Häusliche Pflege in Corona-Zeiten: Die Nicht-Aufmerksamkeit für die „unsichtbaren“ Pflegenden

In der derzeit ablaufenden zweiten Corona-Welle stehen wieder einmal die Krankenhäuser und darunter die Intensivstationen im Mittelpunkt der aufgeregten Berichterstattung – Intensivstationen: Sorge vor der Belastungsgrenze oder Mehr Intensivpatienten: Kliniken treten auf die Bremse oder Immer mehr Covid-Patienten müssen ins Krankenhaus, die Aufzählung solcher Berichte ließe sich endlos fortsetzen. Und immer wieder wird ein zentrales Merkmal erkennbar: Der Mangel an Pflegepersonal mit der notwendigen fachlichen Expertise auf den Intensivstationen ist das Problem. Nicht fehlende Betten oder Beatmungsgeräte, sondern Menschen. Und eben nicht irgendwelche Menschen, sondern die müssen gerade hier, am Ende der Corona-Kette, auch noch passungsfähig sein zu einem Teilbereich der Medizin und der Pflege, wo es in den vergangenen Jahren enorme technische und prozessuale Fortschritte gegeben hat, dem viele Menschen ihr Überleben verdanken. Nicht ohne Grund braucht man in der Intensivpflege eine zweijährige Fachweiterbildung.

So wichtig es ist, über die offensichtlichen Engpassfaktoren in der Intensivmedizin zu diskutieren und auch darüber, was man hätte machen müssen bzw. können seit der ersten Welle – man darf nicht die großen anderen Bereiche, in den die pflegerische Versorgung von Millionen Menschen sichergestellt werden muss, aus den Augen verlieren. Dabei muss man zur Kenntnis nehmen, dass in der Langzeitpflege wenn, dann vor allem über die Pflegeheime berichtet wird (unter den medialen Rahmenbedingungen einer Aufmerksamkeitsökonomie vor allem – erneut – bei Corona-Fällen unter den Bewohnern und den Pflegekräften in einzelnen Heimen). Die Situation der ambulanten Pflegedienste ist auch derzeit, wie im Frühjahr, kaum bis gar nicht auf dem Schirm der Berichterstattung. Und wie sieht es dort aus, wo die meisten Pflegebedürftigen, weit mehr als 70 Prozent, versorgt und gepflegt werden? Also in der häuslichen Pflege? Und wie geht es den vielen pflegenden Angehörigen, ohne die innerhalb von Minuten das deutsche Pflegesystem zusammenbrechen würde?

Dazu muss man nur wissen: Der überwiegende Anteil pflegerischer und sozialer Unterstützung für pflegebedürftige Menschen findet in Deutschland innerhalb der häuslichen Umgebung statt. 3,34 Mio. der zum 31.12.2019 gemeldeten 4,25 Mio. pflegebedürftigen Menschen in Deutschland wurden dabei in einem häuslichen Setting versorgt. Das entspricht einem Anteil von 79 % aller Pflegebedürftigen.

Bereits im Sommer dieses Jahres wurde berichtet: »Seit Beginn der Corona-Pandemie hat sich die Situation von älteren Menschen, die zuhause betreut werden, deutlich verschlechtert. Eine bundesweite Online-Befragung von 330 pflegenden Angehörigen durch die Johannes-Gutenberg-Universität Mainz ergab: Fast drei Viertel von ihnen haben eine Zunahme von Einsamkeit oder depressiven Verstimmungen bei den Pflegebedürftigen wahrgenommen.« Hingewiesen wurde auf die negativen Auswirkungen der verhängten Kontaktbeschränkungen: »85 Prozent der Befragten an, dass Besuche von Verwandten, Bekannten oder Freunden aufgrund der Pandemie eingeschränkt wurden.« Bei der Studie, dem diese Ergebnisse entnommen wurde, handelt es sich um diese Arbeit:

➔ Vincent Horn und Cornelia Schweppe (2020): Häusliche Altenpflege in Zeiten von Corona. Erste Studienergebnisse, Mainz, Juli 2020

„Auch die pflegenden Angehörigen haben fast zur Hälfte den Kontakt zu der pflegebedürftigen Person eingeschränkt. Unsere Ergebnisse machen deutlich, dass die ohnehin prekäre häusliche Altenpflege unter Covid-19 weitere Zuspitzungen erfährt“, so Cornelia Schweppe. Die besondere vulnerable Bevölkerungsgruppe werde ebenso wie ihre pflegenden Angehörigen „höchst vernachlässigt“. So habe mehr als die Hälfte der befragten Angehörigen angegeben, dass die Pflege belastender sei als vor Beginn der Pandemie. 38 Prozent gaben an, sich in der derzeitigen Pflegesituation überfordert zu fühlen.

