Zwischen Himmel und Hölle: Wenn das Wohnen die einen arm und einige andere sehr reich macht

Das Thema Wohnen ist derzeit mal wieder auf dem Weg an die Spitze der für die Menschen besonders wichtigen Themen – dies allerdings aus völlig unterschiedlichen, teilweise absolut gegenläufigen Gründen: Die einen sehen in Immobilien die einzige noch verbliebene Kapitalanlage, infolgedessen fließen große Summen in den Wohnungsmarkt. Sie wollen ihr Geld in Sachwerte investieren und natürlich auch gerne eine Rendite erzielen, die oberhalb der wertfressenden Inflationsrate. Andere hingegen kämpfen in den Regionen, vor allem in den Städten, wo sie arbeiten (müssen), mit massiv steigenden Mieten, was das verfügbare Haushaltsbudget erheblich mindert. Gerade in diesen Städten, wo es oftmals auch die meisten Hochschulen angesiedelt sind, leiden die Studierenden an einer echten Wohnungsnot, werden sie doch auch immer mehr, nicht aber die ihrem Budget entsprechenden Wohnungsangebote. Wieder andere sind mit einem ganz anderen Phänomen konfrontiert: Sie leben in ländlichen Regionen, in denen nichts ist mit Wertanlage Immobilie, sondern wo sie mit sinkenden Preisen, massiven Leerständen und Abwanderung zu kämpfen haben. In den Metropolen boomt der Immobilienmarkt. Doch in weiten Teilen des Landes sieht es anders aus: Dort stehen Häuser leer. Warum die Deutschen in die Städte flüchten und welche dramatische Spaltung des Immobilienmarktes beobachtbar ist, darüber berichtet der Handelsblatt-Beitrag „Wo Häuser nichts mehr wert sind“ von Jörg Hackhausen und Jens Hagen ausführlich.

Aber es gibt neben den grundsätzlichen Angebots-Nachfrage-Fragen auch zwei ganz besondere sozialpolitische Dimensionen des Themas Wohnen, die durch neue Veröffentlichungen ans Tageslicht gezogen werden: Zum einen die Frage der (Nicht-)Übernahme der Wohnkosten für die vielen Menschen im Grundsicherungsbezug, also in Hartz IV. Zum anderen die offensichtliche Problematik, dass Menschen, vor allem Familien mit Kindern, in bestimmten sehr teuren Regionen/Städten durch die Kosten der Unterkunft auf ein Einkommensniveau unterhalb der Grundsicherung gedrückt werden, auf dass sie unter normalen Preisverhältnissen für das Wohnen nicht gekommen wären. Es geht also um eine Art „Wohnungsarmut“, womit aber nicht oder nicht primär der Mangel an Wohnungen gemeint ist, sondern dass man durch das Wohnen arm wird (oder bleibt).

Die Bertelsmann-Stiftung hat nun die von ihr in Auftrag gegebene Studie „Wohnungsangebot für arme Familien in Großstädten. Eine bundesweite Analyse am Beispiel der 100 einwohnerstärksten Städte“ veröffentlicht: »In größeren Städten landen einkommensschwache Familien durch hohe Mieten oftmals unterhalb der staatlichen Grundsicherung. In mehr als jeder zweiten größeren Stadt erhöhen die Mietpreise das Armutsrisiko von Kindern. Vielerorts herrscht ein erheblicher Mangel an Wohnungen, die für Familien geeignet und auch bei niedrigem Einkommen erschwinglich sind. Kinder wachsen daher längst nicht nur dann in armen Verhältnissen auf, wenn ihre Familie staatliche Grundsicherung bezieht«, so die Stiftung in der Pressemitteilung „Armut nicht nur eine Frage von Hartz IV„. Der sozialpolitisch brisante Befund:

»Wer als Familie weniger als 60 Prozent des ortsüblichen mittleren Einkommens verdient, hat in 60 der 100 größten deutschen Städte nach Abzug der Miete im Durchschnitt weniger Geld zur Verfügung als eine Hartz-IV-Familie.«

Familien aus der unteren Mittelschicht und oberen Unterschicht geraten in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt finanziell stark unter Druck und vor diesem Hintergrund fordert der Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, Jörg Dräger, eine stärker regionale Erfassung wie auch Bekämpfung von Armut.

Damit wird ein grundsätzliches Problem der Armutsforschung adressiert: Eine einheitliche Armutsgrenze lässt regionale Unterschiede der Lebenshaltungskosten außer Acht und kann dadurch zu Fehlschlüssen verleiten: Denn natürlich ist es so – »ein Einkommen von 2.000 Euro ist etwa in Zwickau ungleich mehr wert als in Hamburg«. Ohne Frage. Deshalb wird für einen anderen Ansatz plädiert. Die Studie »berechnet für die 100 größten deutschen Städte, was eine nach regionalen Maßstäben einkommensschwache vierköpfige Familie monatlich ausgeben kann, nachdem sie die Kosten für das mit Abstand teuerste Konsumgut beglichen hat – das Wohnen.«

Die Berücksichtigung der regional stark divergierenden Wohnkosten kann zwei völlig unterschiedliche Auswirkungen haben:

»In Jena bleiben einer Familie mit zwei Kindern nach Überweisung der Miete rechnerisch nur 666 Euro pro Monat. Das verfügbare Einkommen liegt demnach 43 Prozent unter der staatlichen Grundsicherung, auf die eine vergleichbare Familie ohne Erwerbseinkommen Anspruch hat und die bundesweit einheitlich 1.169 Euro beträgt. Ähnliche Auswirkungen haben die hohen Wohnkosten in Frankfurt/Main, Freiburg und Regensburg, wo einkommensschwache Familien nach Entrichtung der Miete durchschnittlich 37, 33 und 26 Prozent unter Hartz-IV-Niveau landen.«

Aber eben auch:

»In Heilbronn, wo relativ hohe Durchschnittseinkommen auf einen entspannteren Wohnungsmarkt treffen, hat eine Familie unter denselben Annahmen monatlich 1.941 Euro zur Verfügung, mithin 66 Prozent mehr als die staatliche Grundsicherung. Auch in Iserlohn, Witten und Bergisch-Gladbach sinkt durch günstigere Mieten das Armutsrisiko für Familien mit Kindern. Dort liegt das Budget von einkommensschwachen Familien nach Abzug der Wohnkosten 53, 48 und 45 Prozent oberhalb der staatlichen Grundsicherung.«

Das hat krasse Auswirkungen auf das verfügbare Budget der Familien: In Frankfurt/Main, Jena, Freiburg und München geben einkommensschwache Familien durchschnittlich mindestens jeden zweiten Euro für die Miete aus. In Iserlohn und Witten hingegen bleiben 80 Prozent des Familieneinkommens für sonstige Lebensbereiche. Der bundesweite Durchschnittswert für die Ausgaben für das Wohnen liegen bei 30%.

