Von Apotheken hier, dem Versandhandel mit Arzneimitteln jenseits der Grenze und gar nicht so einfachen Nicht nur-Wettbewerbsfragen

Es gibt fast 20.000 Apotheken in Deutschland. Ihre Umsätze haben sich seit 1995 mehr als verdoppelt auf insgesamt 48 Milliarden Euro. In der Allgemeinheit hört sich das doch ganz beeindruckend an. Aber dennoch sind die deutschen Apotheker beunruhigt – und sie sind enttäuscht vom Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Jedenfalls nach seiner Rede auf dem Deutschen Apothekertag, der vom 10. bis zum 12. Oktober 2018 in München stattgefunden hat.  »Die Apotheker, die sich durch die Rede von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf dem diesjährigen Deutschen Apothekertag eine Klärung des Versandhandelskonfliktes erhofft hatten, wurden maßlos enttäuscht. Gleich zu Beginn stellte Spahn klar: „Ich debattiere gerne, deswegen bringe ich Ihnen heute auch kein fertiges Konzept mit.“ Überhaupt blieb seine Rede an vielen Stellen vage. Einzelne Apotheker zeigten während seiner Rede Protestplakate«, kann man beispielsweise diesem Artikel aus der Deutschen Apotheker-Zeitung entnehmen:  Spahn enttäuscht die Apotheker.

Offensichtlich geht es hier um einen bereits seit Jahren schwelenden Konflikt um den Versandhandel mit Arzneimitteln. Seit 2004 ist in Deutschland der Versandhandel mit rezeptpflichtigen und -freien Medikamenten erlaubt. Im Bereich der Selbstmedikation hat der Versandhandel bereits einen zweistelligen prozentualen Marktanteil erreicht. »Der Versandhandel mit verschreibungsfreien Arzneimitteln, Medizinprodukten Kosmetika und Nahrungsergänzungsmitteln in und nach Deutschland – also einschließlich Lieferungen ausländischer Anbieter wie beispielsweise DocMorris – hat 2017 weiter Boden gut gemacht: Der Anteil der Versender erhöhte sich … im OTC-Teilmarkt … auf 13 Prozent oder 1,7 Milliarden Euro (zu tatsächlichen Verkaufspreisen)«, kann man dieser Meldung aus dem Juni 2018 entnehmen. Und: »Nach wie vor punkten die Versender gegenüber ihren stationären Wettbewerbern mit teils kräftigen OTC-Preisabschlägen. Etliche würden verstärkt in Eigenwerbung investieren. Die Online-Bestellung habe sich als „normaler Einkaufsweg etabliert“.« Bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln liegt der Anteil des Versandhandels deutlich niedriger. Nach Angaben des Bundesverbandes Deutscher Versandapotheken betreiben derzeit rund 150 inländische Apotheken einen nennenswerten Versandhandel. Hinzu kommen ausländische Versender wie zum Beispiel DocMorris. Insgesamt erzielten sie in Deutschland mit Rezept-Medikamenten einen Umsatz von rund 550 Millionen Euro. Das ist ein Marktanteil von etwas mehr als einem Prozent.

Noch. Denn seit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Oktober 2016, wonach ausländische Versandhändler nicht mehr an die deutsche Preisbindung für rezeptpflichtige Medikamente gebunden sind, steigt der Absatz von rezeptpflichtigen Arzneimitteln im Versandhandel jedoch merklich an. Und genau an dieser Stelle gibt es nun ein Riesenproblem.

Im Oktober 2016 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) geurteilt, dem internationalen Versandhandel sei ein Marktzugang über den Preiskampf zu ermöglichen (EuGH, Urteil vom 19. Oktober 2016, Az.: C-148/15). Genauer: Der EuGH hat die Feststellung getroffen, »dass eine nationale Regelung …, die vorsieht, dass für verschreibungspflichtige Humanarzneimittel einheitliche Apothekenabgabepreise festgesetzt werden, eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung … darstellt, da sie sich auf die Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel durch in anderen Mitgliedstaaten ansässige Apotheken stärker auswirkt als auf die Abgabe solcher Arzneimittel durch im Inland ansässige Apotheken.« Und der zweite entscheidende Teil des Urteils lautet: Eine solche nationale Regelung könne »nicht mit dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen … gerechtfertigt werden …, da sie nicht geeignet ist, die angestrebten Ziele zu erreichen.«