»Pflegende Angehörige leiden überdurchschnittlich stark unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie: Mehr als jeder zweite sagt, dass sich sein Gesundheitszustand im Vergleich zu vorher verschlechtert hat. 57 Prozent geben an, dass die Belastung durch die Pflege deutlich gestiegen ist. Ein Drittel bewertet die eigene Lebensqualität als schlecht oder sehr schlecht, vor der Corona-Pandemie waren es nur sieben Prozent – der Wert hat sich also mehr als vervierfacht.« Das berichtet die Krankenkasse DAK-Gesundheit, die eine Studie in Auftrag gegeben hat beim Bremer Gesundheitsökonomen Heinz Rothgang. Deren Ergebnisse wurde nun in einem „Schnellbericht“ veröffentlicht:

➔ Heinz Rothgang et al. (2020): Zur Situation der häuslichen Pflege in Deutschland während der Corona-Pandemie. Ergebnisse einer Online-Befragung von informellen Pflegepersonen im erwerbsfähigen Alter. Schnellbericht, Bremen: SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik und Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) der Universität Bremen in Kooperation mit der DAK Gesundheit und dem Verein wir pflegen e. V., September 2020

Nur wenige wenige leider nicht überraschende Befunde: »Schon vor der Corona-Pandemie waren Menschen, die sich um pflegebedürftige An- und Zugehörige kümmern, überdurchschnittlich häufig krank. Elf Prozent der Befragten geben an, dass sich ihr Gesundheitszustand während der Corona-Pandemie noch erheblich verschlechtert hat. Bei 41 Prozent hat er sich etwas verschlechtert. Nur ein Prozent sagt, dass sich die Gesundheit gebessert hat. Die Belastung durch die Pflege ist ebenfalls gestiegen: Für 57 Prozent der Befragten ist sie zeitlich aufwändiger geworden. Dies erklärt sich vor allem damit, dass professionelle Hilfe durch Pflegedienste weggefallen ist. Auffällig ist auch die Bewertung der eigenen Lebensqualität: Ein Drittel nennt diese schlecht oder sehr schlecht. Für die Zeit vor der Pandemie sagen dies nur sieben Prozent.«

DAK-Vorstandschef Andreas Storm bringt es so auf den Punkt: »„Die Situation pflegender Angehöriger war schon vorher schlecht. Mit der Corona-Krise ist die Belastungsgrenze endgültig überschritten.«

»Die Vereinsamung pflegender Angehöriger ist durch die Maßnahmen sozialer Distanz während der Pandemie noch verstärkt worden: Gut jeder zweite Befragte ist einsam. Vor der Corona-Krise war es ein Drittel. Auch bei der wahrgenommenen Wertschätzung ist eine Verschlechterung erkennbar. Weniger als vor der Pandemie haben das Gefühl, Wertschätzung zu bekommen.« Heinz Rothgang wird mit diesen Worten zitiert: „Pflegende Angehörige sind eine der größten Stützen unserer Gesellschaft. Doch sie bleiben unsichtbar: Auch in der Corona-Krise bekommen sie weder zusätzliches Geld noch Applaus. Diese geringe Anerkennung ihrer Arbeit macht die Situation Pflegender noch schwerer. Umso wichtiger ist es, ihre Leistung anzuerkennen und sie mit geeigneten Maßnahmen zu unterstützen.“

Und was wären das für „geeignete Maßnahmen“? Angesichts der Größe und der enormen Heterogenität dieses so wichtigen Pflegebereichs würde man annehmen, dass das ein sehr komplexes und aus zahlreichen Komponenten bestehendes Unterfangen ist. Dass man an vielen Stellschrauben drehen muss und vor allem, dass es jemanden gibt, der irgendwie den Hut aufhat und das alles koordiniert und die notwendigen Hilfen überhaupt erreichbar und zugänglich macht. Der eine oder andere könnte auf die Idee kommen, dass solche Herausforderungen und wirkliche substanzielle Verbesserungen auf eine seit langem geforderte konsequente oder wenigstens steuerungstechnische Kommunalisierung hinauslaufen, denn nur vor Ort kann man das gestalten und die realen Lebenslagen der Betroffenen, also der Pflegebedürftigen und der pflegenden Angehörigen, verbessern. Aber bekanntlich sind wir sehr weit weg von einem solchen Kommunalisierungsszenario und in den meisten Kommunen gibt es nicht annähernd weder die Ressourcen noch auch die fachlichen Kompetenzen, um so agieren zu können.