Die Studie kommt außerdem zu dem Ergebnis: »Die Wirtschaftskraft einer Stadt ist ebenso wenig allein ausschlaggebend für das Mietniveau wie das quantitative Angebot an Wohnungen, die von Größe und Zuschnitt für Familien geeignet sind. Am ehesten ist noch ein Zusammenhang zur demographischen Entwicklung festzustellen – in wachsenden Städten schrumpft tendenziell der Wohnungsmarkt im unteren Preissegment.« Dies passt zu den Erkenntnissen, die in dem Beitrag „Wo Häuser nichts mehr wert sind“ präsentiert werden: »Die Landflucht in Deutschland hat ganz verschiedene Gründe: Einer der wichtigsten: der demographische Wandel … Hinzu kommt ein struktureller und wirtschaftlicher Wandel in Deutschland. Arbeitsplätze entstehen heutzutage kaum noch in der Industrie, schon gar nicht in der Landwirtschaft, sondern im Bereich Dienstleistungen. „Die Leute gehen dorthin, wo die Jobs sind. Die gibt es in den Ballungsgebieten“, sagt Michael Voigtländer, Immobilienexperte des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.«
Die sozialpolitische Dimension des Themas wird auch durch eine parallel zur neuen Bertelsmann-Studie veröffentlichte Daten-Auswertung von Johannes Steffen untermauert, der sich speziell die Gruppe der Hartz IV-Empfänger angeschaut hat: „630 Millionen Euro zu Lasten des Lebensunterhalts. Hartz-IV-Haushalte bleiben auf Unterkunftskosten sitzen„, so der Titel seiner kompakt auf einer Seite zusammengefassten Berechnungsergebnisse, die er auf dem „Portal Sozialpolitik“ veröffentlicht hat. Quelle des von ihm beschriebenen Problems ist die Tatsache, dass die Kommunen Bedarfe für Unterkunft und Heizung nur insoweit berücksichtigen, wie diese „angemessen“ sind (§ 22 SGB II). Über die diesbezüglichen Richtlinien wird vor Ort entschieden – in der Regel vor dem Hintergrund der regionalen Mietniveaus und der Mietobergrenzen des Wohngeldgesetzes. Es sei in diesem Zusammenhang nur darauf hingewiesen, dass gerade strittige Fragen hinsichtlich dessen, was der unbestimmte Rechtsbegriff „angemessene“ Kosten der Unterkunft genau bedeutet, eine der wichtigsten Gründe für die unzähligen Rechtsstreitigkeiten in Angelegenheiten des SGB II vor den Sozialgerichten darstellt.

Während die Hartz-IV-Haushalte 2012 rund 15,5 Milliarden Euro für laufende Kosten der Unterkunft (KdU) aufwenden mussten, wurden von den SGB-II-Trägern nur gut 14,8 Milliarden Euro anerkannt. Die Differenz in Höhe der 630 Mio. Euro mussten die Betroffenen damit faktisch aus ihrem Regelbedarfs-Budget decken, das eigentlich zur Sicherung des Lebensunterhalts vorgesehen ist. Und der von den SGB-II-Trägern tatsächlich geleistete Aufwand für die Kosten der Unterkunft fällt noch eimal niedriger aus: 2012 waren dies rund 13,3 Milliarden Euro, denn es gibt Sanktionen mit entsprechenden Leistungskürzungen oder anrechenbares Einkommen und Vermögen der Hartz IV-Bedarfsgemeinschaften.

Dabei gibt es schon auf der Ebene der Bundesländer eine erhebliche Streuung: Am höchsten waren die prozentualen Einsparungen in Rheinland-Pfalz und im Saarland, während die niedrigsten Anteilswerte auf die drei Stadt-Staaten entfielen: »Besonders hoch war die jährliche Ersparnis der Jobcenter auf Länderebene in Rheinland-Pfalz mit 306 Euro pro Bedarfsgemeinschaft und im Saarland mit 289 Euro; die niedrigste durchschnittliche Ersparnis wiesen Bremen (133 Euro) und Berlin (163 Euro) auf.«

Auf der Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte ist die Varianz noch größer.
Es bleibt eine unangenehme Frage im Raum stehen: Gibt es eine relativ einfache Lösung dieser Probleme, die ja auch und gerade Probleme durch ganz unterschiedliche Knappheitsrelationen auf dem Immobilienmarkt sind?

Nehmen wir das Beispiel mit der Erstattung der „angemessenen“ Kosten der Unterkunft. Eine ganz andere Lösung wäre, man würde die Kosten insgesamt erstatten oder abgeschwächt, dass man die Kostenerstattungsgrenzen nach oben setzt. Im Ergebnis könnte diese gut gemeinte Maßnahme aber dazu führen, dass sich am Problem nichts ändert – dann nämlich nicht, wenn die Angebotsseite entsprechend reagiert und einfach das Preisniveau nach oben anpasst.