Dieses Urteil hat erhebliche Folgen: Ausländische Versandapotheken dürfen seitdem Boni und Rabatte für das Einlösen von Rezepten gewähren, was sowohl inländischen Versandapotheken als auch Präsenzapotheken nicht erlaubt ist. Über diesen Preiskampf sollen sie, also die ausländischen Versandapotheken, Vorteile gegenüber den Präsenzapotheken erhalten. Man kann erkennen, dass die EuGH-Entscheidung  durchaus der inneren Logik eines europäischen Binnenmarktes folgt, bei dem der EuGH darüber zu wachen hat, dass die Mitgliedsstaaten nicht versuchen, durch nationale, in der Konsequenz aber ausländische Unternehmen diskriminierende Regelungen den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen zu behindern oder gar auszuhebeln.

Die Gegenseite, also vor allem die deutschen Apotheker, sind gegen diese Entscheidung Sturm gelaufen und tun das immer noch. Sie forderten (und fordern) ein Verbot des Versandhandels nach Deutschland, wenn die Versandhändler, die – beispielsweise wie das in diesem Bereich vielen bekannte Unternehmen DocMorris, das seinen Sitz in den Niederlanden hat, – den Kunden in Deutschland Rabatte gewähren dürfen – während die deutschen Apotheken (aber auch die deutschen Versand-Apotheken) das nicht dürfen. Hier würde ein völlig ungleichgewichtiger Wettbewerb eröffnet zum Schaden der stationären Infrastruktur vor Ort.

Bereits unmittelbar nach dem EuGH-Urteil wurde das so eingeordnet – beispielsweise in dem Artikel Bittere Pille für Apotheker von Nadine Oberhuber: »Derzeit kosten rezeptpflichtige Arzneimittel überall gleich viel. Dem Kunden kann es also egal sein, in welcher Apotheke er sie holt. Überdies zahlt die Krankenkasse die Medikamentenpreise ja sowieso. Und der Apotheker an der einen Straßenecke muss dank der Preisbindung auch keine Angst haben, dass ihm sein Konkurrent an der nächsten Ecke durch billigere Angebote die Patienten abspenstig macht. Die Margen, die alle Apotheker einstreichen – den Apothekeraufschlag und die Packungspauschale – sind ebenfalls gesetzlich festgelegt. Für deutsche Versandhandelsapotheken gilt das gleiche, so schreibt es die deutsche Gesetzeslage vor. Bisher leben die rund 20.000 deutschen Apotheker davon sehr gut: Ihre Umsätze haben sich seit 1995 mehr als verdoppelt auf insgesamt 48 Milliarden Euro. Nun aber könnten ihnen ausländische Versandhändler einen Teil ihres Geschäfts abgraben. Denn ausländische Versandhändler können nach dem Urteil des EuGH nun Medikamente billiger anbieten. Eventuell viel billiger. Denn derzeit sind die Preise für viele Arzneien im Europavergleich nirgends so hoch wie in Deutschland, so schlüsselt etwa der Arzneimittel-Verordnungs-Report (AVR) regelmäßig auf, den Gesundheitsökonomen für das wissenschaftliche Institut der AOK erstellen. Darin ist seit Jahren von „überteuerten Arzneimitteln in Deutschland“ die Rede.«

Und wie immer in solchen Auseinandersetzung hat man sich wissenschaftlicher Expertise zu bedienen versucht. Aus den Reihen der deutschen Apothekerschaft wurden Uwe May, Cosima Bauer und Heinz-Uwe Dettling mit einem Gutachten erstellt, das unter der Überschrift „Versandverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel – Wettbewerbsökonomische und gesundheitspolitische Begründetheit“ veröffentlicht wurde (vgl. diese Zusammenfassung). In einer Kleinen Anfrage der Linken im Bundestag (Bundestags-Drucksache 19/2400 vom 31.05.2018) wurde auf einige Ergebnisse dieses Gutachtens Bezug genommen. In dem Gutachten, so die Fragesteller, werde ausgeführt, »dass viele Apotheken, gerade auf dem Land, einem Preiswettbewerb nicht standhalten können und damit die Versorgungssicherheit in Frage gestellt würde. In mehreren Zukunftsszenarien wird aufgezeigt, dass der Versandhandel in Verbindung mit freien Preisen für rezeptpflichtige Arzneimittel die flächendeckende Versorgung mit Vor-Ort-Apotheken sehr wohl beeinträchtigt. Bei einem Szenario mit beschränkten Boni würden mehr als 1 000 Ortschaften mit weniger als 5 000 Einwohnerinnen und Einwohnern die einzige Apotheke im Umkreis von fünf Kilometern verlieren.«