Insofern kann es nicht verwundern, dass auch die DAK-Gesundheit und die von ihr beauftragten Gutachter im Gefüge des Bestehenden bleiben und die zwischenzeitlich angekündigten „Reformvorschläge“ aus dem Bundesgesundheitsministerium unterstüzen. Dazu DAK-Vorstandschef Andreas Storm: „Wir müssen jetzt handeln und Pflegende unterstützen. Sie brauchen kurzfristig mehr Flexibilität in der Pflege und im Beruf, da die Pandemie noch anhalten wird. Ich begrüße daher die Pläne des Bundesgesundheitsministers, die ein erster Schritt zur Entlastung pflegender Angehöriger sind.“

➔ Die von Storm angesprochenen Reformpläne aus dem Bundesgesundheitsministerium sehen vor, Verhinderungs- und Kurzzeitpflege zusammenzulegen und aus einem Budget-Topf zu zahlen. So soll die häusliche Pflege flexibilisiert werden. Zudem sollen die ambulanten Pflegeleistungen regelmäßig erhöht werden. Dazu findet man beim Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, unter der Überschrift Mehr Flexibilität und Unterstützung für die häusliche Pflege die folgenden Hinweise: »Pflegebedürftige und ihre Angehörigen stehen nicht nur in einer Pandemie immer wieder vor der Herausforderung, von einem auf den anderen Tag die häusliche Pflege anders organisieren zu müssen, z. B. weil der Pflegebedarf sich ändert. Dazu ist ein hohes Maß an Flexibilität bei den ambulanten Pflegeleistungen notwendig. Für die aktuellen, pandemiebedingten Versorgungsprobleme wurde diese Flexibilität punktuell und befristet geschaffen. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen benötigen sie jedoch deutlich umfassender und dauerhaft. In meinem Konzeptpapier zum Entlastungsbudget 2.0 habe ich deshalb einen praktikablen Vorschlag zur Neujustierung der ambulanten Pflegeleistungen vorgelegt. Nahezu alle Leistungen bei häuslicher Pflege sollten demnach in zwei flexibel abrufbaren Budgets, dem Pflege- und Entlastungsbudget, zusammengefasst werden. Zusammen mit einer vertrauensvollen, unabhängigen Beratung vor Ort durch den „Pflege Ko-Piloten“ werden individuelle und passgenaue Pflegesettings endlich möglich.« Zumindest das „Entlastungsbudget 2.0“ soll also wohl kommen. Ob die vom Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung der Kommunalisierungsdiskussion entgegenkommende Forderung nach sogenannten „Pflege Ko-Piloten“ jemals das Licht der Welt außerhalb von insularen Modellprojekten, die nach zwei Jahren wieder auslaufen, erblicken werden, sei hier mal aufgrund der bisherigen Erfahrungen der vielen letzten Jahre eher als frommer Wunsch einsortiert. Aber man lässt sich ja gerne überraschen und widerlegen bei solchen Einschätzungen.

Auch die Studienergebnisse aus der Online-Befragung von pflegenden Angehörigen im erwerbsfähigen Alter scheinen die Fokussierung auf die tagesaktuellen Schritte zu stützen:

»Die Befragten nennen verschiedene Instrumente, die bei der Bewältigung des Pflegealltags „sehr hilfreich“ wären. Dazu zählen freiere Verfügbarkeit von Geldleistungen wie den Entlastungsbetrag (73 Prozent) oder das Budget für Tages- und Kurzzeitpflege (64 Prozent). Andere Instrumente beziehen sich auf mehr Flexibilität im Job: zum Beispiel durch Freistellungszeiten mit Lohnfortzahlung (77 Prozent), flexible Arbeitszeiten (62 Prozent) oder die Möglichkeit zum Homeoffice (54 Prozent). Jeder Zweite nennt die Ausweitung von Corona-Tests sehr hilfreich, zwei von drei Befragten wünschen sich die Versorgung mit Schutzmaterialien vor dem Coronavirus.«

Man muss solche Zahlen immer einbetten in andere Aussagen der Befragten. Da liest man die Forderung an die Arbeitgeber nach „mehr Flexibilität im Job“. Die Studie von Rothgang et al. zeigt: »Die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ist unter Corona-Bedingungen noch schwerer geworden. Fast drei Viertel (71 Prozent) der Befragten sagen, dass sie damit mehr Probleme als vor der Pandemie haben. Nur drei Prozent haben weniger Probleme, Berufs- und Pflegealltag zu vereinen. Für ein Viertel hat sich nichts verändert.« Aber zugleich wird auch auf das hier hingewiesen: »Knapp zwei Drittel der Befragten sind allerdings „sehr“ oder „eher“ zufrieden damit, wie ihr Arbeitgeber mit der Corona-Pandemie umgeht.«