Viele Hartz IV-Empfänger stehen vor dem Problem, dass sie einen Teil ihrer tatsächlichen Unterkunftskosten aus ihren Regelleistungen bestreiten müssen und gleichzeitig gar nicht die Möglichkeit haben, in eine günstigere Wohnung umzuziehen, weil es vor Ort solche Wohnungen, um die ja viele konkurrieren, gar nicht gibt. Dies verweist auf das grundsätzliche Problem des Mangels an (bezahlbaren) Wohnraum an sich, der natürlich gerade in den Regionen/Städten, in denen die Wirtschaft gut läuft und die von Zuwanderungen profitieren, bereits heute Mangelware sind. Dieser Punkt verweist zugleich darauf, dass die nunmehr für diese Regionen von Teilen der Politik geforderten Mietpreisbegrenzungen den einen oder anderen im Bestand schützen könnten, aber zugleich nichts an dem Angebotsproblem, das zu wenige Wohnungen insgesamt zur Verfügung stehen, lösen würde. Ganz im Gegenteil könnte es durchaus am Ende zu weniger Neubauten im preiswerten Bereich kommen, weil durch die Preisgrenzen Investoren abgeschreckt werden oder sich auf andere Marktsegmente fokussieren. Wieder einmal zeigt sich an dieser Stelle, wie fatal es war, dass der Staate die Förderung des sozialen Wohnungsbaus so runtergefahren hat. Denn das war und ist das einzige Instrument, mit dem man eine Angebotsausweitung erreichen kann.
Wir befinden uns hier also in einem mehrfachen Dilemma und wirklich weiterführende Lösungsansätze werden dringend gesucht.

Das Ehrenamt in der Krise und der Verein als vom Aussterben bedrohte Art? Neue Zahlen geben einige Hinweise, die eine andere Entwicklung andeuten

Wer kennt das nicht – seit Jahren schon wird lautstark die Klage vorgetragen, dass immer weniger Menschen in Deutschland bereit seien, sich in Vereinen oder anderen gemeinnützigen Organisationen zu engagieren, dass immer weniger Menschen bereit seien, ehrenamtliche Aufgaben und Verantwortung zu übernehmen. Sportvereinen bröckelt der Nachwuchs weg, auch viele Feuerwehren werfen bedrohliche Schatten an die Wand was die eigene Funktionsfähigkeit angeht, weil viele Wehren ebenfalls Nachwuchssorgen haben und die, die dann noch mitmachen, oftmals tagsüber aus beruflichen Gründen in ganz anderen Gegenden sein müssen und eben nicht zu Hause anwesend sein können. Nur ein Beispiel von vielen: »… 95% aller Brände in Nordrhein-Westfalen werden von den freiwilligen Feuerwehren bekämpft. Ein Schutz der in Zukunft nicht mehr gewährleistet sein kann, wenn weiterhin der Feuerwehr-Nachwuchs fehlt. In Nordrhein-Westfalen sind 396 Freiwillige Feuerwehren im Einsatz. Jährlich verlieren sie rund 2.000 Mitglieder … die Anzahl entspricht der Mitgliederzahl vieler Freiwilliger Feuerwehren.«

Vor diesem Hintergrund wird der eine oder die andere überrascht bis irritiert auf den Beitrag „Deutschland hat so viele Vereine wie nie zuvor“ von Andreas Mihm in der FAZ reagiert haben: »Eine neue Studie zeigt: Die Zahl der Vereine, Genossenschaften und Stiftungen wächst. Mittlerweile gibt es siebenmal so viele wie vor fünfzig Jahren. Von einer Krise des Ehrenamtes könne nicht die Rede sein.« Im Kern ist und bleibt der Deutsche ein Vereinsmeier, so eine der aktuellen Bewertungen. Holger Krimmer vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft wird mit den Worten zitiert: »580.000 Vereine sind registriert, siebenmal so viele wie vor 50 Jahren«. Der Stifterverband lässt zusammen mit der Bertelsmann– und der Thyssen-Stiftung seit einigen Jahren untersuchen, wie es mit dem Innenleben der deutsche Zivilgesellschaft bestellt ist. Herausgekommen ist das Projekt „Zivilgesellschaft in Zahlen„. Nach deren Berechnungen »gehen im „dritten Sektor“ der Wirtschaft 105.000 Unternehmen gemeinnützigen Tätigkeiten nach, erwirtschafteten damit im Jahre 2007 eine Bruttowertschöpfung von 90 Milliarden Euro (4,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) und stellten 2,3 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Hinzu kommen 300.000 in 400-Euro-Jobs Tätige.«

Diesmal wurde versucht, eine umfassende Bestandsaufnahme des äußerst heterogenen Sektors vorzulegen:

»Mit ihrem jüngsten „Zivi-Survey“ haben die Forscher erstmals die gesamte Zivilgesellschaft unter die Lupe genommen, also auch jene Gruppierungen, die nicht im engeren Sinne wirtschaftlich tätig sind. Die Forscher haben neben den Daten des Statistischen Bundesamtes die Vereinsregister von 280 Amtsgerichten durchforstet, Gründungszahlen von Stiftungen ausgewertet, die von gemeinnützigen GmbHs (gGmbH) und Genossenschaften erhoben. Am Ende waren es nach den noch unveröffentlichten Zahlen 616.154 Organisationen, vom Sport- über den Förderverein für die Grundschule bis zur freiwilligen Feuerwehr. Genau gesagt sind es 580.294 Vereine, 17.352 Stiftungen, 10.006 GmbHs und 8502 Genossenschaften, in denen 23 Millionen Mitglieder mal mehr, mal weniger aktiv sind.«

Dass vier von zehn Vereinen Probleme hätten, Vorstandsposten und Aufsichtsfunktionen zu besetzen, sei nach Auffassung der Studienautoren weniger Ausdruck einer fundamentalen Krise des Ehrenamts, sondern vielmehr Folge des starken Wachstums der Organisationen der Zivilgesellschaft. »Der häufig beklagte Mangel von Ehrenamtlichen ist daher eine Begleiterscheinung des Wachstums zivilgesellschaftlicher Strukturen«, so wird Holger Krimmer vom Stifterverband in dem FAZ-Artikel zitiert.

