Je höher, desto weniger und mehr bedeutet nicht immer auch wirklich mehr. Inklusion und Inklusionsquoten

Die Inklusion ist eine dieser wirklich großen gesellschaftspolitischen Baustellen, auf denen es hier und da mehr als wuselig zugeht, wo es aber auch andere – durchaus sehr große – Zonen gibt, bei denen man sich an die vielen Baustellen auf deutschen Autobahnen erinnert fühlt, die zwar stauproduzierend eingerichtet sind, auf denen aber weit und breit keiner zu arbeiten scheint. Eigentlich müsste die Großbaustelle Inklusion in unserer Gesellschaft noch viel größer sein, wenn man berücksichtigt, dass die Schaffung einer inklusiven Gesellschaft alle Bereiche betreffen müsste, auch – aber eben nicht nur – den Teil, auf den sich die Inklusionsdebatte in Deutschland besonders eingeschossen hat: die Schulen (vgl. beispielsweise zum Aspekt Teilhabe an Arbeit bereits den Blog-Beitrag „Inklusion“ jenseits der Sonntagsreden und des Koalitionsvertrages. Aus der kleinteiligen Realität einer gelingenden Umsetzung von Teilhabe an Arbeit für Menschen mit Behinderung vom 22. Dezember 2013). Anders gesagt. Wir sind konfrontiert mit einer sehr schulseitigen Fokussierung bei der Frage, wie es denn steht bei der Umsetzung dessen, was aus der UN-Behindertenrechtskonvention abgeleitet wird. 

»2009 hat sich Deutschland mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, Schüler mit und ohne Handicap gemeinsam zu unterrichten. Seitdem steigen die Inklusionsanteile in deutschen Klassenzimmern. Von einem inklusiven Bildungssystem – vor allem in den weiterführenden Schulen – ist Deutschland aber noch weit entfernt.« Das ist einer der zentralen Befunde aus einer neuen Studie, die Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung verfasst hat. Die Stiftung hat ihre Erläuterungen dazu unter die Überschrift Inklusion bleibt an vielen weiterführenden Schulen ein Fremdwort. »In Deutschland sitzen immer öfter behinderte und nicht behinderte Schüler gemeinsam in einer Klasse. Doch eine neue Studie zeigt auch: In der Inklusion sind die Bundesländer unterschiedlich weit – ebenso wie die Schulformen«, so die Zusammenfassung in dem Artikel Je höher der Bildungsgrad, desto weniger Inklusion. Und auch die Süddeutsche Zeitung weist auf diesen Aspekt schon in ihrer Überschrift hin: Inklusion ja – aber kaum an Gymnasien. Die Bertelsmann-Stiftung beginnt ihre Berichterstattung über die Studie allerdings mit erfreulich daherkommenden Zahlen: » Fast jedes dritte Kind mit Förderbedarf besucht mittlerweile eine Regelschule (31,4 Prozent). Das ist ein Anstieg um 71 Prozent gegenüber dem Schuljahr 2008/09 (18,4 Prozent).« Um dann sogleich Wasser in den aufgetischten Wein zu gießen: »Trotz der Fortschritte ist die Situation an deutschen Schulen für Kinder und Jugendliche mit Handicap noch unbefriedigend. Der Schüleranteil an Förderschulen geht kaum zurück und von bundesweit vergleichbaren Chancen auf Teilhabe an Inklusion kann noch keine Rede sein. Dazu kommt: In der Sekundarstufe bleibt Inklusion weiterhin eine Ausnahme.«

Je höher, desto weniger, so lassen sich diese Zahlen zusammenfassen: »Während der Inklusionsanteil in deutschen Kitas 67 Prozent (2008/09: 61,5 Prozent) und in den Grundschulen 46,9 Prozent (2008/09: 33,6 Prozent) beträgt, fällt er in der Sekundarstufe auf 29,9 Prozent (2008/09: 14,9 Prozent). Besonders auffällig: Von den knapp 71.400 Förderschülern in den Schulen der Sekundarstufe lernt nur jeder Zehnte an Realschulen oder Gymnasien. Inklusion findet hauptsächlich an Hauptschulen und Gesamtschulen statt.«

Wer das und vieles mehr im Original nachlesen möchte, der möge einen Blick in die Studie werfen:

➔ Klaus Klemm: Inklusion in Deutschland. Daten und Fakten. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, 2015

Nun ist das mit den Quoten – vor allem, wenn diese im Zeitverlauf verglichen werden – immer so eine Sache. Die Bertelsmann-Stiftung liefert uns einen ersten Hinweis, dem nachzugehen lohnend erscheint, denn er schüttet noch mehr Wasser in die Wein-Schorle:

»Bundesweit wird bei immer mehr Kindern ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt. Zwischen den Schuljahren 2008/2009 und 2013/2014 ist diese Quote von 6,0 auf 6,8 Prozent und damit um 13 Prozent gewachsen. Zwar steigen die Inklusionsanteile seit Jahren, der Anteil der Schüler, die Förderschulen besuchen, sinkt hingegen nur leicht. Das ist ablesbar an der Exklusionsquote, die in den letzten Jahren nur minimal gesunken ist (2008/09: 4,9 Prozent; 2013/14: 4,7 Prozent). Vor Inkrafttreten der UN-Behindertenkonvention war die Exklusionsquote sogar niedriger (2001/02: 4,6 Prozent) als heute. Die fast gleichbleibenden Schüleranteile an Förderschulen trotz steigender Inklusionsanteile lassen sich bundesweit durch höhere Förderquoten erklären.«