Und offensichtlich hatten die Apotheker das Ohr der Großen Koalition, denn im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 12. März 2018 findet man bei den vereinbarten Zielen diesen Hinweis: »Wir stärken die Apotheken vor Ort: Einsatz für Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln« (S. 15) sowie »Um die Apotheken vor Ort zu stärken, setzen wir uns für ein Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ein« (S. 98). Allerdings klingt das (wie so einiges andere in diesem Vertragswerk) eindeutiger, als es tatsächlich gemeint ist, denn auch innerhalb der temporären Regierungspartner gibt es große Vorbehalte gegen diese „Lösung“ mit dem nationalen Holzhammer. Nur wenige Wochen nach dem Abschluss des Koalitionsvertrages äußerte sich gerade Jens Spahn, inzwischen zum Bundesminister für Gesundheit ernannt: „Der Meinungsbildungsprozess über die Umsetzung der Koalitionsvereinbarung ist zu diesem Punkt noch nicht abgeschlossen“ (vgl. dazu den Artikel Wird der Arzneiversand gerettet? Gesundheitsminister Jens Spahn weicht der Debatte über den Online-Handel mit Medikamenten aus).

Das andere – und hier offensichtlich relevante – Ende des Spektrums markiert die Forderung, dass man der Botschaft des EuGH folgen und die Preisbindung für rezeptpflichtige Medikamente auch in Deutschland abschaffen sollte, so dass die Apotheken deutlich freier wären in ihrer Preisgestaltung und beispielsweise – wie die ausländischen Versandapotheken – ebenfalls Rabatte an die Kunden weitergeben können. Das Thema wurde auch herausgehoben behandelt im „22. Hauptgutachten der Monopolkommission, Wettbewerb 2018“ (vgl. Bundestags-Drucksache 19/3300 vom 10.07.2018). Dort gibt es gleich am Anfang im Kapitel „Aktuelle Probleme der Wettbewerbspolitik“ einen Schwerpunkt unter dem Titel „Reformen im Vergütungssystem für die Versorgung mit Arzneimitteln durch Großhändler und Apotheken“ (S. 6-37).

Das Fazit der Monopolkommission: »Anknüpfend an frühere Stellungnahmen hat sich die Monopolkommission erneut mit Fragen der Preisregulierung von Apotheken und Arzneimittelgroßhändlern sowie der Arzneimittelversorgung durch Apotheken befasst. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass das Vergütungssystem einer grundsätzlichen Umgestaltung bedarf. In einem ersten Schritt sollte es den Apotheken gestattet werden, die Zuzahlungen gesetzlich krankenversicherter Patienten für verschreibungspflichtige Arzneimittel durch die Gewährung von Rabatten zu reduzieren. Zugleich sollte auf das im Koalitionsvertrag vorgesehene Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln verzichtet werden.«

Der Bundesgesundheitsminister – qua Zuständigkeitsverteilung auch Bundesapothekenminister – scheint dem Lager der Deregulierer zuzuneigen und verweigerte deshalb auch ein entsprechende Positionierung, dass die Vereinbarung im Koalitionsvertrag auch wirklich kommen wird. Was bei den heimischen Apothekern natürlich nicht gut ankommt.

Schützenhilfe wird dem Minister aus den Reihen der Wirtschaftspresse zur Verfügung gestellt. Ein komplettes Verbot von Internetapotheken passt nicht zur digitalen Welt, so hat Gregor Waschinski seinen Artikel zu dem Apothekertag überschrieben:

Die Konkurrenz durch Onlineapotheken aus dem EU-Ausland ist für die deutsche Apothekerschaft ein Ärgernis. Versandhändler wie DocMorris dürfen deutschen Kunden beim Kauf von verschreibungspflichtigen Medikamenten Rabatte einräumen, der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat ihnen das erlaubt. Für deutsche Apotheken gelten dagegen einheitliche Festpreise. Ihr Wunsch, diesen Wettbewerbsnachteil zu beseitigen, ist verständlich, so Waschinski. Dann allerdings kommt das große „Aber“:

»Das Mittel, das die Apotheker vorschlagen, wirkt aber aus der Zeit gefallen: Ein komplettes Verbot des Versandhandels passt nicht in eine Welt, in der digitale Vertriebskanäle Branche um Branche verändern.«