Allerdings gibt es auch deutlich pessimistischere Einschätzungen zum Thema Zivilgesellschaft. So beispielsweise gerade mit Blick auf die hier so wichtigen Vereine die Forschungsbefunde aus dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Mareike Alscher, Patrick J. Droß, Eckhard Priller und Claudia Schmeißer haben im Frühjahr dieses Jahres einen WZBrief Zivilengagement mit dem Titel „Vereine an den Grenzen der Belastbarkeit“ veröffentlicht. Grundlage ist eine Befragung, die von Ende 2011 bis Anfang 2012 lief und an der sich 3.111 Vereine, Stiftungen, gemeinnützige GmbHs und Genossenschaften beteiligt haben. Dies entspricht mit Blick auf die Grundgesamtheit einer Rücklaufquote von 26 Prozent. Vereine beteiligten sich besonders rege. Von den 6.359 angeschriebenen Vereinen antwortete fast jeder dritte. Über die Befragung wurden erhebliche Probleme der Vereine diagnostiziert, die von den Autoren in drei zentralen Ergebnissen zusammengefasst werden:

(1) Der Wettbewerbsdruck verändert Vereine.

(2) Es fehlen Ehrenamtliche und der Nachwuchs macht sich rar.

(3) Finanzielle Probleme erschweren die Gewinnung qualifizierter Beschäftigter.

Nach dieser Studie gibt es gerade im Bereich der Nachwuchsgewinnung massive Probleme, was sich daran zeigen lässt, »dass 80 Prozent der Vereine gegenwärtig ein Problem haben, Engagierte zu finden. Das gilt besonders für Länder wie Sachsen (85 Prozent), Thüringen (83 Prozent) und Sachsen-Anhalt (82 Prozent), die zudem laut Freiwilligensurvey eine geringe En- gagementquote aufweisen. Aber auch für Vereine in Baden-Württemberg (80 Pro- zent) – ein Bundesland, das derzeit noch Spitzenwerte bei den Engagementquoten aufweist – wird das Fehlen von Engagierten bereits im hohen Maße als Problem gesehen.«

Noch einmal zurück zu den ZiviZ-Befunden: Der Bezug auf die Daten des von TNS Infratest im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführten „Freiwilligensurveys“ zeigen, dass der Anteil derjenigen, die zu einem Ehrenamt bereit wären, im Jahrzehnt von 1999 bis 2009 um die Hälfte auf 37 Prozent gestiegen war.

Die erhebliche Heterogenität der Ziele und Formen in diesem Gebilde „Zivilgesellschaft“ verbietet verallgemeinernde Schlussfolgerungen über alle Organisationen hinweg. Mit Blick auf die sozialpolitisch hoch relevanten Akteure im Bereich Gesundheit und Soziales kommen allerdings beide hier zitierten Studien zu einem Ergebnis, das sich zusammenfassen lässt mit dem Begriffspaar „Ökonomisierung/Professionalisierung“:

»In einigen Bereichen haben die Professionellen, die für ihre Arbeit bezahlt werden, inzwischen ein starkes Gewicht. So ergab die Umfrage für den Bereich Soziales und Gesundheit 4,8 Millionen ehrenamtlich Engagierte, aber 1,4 Millionen bezahlte Beschäftigte. Gerade etwa in der Pflege erwarten die Kunden eine hohe fachliche Professionalität. Das wiederum erschwere die Mitwirkung Ehrenamtlicher, räumt Krimmer ein. Dies stelle die Organisationen vor Probleme. Auffällig ist, dass bei den Sozialen Diensten nur etwa die Hälfte derer, die sich dort engagieren, auch Mitglied in der Trägerorganisation sind“, so die ZiviZ-Befunde.

Und das WZB hebt hervor:

»Mehr Wettbewerb und eine verstärkte Orientierung der Förderpraxis an Effizienz- und Leistungskriterien setzen viele Vereine erheblich unter Rationalisierungsdruck … Aus den Befragungsergebnissen geht hervor, dass knapp die Hälfte der beteiligten Vereine eine Zunahme des Wettbewerbsdrucks verzeichnet. Vor allem um öffentliche Mittel und um Kunden bzw. Klienten wird konkurriert. Unterschiede zeigen sich dabei in Hinblick auf die Tätigkeitsbereiche: Vereine in den Bereichen Gesundheit (68 Prozent), Soziales (59 Prozent) sowie Bildung (58 Prozent) sind überdurchschnittlich häufig einem erhöhten Wettbewerbsdruck ausgesetzt« (Alscher et al. 2013: 3).

Nachschub für den Niedriglohnsektor in Deutschland – und „hilfreiche Tipps“ zur gelingenden Lebensführung mit wenig Geld vom „großen Bruder“

Die angeschlagene Fluggesellschaft Air Berlin muss sparen – und lagert 220 Beschäftigte unsanft in den Niedriglohnsektor aus. Wenn die Betroffenen nicht mitziehen, wird ihre neue Firma geschlossen – das berichtet Sven Clausen in seinem Artikel „Air Berlin schiebt seine Service-Mitarbeiter ab„. Die finanziell angeschlagenen Fluglinie Air Berlin plant die Abgabe seiner Tochter „Service Center KG“ an die Bertelsmann-Tochter Arvato zum 1. Oktober 2013. In der Service-Tochter »werden Kundenanfragen beantwortet, die das Unternehmen über Telefon, Mail, Post, Website oder auch Reisebüros erreichen.« Von den 9.000 Air Berlin-Beschäftigten sind zwar „nur“ 220 in der Tochter-Gesellschaft beschäftigt, die hat aber – eigentlich – eine große Bedeutung: »Da über sie der komplette Kundenkontakt läuft, sind sie allerdings für den Vertriebserfolg der Airline zentral. Noch im aktuellen Geschäftsbericht weist der Konzern auf Seite 31 auf die Bedeutung eines „möglichst intensiven (…) Kundenkontakts“ hin.«

Was schert mich das Geschwätz von gestern, so das Motto des neuen Vorstandsvorsitzenden Wolfgang Prock-Schauer, der bis Ende des kommenden Jahres 400 Mio. Euro Kosten einsparen will. Um das zu erreichen, hat er ein radikales Sparprogramm aufgelegt, mit der bezeichnenden Betitelung „Turbine“.

