Geld verdienen kann.

Das alles hätte die Journalisten, die groß berichtet haben, auffallen müssen. Natürlich ist das ein großes und wichtiges Thema, über das wir unbedingt differenziert diskutieren und forschen müssen. Aber mit Substanz. Die fehlt leider an vielen Stellen.