Natürlich sieht auch der Autor das Problem: »Wettbewerb erfordert gleiche Rahmenbedingungen. Versandapotheken aus dem EU-Ausland haben die Möglichkeit, Kunden mit Preisnachlässen zu locken. Das benachteiligt nicht nur die Präsenzapotheken in Deutschland, sondern auch die deutschen Medikamenten- Versandhändler.«

Und wie kann man das lösen? Dazu Waschinski: »Über eine Reform der Arzneimittelpreisverordnung sollte er allen Marktteilnehmern die Möglichkeit zu Rabatten bei verschreibungspflichtigen Medikamenten einräumen – ohne allerdings die Preise komplett freizugeben. Eine Ober- und Untergrenze wäre ein geeigneter Weg, um mehr Wettbewerb zu ermöglichen und gleichzeitig sicherzustellen, dass sich Patienten auf stabile Arzneimittelpreise verlassen können. Präsenzapotheken könnten für die Versorgung vor Ort mit Nacht- und Notdiensten mit höheren Zuschlägen vergütet werden.«

Hier deutet sich also eine Art Kompromisslösung an, allerdings mit einer sehr deutlichen Schlagseite zugunsten der Deregulierer und das nicht nur mit Blick auf die Konkurrenz durch ausländische Versandapotheken, sondern auch durch die gleichzeitige erhebliche Auflockerung der Preisbindung der verschreibungspflichtigen Arzneimittel, mit der man ja bewusst bestimmte Effekte eines Preiswettbewerbs in diesem Bereich ausschalten wollte.

Den Deregulierern werden allerdings immer wieder Argumente entgegen gehalten, dass es nicht um eine Deregulierung zur Herstellung eines fairen Wettbewerbs gehen würde. Sondern man befürchtet auf der Seite der stationären Apotheken eine „Rosinenpickerei“ der beispielsweise (auch angesichts von Besteuerungsunterschieden nicht überraschend) von den Niederlanden agierenden Versandapotheken, denn die können ihre Logistikprozesse effizienzorientiert und zu ganz anderen Fixkosten als Vor-Ort-Apotheken in Deutschland organisieren, Größenvorteile nutzen und bei der Zulässigkeit von Preisnachlässen einen erheblichen Preisvorteil realisieren, von dem dann ein Teil an die Kunden weitergegeben werden kann. Und dann müssen sie sich nicht an solchen Aufgaben wie den Nacht-, Sonntags- und Feiertags-Diensten der Apotheken beteiligen, mit denen die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung auch zu diesen Zeiten gewährleistet werden soll. Diesen Diensten können sich die ortsgebundenen Apotheken nicht entziehen. Und man kann auch Vermutungen anstellen, was das für die Beschäftigung in diesem Segment bedeuten würde, wenn sich die von der Effizienz durchoptimierten Versandhändler immer weiter ausbreiten werden, denn die beschäftigen gerade in ihren Kernprozessen deutlich weniger Personal und vor allem auch weniger qualifiziertes Personal. An diesen Hinweisen kann man erkennen, dass wir es hier eben nicht nur mit wettbewerbspolitischen Fragen im engeren Sinne zu tun haben und Medikamente sind eben auch keine „normalen“ Produkte.

Abschließend: Falls sich der eine oder andere fragen sollte, warum sich denn die Deutschen mal wieder so schwer tun, etwas zu tun (in diesem Fall ein Verbot des Versandhandels auszusprechen), dann werden wir erneut Zeugen dessen, was man als Pfadabhängigkeit der politischen Möglichkeiten bezeichnet. Eigentlich müsste es, so der naive Gedanke des außenstehenden Beobachters, sich kein Problem sein, wenn man es politisch will, ein Verbot auszusprechen, ohne Stress mit der EU-Ebene zu befürchten, denn immerhin haben 21 andere europäische Länder das Versandverbot und schließen den Rx-Versand explizit aus. Und warum soll das dann bei uns nicht funktionieren? Dazu die damalige Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries in einem Interview aus dem August 2017: »Ein wesentlicher Unterschied ist, dass diese Länder den Rx-Versand noch nie zugelassen haben, während bei uns seit 2004 Apotheken auch als Versandapotheken tätig sein dürfen. Diesen würde man, wie gesagt, nachträglich ihre Berufsausübung verbieten.« Man ahnt schon, selbst wenn man wollte, es wird schwierig.