Den jetzt betroffenen Mitarbeitern wird schon mal klar gemacht, wohin die Reise geht: »Bertelsmann-Arvato werde Arbeitsverträge anbieten, die lediglich „für weitere sechs Monate eine Vergütung auf Air-Berlin-Niveau“ vorsähen,« so wird ein Vorstandsmitglied in dem Artikel zitiert. Und damit die Arbeitnehmer nicht auf irgendwelche dumme Gedanken kommen, sondern ein Einsehen haben, dass sie „wählen“ dürfen zwischen Pest und Cholera, konkret: zwischen deutlich niedrigeren Löhnen oder der Arbeitslosigkeit, wird ihnen mitgeteilt: »Zwölf Monate habe man Zeit, zwischen diesem Angebot und einer Abfindung zu wählen, „die noch festzusetzen ist“. Wenn sich nach zwölf Monaten nicht mindestens 98 Prozent der Mitarbeiter für eine der Varianten entschieden haben wird Bertelsmann-Arvato – wie vereinbart – „den Betrieb mangels Wirtschaftlichkeit schließen“«, so der Air Berlin-Vorstand.

Da trifft es sich gut, dass man den neuen Niedriglöhnern vielleicht ganz lebenspraktisch unter die Arme greifen kann: Nina Dinkelmeyer berichtet davon in ihrem Artikel „McDonald’s gibt seinen Geringverdienern Spartipps„: »Lieber Filme ausleihen als ins Kino gehen und nicht am Geldautomaten fremder Banken abheben: Der Burger-Konzern rechnet Mitarbeitern auf einer Webseite vor, wie man mit einem Niedriglohn leben kann.« Diese Webseite stellt der Fastfood-Riese in Kooperation mit Visa und Wealth Watchers International für seine englisch und spanisch sprechenden Mitarbeiter bereit. Und warum macht McDonald’s das?  „Euch dabei zu unterstützen, finanziell erfolgreich zu sein, ist eine der vielen Arten, auf die McDonald’s ein zufriedenstellendes und sich lohnendes Arbeitsumfeld schafft.“ Das hat was – man zahlt den eigenen Mitarbeitern so wenig, dass sie oftmals ohne Zweitjob gar nicht überleben können, dann stellt man ihnen Überlebenstipps bei wenig Einkommen zur Verfügung und dann sollen die Betroffenen auch noch glücklich sein, bei einem solchen Arbeitgeber arbeiten zu dürfen.

Die McDonald’s Beschäftigten können auf dieser „ihrer“ Webseite einen Vordruck herunterladen, mit dem sie dann ihre Einnahmen und Ausgaben protokollieren sollen. Man kann aber wirklich nicht sagen, dass McDonald’s in den USA die Wirklichkeit ihrer Niedriglöhner in Abrede zu stellen versucht:
»In den Vordruck haben die Unternehmen praktischerweise aber auch schon einmal eingetragen, wie so ein ausgefülltes Tagebuch dann aussehen kann. Hier rechnen die Macher des Journals nicht mit einem Gehalt, das ausreichend ist, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten – sondern gleich mit zweien. Die Beispielperson verdient so einmal 1105 Dollar und einmal 955 Dollar netto.« Irgendwie konsequent.

Aber die wirkliche Wirklichkeit zeigt sich dann wieder, wenn man diese Spielerei links liegen lässt: »In den vergangenen Monaten gingen Arbeitnehmer in der Fast-Food-Branche immer wieder überall in den USA für höhere Löhne auf die Straße. Laut Behördenangaben verdienen Fast-Food-Köche in den Vereinigten Staaten im Durchschnitt 9,03 Dollar in der Stunde. In April demonstrierten Angestellte von McDonald’s, Dunkin‘ Donuts und Subway in Chicago für einen Stundenlohn von 15 Dollar.«

Die in dieser Branche Beschäftigten haben gute Gründe, auf die Straße zu gehen.

Und auch bei uns tobt der Kampf in der Burger-Branche um geringere Kosten. Derzeit besonders krass bei einem Teil der Burger King-Filialen, von denen fast einhundert von der Yi-Ko Holding GmbH übernommen worden sind und wo jetzt äußerst rabiat gegen Betriebsräte und Arbeitnehmer, die ihre Rechte einfordern, vorgegangen wird (dazu meine Beiträge auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ vom 24.05.2013 sowie vom 22.06.2013). Zu diesem Thema gab es im Wirtschaftsmagazin „markt“ (WDR-Fernsehen) einen aktuellen Beitrag: „Ärger bei Burger King?
Seltsame Methoden beim Versuch einen Betriebsrat zu kündigen„.

Riester(-Rente) auf der Flucht?

Ende des Riester-Booms„, so die Süddeutsche Zeitung. Oder „Riester-Rente droht zu scheitern„, so die Berliner Zeitung. Keine schönen Schlagzeilen für den finanzindustriellen Komplex. Die private Altersvorsorge in Gestalt der mit erheblichen staatlichen Mitteln geförderten „Riester-Rente“ ist schon seit längerem unter Beschuss.

Bereits Ende 2011 meldete sich – um nur ein Beispiel von vielen zu zitieren – das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin zu Wort: DIW fordert grundlegende Reform der Riester-Rente: „Rendite oft so schlecht wie beim Sparstrumpf“. In einem ausführlichen Wochenbericht des DIW wurde das Thema behandelt: Riester-Rente: Grundlegende Reform dringend geboten, so der Titel der Publikation, an der u.a. Axel Kleinlein mitgearbeitet hat. Ein Befund damals: Riester-Sparer erzielen in vielen Fällen nur so viel Rendite, als hätten sie ihr Kapital im Sparstrumpf gesammelt. Und viele 2011 vereinbarte Riesterverträge, so berechneten die Forscher, führen zu einer schlechteren Rendite als noch 2001 geschlossene Verträge. Anschaulich illustriert Kornelia Hagen, die DIW-Expertin für Verbraucherpolitik, die Problematik: „Eine 35-jährige Frau, die heute einen Riestervertrag abschließt, muss – wird die Rendite auf die garantierte Rentenleistung und Überschüsse bezogen – mindestens 77 Jahre werden, um allein das herauszubekommen, was sie selbst eingezahlt und was sie an Zulagen vom Staat erhalten hat. Möchte diese Frau auch einen Inflationsausgleich und höhere Zinsen erwirtschaften, müsste sie sogar ihren 109. Geburtstag erleben“. Hört sich nach einem schlechten Geschäft an.

