Eine Studie soll ergeben haben: Deutschland ist „Spitzenreiter bei den Sozialausgaben“. Wieder einmal muss man genauer hinschauen

Genau solche Schlagzeilen wollte man bekommen: Deutschland ist Spitzenreiter bei Sozialausgaben, so ist eine Meldung beim Deutschlandfunk überschrieben. Und die Überschrift wird ergänzt: »Deutschland gibt mehr Geld für die soziale Sicherung aus als andere europäische Staaten.« Als Quelle wird eine „Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft“ genannt. Und doppelt schlecht hält besser: »Für die Bildung gebe Deutschland im europäischen Vergleich am wenigsten Geld aus: dieser Bereich umfasse nur gut neun Prozent des Budgets.« Auch die Online-Ausgabe der Tagesschau sekundiert: Deutschland hat höchste Sozialausgaben in Europa. »Rund 41 Prozent der gesamten deutschen Staatsausgaben fließen in die soziale Sicherung. Das ist einer Studie zufolge mehr als überall sonst in Europa.« Aber immerhin kommt dann wenigstens dieser Hinweis: »Der DGB, die Linkspartei und der Paritätische kritisieren jedoch die Methodik.«

Schauen wir also in das Original, mit dem solche Meldungen produziert wurden. Es handelt sich um diesen Report aus dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW):

➔ Björn Kauder (2025): Öffentliche Ausgaben im internationalen Vergleich. Wo steht Deutschland im Vergleich zu seinen Nachbarregionen?. IW-Report, Nr. 61/2025, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft (IW), November 2025

Unter der Überschrift Bundeshaushalt: Deutschland gibt mehr für Soziales aus als nordische Länder hat das IW eine kompakte Meldung zu ihrem neuen Produkt online gestellt: »Deutschland gibt inzwischen mehr Geld in die soziale Sicherung als die nordischen Wohlfahrtsstaaten. Bei Bildung und Investitionen spart die Bundesrepublik dagegen, zeigt eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW).«

Wenn man sich dann die Mühe macht, die Meldung weiterzulesen, dann schrumpft die (angebliche) Spitzenreiterposition Deutschlands bereits auf einen Prozentpunkt: »Bei den Ausgaben für die soziale Sicherung ist Deutschland an der Spitze: 41 Prozent der Gesamtausgaben entfielen 2023 auf diesen Posten – davon allein die Hälfte für die Alterssicherung. Damit liegt die Bundesrepublik sogar vor den nordischen Ländern: Sie haben im selben Jahr 40 Prozent für Soziales ausgegeben. Das geht aus einer neuen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) hervor, die die Entwicklung der öffentlichen Ausgaben in Deutschland, den Benelux-Staaten, Österreich, Schweiz sowie den nordischen Ländern zwischen 2001 und 2023 untersucht hat.«

Und damit man gleich so richtig nach unten gezogen wird, kommt dann eine ganze Salven an Nieten-Meldungen über Deutschland: 

»Bei der Bildung spart Deutschland: Hier gingen im Jahr 2023 nur neun Prozent der Mittel hin – Österreich und die Schweiz wendeten die Hälfte mehr für Bildung auf, die nordischen Länder 12,5 Prozent. Auch bei den öffentlichen Investitionen bildet Deutschland mit etwa sechs Prozent das Schlusslicht. Die nordischen Länder kommen auf mehr als neun Prozent, Österreich und die Schweiz auf über acht Prozent. Der EU-Durchschnitt liegt hier bei über sieben Prozent. Gleichzeitig sind die Verwaltungsausgaben hierzulande weiter gestiegen. Mit elf Prozent liegt Deutschland vor den Nachbarländern.«

Und dass diese Studie nicht im aseptischen Raum der wissenschaftlichen Erkenntnissuche entstanden ist, kann man diesem Passus der IW-Meldung entnehmen – den man natürlich lesen muss vor dem aufgeheizten Hintergrund der Debatten über das Rentenpaket der schwarz-roten Bundesregierung, das nur mit erheblichen Blessuren über die Ziellinie geschoben werden konnte:1

»„Vor allem die Alterssicherung zehrt einen großen Teil der Einnahmen auf“, sagt IW-Experte Björn Kauder. Schweden habe vorgemacht, wie es geht: Bereits vor 25 Jahren hat der Nachbar im Norden Reformschritte unternommen und eine Mischung aus umlagefinanzierter und kapitalgedeckter Rente eingeführt. „Ohne eine Rentenreform werden die Kosten explodieren – zulasten der Steuerzahler“, so Kauder.«