Bereits im Juli dieses Jahres hat Johann Osel in der Überschrift seines Artikels die Frage gestellt: Plötzlich behindert? Er bezieht sich auf einen Aufsatz des Dortmunder Förderschullehrers Andreas Kloth in der Zeitschrift „Inklusion“, der Daten aus Nordrhein-Westfalen ausgewertet hat, die ihn haben skeptisch werden lassen hinsichtlich der Erfolgsmeldungen über steigenden Inklusionsquoten an den Regelschulen, denn: »Die Quote der Inklusionsschüler in Regelschulen sei gestiegen, aber zugleich der Anteil der Schüler in eigenen Fördereinrichtungen kaum gesunken. Denn es seien „neue Förderschüler“ entstanden, in 20 Jahren habe sich der Anteil der Kinder mit solcher Diagnose verdoppelt, deutlich sei der Anstieg seit 2008 – vor allem bei Schülern mit Lernproblemen, die wiederum den größten Anstieg bei den Inklusionsquoten ausmachten.« In Deutschland haben derzeit etwas mehr als sechs Prozent der Kinder Förderbedarf. Nur selten geht es um körperliche Behinderungen; die meisten Diagnosen entfallen auf Lernschwache. Andreas Kloth wird dann mit diesen Worten zitiert:

»Durch die Rekrutierung der Inklusionsschüler aus der Grundschülerschaft wurden aus Grundschülern des unteren Leistungsspektrums plötzlich Förderschüler, die Schüler waren plötzlich ,lernbehindert‘.«

Auch der Befürworter einer völligen schulischen Inklusion, Hans Wocken, unterstützt mit Daten aus Bayern die Befunde von Kloth aus NRW: Danach kann man zeigen, »dass häufiger nicht-behinderte Grundschüler „bei Leistungsschwäche oder Verhaltensauffälligkeiten als behindert etikettiert und zu Inklusionsschülern transformiert“ würden.«

Auf einen weiteren diskussionsbedürftigen Punkt weit die Bertelsmann-Stiftung auch hin – die Unterschiede zwischen den Bundesländern:

»In den Bundesländern klaffen die Inklusionsanstrengungen weit auseinander. Während in den Stadtstaaten Bremen (Inklusionsanteil: 68,5 Prozent), Hamburg (59,1 Prozent) und Berlin (54,5 Prozent) oder in Schleswig-Holstein (60,5 Prozent) die Mehrheit der Förderschüler an Regelschulen lernt, sind es in Hessen (21,5 Prozent) und Niedersachsen (23,3 Prozent) weniger als ein Viertel. Auch der Anteil der Schüler, die separiert an Förderschulen unterrichtet werden, unterscheidet sich erheblich. Die Spannweite liegt hier zwischen Exklusionsquoten von 6,8 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt bis zu 1,9 Prozent in Bremen.«

Nun könnte man sich zurücklehnen und argumentieren, dass diese Varianzen zwischen den Bundesländern ja ein generelles Merkmal unseres föderalen Bildungswesens ist, wir kennen diese Unterschiedsintensitäten auch aus dem Kita- und anderen Schulbereichen. Aber hier setzt eine grundsätzliche Kritik an: Die Inklusionsquote, die die Bundesländer ausweisen, sage wenig über die bislang erzielten Fortschritte aus, schreibt Jonna M. Blanck, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in ihrer jetzt veröffentlichten Analyse „Die vielen Gesichter der Inklusion“, berichtet Amor Burchard in dem Artikel Nur ein bisschen Gemeinsamkeit. Wie das? In den 16 Bundesländern hat Blanck aufgrund von Schulgesetzen und Berichten der Kultusministerien 80 verschiedene Integrationsformen identifiziert. Der Wissenschaftlerin hat sich ein eigenes Universum an ganz unterschiedlichen Formen von Inklusion eröffnet: »Das Spektrum beginnt mit Kooperationen zwischen Sonder- und Regelschulen, bei gemeinsamen Ausflügen oder Unterricht von Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf. Die Kooperation gilt in der Hälfte der Länder als ein Schritt zur Inklusion, Blanck kritisiert sie aber als „am stärksten segregierende Form“. In elf Ländern können Kinder mit Förderbedarf darüber hinaus auf Regelschulen in Sonderklassen unterrichtet werden – nach Lehrplänen der Sonderschulen. Dabei sollen Schüler und Lehrkräfte innerhalb und außerhalb des Unterrichts mit einer Regelklasse kooperieren … Gleichzeitig wird nur in wenigen Ländern vorgegeben, in welchem Umfang die Schüler gemeinsam unterrichtet werden sollen. Hier haben Schulen von der „umfassenden Teilnahme“ bis zu gesonderten Kursen, Lern- und Kleingruppen oder der Einzelförderung viele Möglichkeiten.«

Die Studie von Black gibt es hier im Original:

➔ Jonna M. Blanck: Die vielen Gesichter der Inklusion. Wie SchülerInnen mit Behinderung unterrichtet werden, unterscheidet sich innerhalb Deutschlands stark. WZBrief Bildung 30, Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Juni 2015

Diese Beispiele mögen zeigen können, dass erhebliche Skepsis angesagt sein sollte, wenn man allgemeine „Inklusionsquoten“ in den Raum stellt und daraus gar ultimative Fortschritte abzuleiten meint. Um die Fortschritte der Inklusion tatsächlich messbar zu machen, brauche es deutschlandweit vergleichbare statistische Angaben, so einer der Forderungen von Jonna M. Blanck.

Darüber hinaus – und noch weitaus wichtiger – muss genauer hingeschaut werden, wer denn die betroffenen Kinder und Jugendliche wo und wie und womit versorgt. Aus der Praxis gibt es zuhauf Berichte über eine teilweise desaströs Unterausstattung, aber immer auch Berichte aus Schulen, in denen der inklusive Unterricht hervorragend zu klappen scheint. Ein weites Feld.