Zu einer vergleichbar schlechten Bewertung kam zum gleichen Zeitpunkt Carsten Schröder in der Expertise „Riester-Rente: Verbreitung, Mobilisierungseffekte und Renditen“ für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Lesenswert ebenfalls die Studie von Axel Kleinlein „Zehn Jahre „Riester-Rente“. Bestandsaufnahme und Effizienzanalyse„, die ebenfalls von der Friedrich-Ebert-Stiftung Ende 2011 veröffentlicht wurde. Wer es lieber bildlich hat, dem sei die Anfang 2012 ausgestrahlte ARD-Dokumentation über die „Riester-Lüge“ empfohlen.

Aber zurück in die Gegenwart. Thomas Öchsner berichtet in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Artikel: »Im ersten Quartal 2013 gab es weniger statt mehr staatlich geförderte Riester-Verträge. Die Zahlen gab das Ministerium aber diesmal nicht – wie zuvor die älteren Riester-Bilanzen per Pressemitteilung – bekannt, sondern stellte sie bislang von der breiten Öffentlichkeit unbemerkt auf die eigene Homepage”. Was ist das Neue?

Erstmals seit Einführung der Riester-Rente im Jahr 2002 ist die Anzahl der bestehenden Verträge zurückgegangen, um insgesamt 27.000 auf 15,652 Millionen. Das Arbeitsministerium sieht „eine gewisse Marktsättigung“.

»Es könnte aber auch eine zunehmende Skepsis der Verbraucher geben, was eine andere, neue Zahl des Hauses von der Leyen zeigt: Mittlerweile ist danach geschätzt fast jeder fünfte (19,5 Prozent) der knapp 15,7 Millionen Verträge ruhend gestellt, es werden also keine Beiträge einbezahlt – und damit auch keine staatlichen Zulagen mehr in Höhe von jährlich 154 Euro (plus bis zu 300 Euro je Kind) bezogen. Ende 2011 hatte dies laut Bundesfinanzministerium nur auf 15 Prozent der Verträge zugetroffen«, so Öchsner in seinem Beitrag.

Sicher ist: Bereits 2012 schrumpfte der Absatz von Riester-Verträgen um 36 Prozent. Das ist natürlich schlecht aus Sicht der Finanzindustrie. Die vor diesem Hintergrund natürlich sofort „Reformen“ anmahnt, um das Geschäft wieder anzukurbeln: Die Politik solle die Zulagen dynamisieren und den steuerlich geförderten Höchstbetrag von 2100 Euro wie in der betrieblichen Altersversorgung auf vier Prozent der Beitragsbemessungsgrenze festsetzen, so eine der Forderungen. Die Versicherungslobbyisten vom GDV machen sich dafür stark, die Grundzulage von 154 Euro zu erhöhen. „Das wäre ein starkes Signal pro Riester-Rente“, hofft die Sprecherin des Verbandes. Ein teures Signal vor allem für den Steuerzahler, denn der muss das bezahlen und soll die Verkaufsmaschine der Finanzindustrie noch weiter schmieren als bislang schon. Eine noch weitgehend „unerschlossene“ Zielgruppe bietet sich hier an: »Von den gut 4,2 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit einem Bruttolohn von weniger als 1500 Euro haben 1,8 Millionen weder eine betriebliche Altersversorgung noch einen Riester-Vertrag«, so Öchsner. Da wäre doch noch was zu holen. Und wieder einmal wird ein Hemmnis für die Geringverdiener aufgeführt, das seit Jahren immer wieder als Problem beschworen wird: Ist ein früherer Geringverdiener mit einer gesetzlichen Minirente auf die staatliche Grundsicherung im Alter angewiesen, werden Auszahlungen aus einer Riester-Rente angerechnet. In solchen Fällen wurde quasi vergebens gespart. Und Öchsner zitiert die Bundesarbeitsministerin, die das ändern wolle. An dieser Stelle darf man dann mal fragen – warum habt ihr das dann nicht schon längst gemacht? Dieses Problem war schon am Anfang der nun auslaufenden Legislaturperiode bekannt und benannt, man hatte im Hause von der Leyen als vier Jahre Zeit, das zu ändern. Passiert ist nichts.

Timot Szent-Ivanyi berichtet in seinem Artikel „Riester-Rente droht zu scheitern“ in der Berliner Zeitung, wie einer der maßgeblichen Akteure, die den Teil-Systemwechsel in der Rentenversicherung Anfang der 2000er Jahre mit durchgesetzt haben, heute das Thema sieht: „Es war ein Fehler, dass bei der Rentenreform 2001 die Privatvorsorge nicht obligatorisch eingeführt wurde“, so wird Bert Rürup zitiert. Na klar, dass wäre dann die Idealform für die Versicherungswirtschaft, ein Abschlusszwang über die gesamte Bevölkerung hinweg. Aber auch Rürup weiß, dass sich die Menschen heute nicht mehr derart ausnehmen lassen würden: „Eine verpflichtende Riester-Rente ist heute politisch nicht mehr durchsetzbar“, so wird er in dem Artikel zitiert. Und das ist auch gut so, wenn man gleichzeitig die erhebliche Unwucht zuungunsten der Gesetzlichen Rentenversicherung, vor allem mit Blick auf das Rentenniveau, wieder korrigieren würde im Sinne einer Stärkung der umlagefinanzierten Rentenversicherung.

Aber Rürup wäre nicht Rürup, wenn er nicht trotzdem versuchen würde, eine Bresche für die Finanzindustrie zu schlagen, auch wenn er davon ausgeht, dass eine obligatorische Verpflichtung aller Bürger nicht durchsetzbar ist. Dann bleibt ja noch die große Gruppe der Arbeitnehmer, die sind ja schon an Zwangsversicherungen gewöhnt: „Denkbar ist aber – wenn die Tarifvertragsparteien mitspielen – jeden Arbeitnehmer entweder zum Abschluss einer Betriebsrente oder einer Privatrente zu verpflichten“, schlug Rürup vor. Und „natürlich“ plädiert auch Rürup dafür, den Höchstbetrag des geförderten Riestersparens anzupassen. Er liegt seit 2002 unverändert bei 2.100 Euro pro Jahr. Also mehr Fördermittel vom Staat.