Nicht nur die Wissenschaftler wichtig ist ein Blick auf die Methodik, mit der man diese Werte ermittelt hat. In der IW-Meldung zur Kauder-Studie werden wir mit dieser Information versorgt:

»Zur Methodik: Die Forscher vergleichen Deutschland mit Ländern, die ihm wirtschaftlich und kulturell nahestehen: den Benelux-Staaten, Österreich und der Schweiz sowie den nordischen Ländern (Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland, Island). Grundlage der Analyse sind die OECD-Daten, die Staatsausgaben seit 2001 nach einheitlichen Kriterien erfassen. Diese Daten zeigen, wie stark einzelne Aufgabenbereiche ins Gewicht fallen – sowohl gemessen am Anteil an den Gesamtausgaben als auch im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt. Die Staatsausgaben sind in zehn große Bereiche eingeteilt, etwa soziale Sicherung, Gesundheit oder Bildung.«

Welche Zahlen sollen es denn sein?

Es wurden bereits bei dem Hinweis auf den Bericht in der Online-Ausgabe der Tagesschau zu der IW-Studie darauf hingewiesen, dass es sogleich Kritik gegeben hat: »Der DGB, die Linkspartei und der Paritätische kritisieren jedoch die Methodik.« Wenn man sich nicht dem Abwehrreflex hingibt, dass da die üblichen Sozialstaats- und Umverteilungsbefürworter als Kritiker einer die Höhe der Sozialausgaben problematisierenden Studie genannt werden, dann kann man dem Artikel entnehmen:

»Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), der Paritätische Gesamtverband und die Linkspartei übten Kritik an der Methodik der Studie. Betrachte man nicht den Anteil an den Gesamtausgaben, sondern der Anteil am Bruttoinlandsprodukt, ergebe sich den Angaben zufolge eine andere Reihenfolge: Dann lägen die nordischen Länder bei den Sozialausgaben „knapp vor Deutschland (jeweils 20 Prozent), dem EU-Durchschnitt (19 Prozent), den Benelux-Ländern (18 Prozent) und Österreich/Schweiz (17 Prozent).«

»Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) nannte die Studie einen „Vergleich auf fragwürdiger Grundlage“. Das IW führe „vorwiegend Länder an, die ins gezeichnete Bild passen und bei denen Deutschland im Vergleich so wirkt, als würde es zu viel für Sozialleistungen ausgeben“.«

Und wie sieht das bei einer „weniger fragwürdigen Grundlage“ aus?

»Der DGB verwies auf Daten der europäischen Statistikbehörde Eurostat. Danach habe der EU-Durchschnitt für Sozialausgaben im vergangenen Jahr bei 27 Prozent gelegen. Deutschland sei dabei mit 28,8 Prozent „gerade mal auf Rang vier“ gelandet – „hinter Finnland, Frankreich und Österreich“.«

»Auch der Paritätische Gesamtverband erklärte, im EU-Durchschnitt lägen die deutschen Sozialausgaben „im Mittelfeld, bei der Alterssicherung sogar seit Jahren darunter“.«

Diese Hinweise werden aber viele noch nicht wirklich erschüttern hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Aussagen der Studie aus dem IW. 

Der eine oder andere besonders aufmerksame Leser könnte aber stutzen, wenn er der Kauder-Studie entnehmen muss, dass Deutschland nicht mit einer Auswahl einzelner Länder verglichen wird, sondern mit Ländergruppen, deren Durchschnittswerte dann den deutschen Werten gegenübergestellt wird:

»Der Fokus … liegt auf Deutschland und den westeuropäischen Nachbarregionen. Als Nachbarregionen werden folgende Ländergruppen gebildet: die Benelux-Länder (Niederlande, Belgien, Luxemburg), Österreich/Schweiz und die nordischen Länder (Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland, Island).« 

Deutschland ist – nicht – Spitzenreiter bei den Sozialausgaben

Vor dem Hintergrund, dass im Vergleich mehrere Vergleichsländer zu Ländergruppen zusammengefasst und Deutschland gegenübergestellt werden, könnte man auf die Idee kommen, bei dem Datenlieferanten auch für die Kauder-Studie nachzuschauen, also einen Blick in die Daten des statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) zu werfen. Diesen naheliegenden Gedanken hatte auch Paul M. Schröder vom BIAJ und er klärt uns über seine Befunde in dem Beitrag mit der Überschrift Eurostat: Deutschland ist kein „Spitzenreiter bei Sozialausgaben“ auf. Danach „rutscht“ Deutschland vom angeblichen Spitzenplatz ab auf Platz sechs eines richtigen – also EU-weiten – (Einzel-)Ländervergleichs:

»Die Bundesrepublik Deutschland ist mit einem dort genannten (vorläufigen) Anteil von 40,6 Prozent in 2023 (gerundet auf 41 Prozent) nicht „Spitzenreiter bei Sozialausgaben“. Das Ranking dieser „Ausgaben des Staates nach Aufgabenbereichen (COFOG)“ im Ausgabenbereich „Soziale Sicherung“ (Anteil in Prozent an den Gesamtausgaben) beginnt 2023, absteigend sortiert, mit Finnland (46,0 Prozent). Es folgen Luxemburg (42,2 Prozent), Dänemark (41,5 Prozent), Frankreich (40,9 Prozent vorläufig) und Spanien (40,7 Prozent vorläufig). Auf Rang sechs dann Deutschland mit 40,6 Prozent.«

➔ Interessant ist auch das Ergebnis dieser Rückfrage von Schröder beim Verfasser der Studie: »Der Verfasser der IW-Studie teilte auf Anfrage des BIAJ am 25.11.2025 auf Anfrage mit: „Bedauerlicherweise haben einige Medien gestern getitelt, Deutschland habe (europaweit) die höchsten Sozialausgaben. Das ist natürlich nicht korrekt und steht auch nicht in der Studie.“«

Zu welchen (bewusst angesteuerten?) Verzerrungen der Vergleich von Ländergruppen mit Deutschland führen kann, wird auch deutlich, wenn man sich die für Deutschland so schlechte Ausgabenposition für Bildung genauer anschaut. In der Meldung des IW dazu (und von vielen Medien gerne aufgegriffen) findet man diesen erschütternden Befund:

»Bei der Bildung spart Deutschland: Hier gingen im Jahr 2023 nur neun Prozent der Mittel hin – Österreich und die Schweiz wendeten die Hälfte mehr für Bildung auf.«

Dazu die richtige und kritische Anmerkung von Paul M. Schröder: »Die Bundesrepublik Deutschland und Österreich sind sich in der Ausgabenstruktur in Vielem ähnlicher als die Schweiz und Österreich.« Er belegt das mit einer tabellarischen Übersicht:

Die Ausgaben des Staates für das Bildungswesen werden für Deutschland im Jahr 2023 mit 9,2 Prozent ausgewiesen. „Österreich und die Schweiz“ kommen auf einen Wert von 13,3 Prozent – der Unterschied zwischen den beiden Anteilswerten beträgt 44,6 Prozent. Daraus wurde bei Kauder dann „Österreich und die Schweiz wendeten die Hälfte mehr für Bildung auf“. 

Darauf kommt man aber nur, wenn man die beiden unterschiedlichen Länder Österreich und die Schweiz in einen Topf wirft und dann den Durchschnitt bildet, denn betrachtet man beide Länder, wie es sich gehört, getrennt, dann kam 2023 Österreich auf einen Anteilswert von 9,3 Prozent für das Bildungswesen (und damit fast genau der Wert für Deutschland), während für die Schweiz beeindruckende 16,9 Prozent gemeldet werden.

Und wieder einmal die Erkenntnis: Man sollte nicht zu schnell Schlagzeilen abschreiben. Sondern auch mal nachfragen und nachrechnen. 

Fußnote

  1. Der Bundestag hat am 5. Dezember 2025das sogenannte Rentenpaket der Bundesregierung beschlossen. In dritter Beratung votierten in namentlicher Abstimmung 318 Abgeordnete für den unveränderten Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stabilisierung des Rentenniveaus und zur vollständigen Gleichstellung der Kindererziehungszeiten, 225 Abgeordnete stimmten dagegen. Es gab 53 Enthaltungen. Damit wurde die sogenannte Kanzlermehrheit von 316 Stimmen erreicht. Darüber hinaus stimmte der Bundestag den Gesetzentwürfen der Bundesregierung zur Stärkung der betrieblichen Altersversorgung und zur Änderung anderer Gesetze (Zweites Betriebsrentenstärkungsgesetz) und zur steuerlichen Förderung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Rentenalter (Aktivrentengesetz) zu. Beide Gesetzentwürfe wurden mit Koalitionsmehrheit angenommen. Vgl. ausführlicher Bundestag beschließt das Rentenpaket. ↩︎