Auch wenn man gerade vor dem Hintergrund der erkennbaren Trendwende beim Riester-Geschäft darauf hoffen kann, dass immer mehr Bürger erkennen, wer hier vor allem profitiert und dementsprechend mit den Füßen abstimmen, so bleibt dennoch die durch die damalige rot-grüne „Rentenreform“ aufgerissene Sicherungslücke im System der Gesetzlichen Rentenversicherung. Und die sollte wieder geschlossen werden. Berechnungen können zeigen, dass das im bestehenden System der Gesetzlichen Rentenversicherung sogar günstiger zu haben wäre als der Umweg über die geförderte private Altersvorsorge – für die Arbeitnehmer. Natürlich nicht für den finanzindustriellen Komplex. Der würde gerne weiter die Milliarden-Förderbeträge des Staates abgreifen. Kann man verstehen, muss man aber nicht auch noch unterstützen.

Alle wollen ihn. Also jedenfalls die meisten. Sogar die von der anderen Seite. Bis auf den Mainstream der deutschen Volkswirtschaftslehre

Na klar, vom Mindestlohn ist hier die Rede. Dieses umstrittene Ding mit dem Potenzial zum Wahlkampfthema, was die Bundeskanzlerin natürlich schon lange erkannt hat, weswegen sie ja auch für den Mindestlohn ist, genauer: für ganz viele Mindestlöhne, denn sie kann sich – natürlich erst nach der Wahl – ein „System“ von ganz vielen regional und branchenbezogen differenzierten Lohnuntergrenzen vorstellen als Alternative zu dem immer wieder genannten allgemeinen und einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro, wie ihn beispielsweise die Gewerkschaften oder die SPD oder die Grünen fordern. Nur die Linke ist mal wieder ausgeschert und will einen über 10 Euro. War ja klar. Das können die Oppositionsparteien und die Gewerkschaften noch einfach ignorieren.

Aber dass sie jetzt sogar von der anderen Seite fast schon überholt werden bei diesem Thema, das wird weh tun. Die Online-Ausgabe des Handelsblatts vermeldet: „Manager plädieren für Mindestlohn„. Berichtet wurde über ein – manchen sicher überraschendes – Ergebnis des Handelsblatt Business-Monitors, einer repräsentativen Umfrage des Handelsblatts, für die das Meinungsforschungsinstitut Forsa regelmäßig rund 700 Führungskräfte deutscher Unternehmen befragt.


Der wichtigste Befund:

»In der Umfrage sprechen sich 57 Prozent der Firmenlenker für einen gesetzlichen Mindestlohn aus. Mit 60 Prozent war die Zustimmung aus mittelgroßen Unternehmen mit zwischen 500 und 5000 Beschäftigten am höchsten. In der Dienstleistungsbranche plädieren sogar 61 Prozent der Manager für einen Mindestlohn aus. Die Befürworter halten im Durchschnitt einen Mindestlohn von 8,88 Euro je Stunde für angemessen.«

Aber wird nicht immer vor den schrecklichen Arbeitsmarktkonsequenzen eines Mindestlohns gewarnt, also dass die Wirtschaft dann ganz viele Arbeitsplätze einfach abbauen wird? Eine Argumentation, die besonders wichtig ist in der Bedenkenträgerei inmitten des Mainstreams der deutschen Volkswirte, über die noch zu sprechen sein wird.

Offensichtlich sehen die Manager das wesentlich entspannter: »Nur sieben Prozent der Befragten sagen für den Fall einer Einführung einen Abbau von Arbeitsplätzen im eigenen Unternehmen voraus.« Dass die nicht ganz naiv geantwortet haben und dass es natürlich einen gewissen Zusammenhang gibt zwischen Lohnhöhe und Beschäftigung verdeutlicht dann auch der Hinweis, dass es erhebliche regionale Unterschiede bei dieser Einschätzung gibt: »Je zwölf Prozent der nord- und ostdeutschen Firmen erwarten einen Stellenabbau wegen des Mindestlohns, aber nur sechs Prozent der Manager aus der Mitte und fünf Prozent aus dem Süden des Landes.«

Alles in allem zeigt die Mehrheit der Manager ganz offensichtlich ein Bewusstsein über ökonomische Zusammenhänge, das so manchen hauptberuflichen Ökonomen eher abzugehen scheint. Denn die meisten Unternehmenslenker wissen, dass man nicht deswegen die Arbeit einstellen wird, weil jetzt ein Teil der Beschäftigten, die bislang 6 oder 7 Euro in der Stunde bekommen haben nunmehr in den Genuss von 8,88 Euro kommen. Das Niveau insgesamt wird angehoben und wenn jemand deswegen über die Wupper geht, dann handelt es sich um Unternehmen, deren Ausscheiden aus dem Markt durchaus auch positive Aspekte haben kann, denn sie existieren häufig nur durch eine brachiale Lohndumping-Strategie, die wiederum die „guten“ Anbieter trifft. Dies scheint auch der – verständliche – Hintergrund der besonders hohen Zustimmung zu einem Mindestlohn in der Dienstleistungsbranche zu sein, denn gerade hier bekommt jeder halbwegs aufrechte Manager tagtäglich zu spüren, zu welchen Exzessen der Markt in der Lage ist, wenn es keine funktionsfähigen Lohnuntergrenzen gibt. Man schaue sich nur die Rutschbahn nach unten an, auf der sich viele Unternehmen des Einzelhandels befinden, seit im Jahr 2000 die Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags aufgehoben worden ist.

Letztendlich ordnen sich die Befragungsergebnisse der Manager ein in die allgemeine Bewertung der Forderung nach einem Mindestlohn, wie man sie in der Bevölkerung vorfinden kann – glaubt man beispielsweise den Befunden einer aktuellen Umfrage von Anfang Juni 2013: „Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Eine Studie von infratest dimap im Auftrag des DGB„. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Umfrage lauten:


Die große Mehrheit der Deutschen (86 Prozent) spricht sich im Juni 2013 für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes aus. Etwa jeder zehnte Deutsche (12 Prozent) lehnt die Einführung eines Mindestlohnes ab.

Bei den Anhängern der SPD (94 Prozent), der Grünen (93 Prozent) und der Linken (89 Prozent) fallen die Zustimmungsraten überdurchschnittlich hoch aus. Die Zustimmung bei den Union-Anhängern liegt mit 79 Prozent unter dem Durchschnitt, bewegt sich aber ebenfalls auf sehr hohem Niveau.

m Vergleich zum Jahr 2006 hat die Zustimmung zu Mindestlöhnen bei der Gesamtbevölkerung erheblich zugenommen (Februar 2006: 57 Prozent, Juni 2013: 86 Prozent), bei Anhängern von SPD, Grünen und Union gleichermaßen stark (jeweils rund 30 Prozentpunkte).

Damit hat sich eine Einschätzung in der Bevölkerung verfestigt, die nun kein neues Phänomen am aktuellen Rand ist, denn schon vor Jahren wurde auf der Basis von Umfragen eine Zustimmung zu Einführung eines Mindestlohns ermittelt. So beispielsweise im Jahr 2008 – da hatten wir noch eine große Koalition -, als Spiegel Online unter der Überschrift „Mehrheit der Deutschen will den Mindestlohn“ berichtete: »Das Votum ist eindeutig: In einer Befragung für den „Stern“ sprachen sich 71 Prozent der Bürger für die Einführung eines Mindestlohns aus, wie das Hamburger Magazin berichtet. Nur 25 Prozent seien dagegen. Bei den Unionswählern wünschten sich 59 Prozent eine gesetzliche Lohn-Untergrenze … Geteilter Ansicht waren die Befürworter in der Umfrage, ob es einen generellen Mindestlohn für alle geben soll – dafür sprachen sich 49 Prozent aus – oder ob jede Berufsgruppe den Mindestlohn nach ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten festsetzt, was 50 Prozent der Befragten vorziehen.«

Getan hat sich seitdem hinsichtlich eines allgemeinen Mindestlohns nichts, zumindest aber wurden einige Branchen-Mindestlöhne eingeführt. Übrigens wurden diese Branchen-Mindestlöhne zwischenzeitlich evaluiert – auch hinsichtlich der immer wieder postulierten negativen Beschäftigungseffekte, die sich aber nicht nachweisen ließen. Wer sich für die Evaluationsergebnisse der Mindestlöhne in den Branchen Maler- und Lackiererhandwerk, Dachdeckerhandwerk, Abfallwirtschaft, Elektrohandwerk, Bauhauptgewerbe, Pflegebranche, Wäschereidienstleistungen, Gebäudereinigung interessiert, der kann die Abschlussberichtedazu auf der Webseite des Bundesarbeitsministeriums abrufen.


Bleiben noch die Bedenkenträger innerhalb weiter Teile der deutschen Volkswirtschaftslehre, die partout den Teufel an die Wand malen, wenn es um die Forderung nach Mindestlöhnen geht. Einer der Vorreiter hinsichtlich der Schreckensszenarien ist Hans-Werner Sinn – und das war er schon Jahren. So wird er beispielsweise in dem Artikel auf Spiegel Online aus dem Jahr 2008 folgendermaßen zitiert:

»Nach Ansicht des Ifo-Präsidenten Hans-Werner Sinn wird die allgemeine Einführung eines Mindestlohnes zu vielen zusätzlichen Arbeitslosen führen. „Wir schätzen, dass etwa 1,9 Millionen Arbeitsplätze verloren gingen, wenn tatsächlich für alle Branchen 9 Euro im Osten und 9,80 im Westen als Mindestlohn fixiert würden“, sagte Sinn … Sinn plädierte für eine Politik der Sicherung von Mindesteinkommen«.

Professor Sinn schafft es hervorragend, in einen Absatz eine scheinbar „wissenschaftlich“ fundierte Prognose über die dramatischen Auswirkungen eines Mindestlohns auf die Beschäftigung mit einer handfesten politischen Gegenforderung zu verbinden, die es in sich hat und die nur auf den ersten Blick „harmlos“ daherkommt: Er fordert eine „Sicherung von Mindesteinkommen“. Es geht hier – in anderen Worten – um das System der Aufstockung niedriger Löhne durch Steuermittel, also das, was wir bereits haben mit Hartz IV, was er aber gerne noch ausbauen würde:

»Sinn sprach sich für eine negative Einkommenssteuer aus. „Damit würden Geringqualifizierte auf Dauer ein zweites – staatliches – Einkommen erhalten, das das selbst verdiente Einkommen ergänzt.“« Das wäre dann der Traum für Arbeitgeber, die auf Dauer Niedrigstlöhne zahlen möchten auf Kosten der Steuerzahler.

Die ablehnende Position gegenüber einem Mindestlohn hat sich seit Jahren bei den vorherrschenden Epigonen der deutschen Volkswirtschaftslehre um keinen Zentimeter bewegt. So kann man auch in dem aktuellen Frühjahrsgutachten 2013 einer Gruppe von Wirtschaftsforschungsinstituten den folgenden Passus finden: »So wird gegenwärtig die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns vorgeschlagen. In der politischen Diskussion über diesen Vorschlag sollten die Zielkonflikte zwischen Allokationseffizienz und Verteilungszielen klar angesprochen werden. So dürfte die gegenwärtig geforderte Einführung eines Mindestlohns in der Höhe von 8,50 Euro erhebliche negative Beschäftigungseffekte haben« (Frühjahrsgutachten 2013: 53). Man muss allerdings klar herausstellen, dass diese Fraktion der deutschen Volkswirte mit ihrer rigiden Ablehnung von Mindestlöhnen per se im internationalen Vergleich sehr isoliert dastehen. Selbst in den angelsächsischen Ländern vertritt die Mehrheit der Ökonomen eine mindestlohnfreundliche Position.

Umfragen hin, Umfragen her – die mögliche Lösung der Mindestlohnfrage wird nun warten müssen bis nach der Bundestagswahl. Und dann wird man erst einmal abwarten müssen, ob nicht am Ende ein zersplittertes System regional differenzierter Branchen-Lohnuntergenzen herauskommt, wie es Teilen der Union offensichtlich vorschwebt. Aber auf alle Fälle – irgendwie Mindestlohn wollen doch mittlerweile fast alle, bis auf die „Top-Ökonomen“ der deutschen VWL, aber die finden ja sonst auch nicht wirklich Gehör.