Immer wieder tauchen (durchaus problematische, mindestens aber ambivalente) Charakterisierungen wie „der größte Pflegedienst der Nation“ auf,1 wenn es um die pflegenden Angehörigen geht (in neuer Terminologie wird von „pflegenden An- und Zugehörigen“ gesprochen). Manche sprechen auch von der größten „Billig-Variante“ der Versorgung und Betreuung – (nur etwas) zurückhaltender ausgedrückt kann man von der „kostengünstigsten“ Variante der Langzeitpflege und -betreuung sprechen. Aber das auch nur aus der Perspektive der sogenannten „Kostenträger“, die ansonsten die Pflege, die von Professionellen und Hilfskräften erwerbsförmig geleistet wird, zumindest anteilig aus ihren Kassen vergüten (müssen). Für die Betroffenen selbst kann sich das oftmals ins Gegenteil verkehren, wenn man sich die Folgen von teilweise jahrelanger Sorge-Arbeit anschaut.
Wie dem auch sei – die meisten Pflegebedürftigen werden zu Hause von An- und Zugehörigen versorgt, teilweise vollständig, teilweise unter Zuhilfenahme ambulanter Pflegedienste. Die etablierten „Kostenträger“ können nur deshalb „sparen“, weil die An- und Zugehörigen Leistungen erbringen, die ansonsten für erwerbsmäßig strukturierte Arbeit vergütet werden müsste (also theoretisch, denn so viele professionelle Pflegekräfte gibt es gar nicht).
»Circa 86 % der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt, die Mehrheit ausschließlich von pflegenden An- und Zugehörigen, also von Familienmitgliedern, Freunden oder Nachbarn … Da Letztere für ihre Pflege- und Unterstützungsleistungen nicht bezahlt werden, werden diese Leistungen im Wissenschaftskontext als ‚informelle Pflege‘ bezeichnet … Zum Umfang dieser geleisteten Pflege gibt es in Deutschland keine zuverlässigen Daten, erst recht keine Längsschnitterhebungen. Die Entwicklung wird auf Basis von verschiedenen Querschnittserhebungen geschätzt.« Wer das schreibt?
➔ Andreas Hoff, Steffi Höse, Martin Knoll und Notburga Ott (2025): Der monetäre Wert der Pflegeleistungen von An- und Zugehörigen in Deutschland. GAT Working Paper Series GAT-WP 01/2025, Zittau: GAT Institut für Gesundheit, Altern, Arbeit und Technik, Hochschule Zittau/Görlitz, 2025
Die Autoren wagen einen wichtigen und zugleich schwierigen Versuch: »Angesichts dieser Datenlage verwundert es nicht, dass es in Deutschland keine Berechnungen für den ökonomischen Wert der informellen Pflege, also der von An- und Zugehörigen erbrachten unbezahlten Pflegeleistung gibt. Die Tatsache, dass es sich dabei um den größeren Teil der geleisteten Pflege handelt, spricht dafür, dass es viel ist – wieviel, lässt sich nur schwer beziffern. Das ist durchaus bemerkenswert, insbesondere wenn in Betracht gezogen wird, dass in anderen Ländern regelmäßig ein monetärer Wert der in den privaten Haushalten geleisteten Pflege durch entsprechende Studien bestimmt wird. Wir zeigen in diesem Paper, dass auch für Deutschland eine zuverlässige Schätzung auf der Basis existierender Daten möglich ist.« (Hoff et al. 2025: 2).
Fehlende Datenbasis in Deutschland
Um den gesellschaftlichen Wert der privat erbrachten Pflegeleistung abschätzen zu können, müssen folgende Faktoren bekannt sein, so die Autoren des Papers:
1. die Anzahl der pflegenden An- und Zugehörigen,
2. der zeitliche Umfang ihrer Pflegetätigkeiten und
3. eine monetäre Bewertung ihres Zeiteinsatzes.
Das Problem: »In Deutschland gibt es keine Datenbasis, in der diese Informationen abrufbar sind.« Hoff et al. (2025) diskutieren in ihrem Paper unterschiedliche Wege, um die genannten Faktoren für Deutschland abschätzen zu können.
Wie ist das mit der monetären Bewertung des Zeiteinsatzes pflegender Angehöriger?
Auch hierzu werden verschiedene Vorgehensweisen diskutiert. Man kann an den Ausführungen erkennen, wie schwierig sich das gestaltet:
»Eine Option ist der sogenannte Opportunitätskostenansatz, wonach der Wert der unbezahlten Arbeit mit dem Lohnsatz bewertet wird, den die Person alternativ am Markt erzielen könnte. Die individuellen Einkommen der pflegenden An- und Zugehörigen, auf die sie aufgrund der Übernahme der Pflege verzichten, sind jedoch nicht bekannt. Denkbar ist auch eine Bewertung mit den Alternativkosten, d.h. den Kosten, die man für die gleiche Leistung am Markt bezahlen müsste. Auch bei diesem Ansatz ist bei der Bewertung der privaten Pflegezeit kein eindeutiger Wert möglich, weil nicht klar ist, welche Qualifikation einer professionellen Pflegekraft notwendig ist, um die gleiche Leistung „einkaufen“ zu können. Ist es angemessen, das Lohnniveau einer Pflegefachkraft zugrunde zu legen oder eher das einer angelernten Pflegehilfskraft …? Für Letzteres spricht, dass pflegende An- und Zugehörige in der Regel nicht über eine pflegerische Ausbildung verfügen. Fraglich wäre dann allerdings, ob die Leistung sogenannter ‚Double duty carers‘, also von Personen, die als Pflegefachkräfte beruflich tätig sind, mit dem Lohnniveau der Fachkraft bewertet werden müsste.« (Hoff et al. 2025: 6-7).
Für was haben sich die Verfasser des Papers entscheiden?
»Für die folgende Abschätzung werden hier daher zwei Lohnsätze verwendet: der Mindestlohnsatz einer Pflegefachkraft …, der zurzeit bei 19,50 Euro liegt, sowie der Mindestlohnsatz einer qualifizierten Pflegehilfskraft … von derzeit 16,50 Euro.«
Und was ist rausgekommen, in Euro?
Hoff et al. (2025) haben ihre Berechnungsschritte des Wertes von Pflegeleistungen privater Pflegepersonen aufgeschlüsselt (siehe Tabelle 3 auf Seite 8). Sie kommen zu diesem Ergebnis:
»Mit diesen Berechnungen ergibt sich eine Bewertung der gesamten Pflegezeiten von pflegenden An- und Zugehörigen von rund 234 Milliarden Euro … Bewertet man auch die Zeiten der Hauptpflegepersonen lediglich mit dem Mindestlohn von Pflegehilfskräften, ergibt sich ein Wert von rund 206 Milliarden Euro … Dabei handelt es sich um eine vorsichtige, konservative Abschätzung, indem bei allen Annahmen Werte verwendet wurden, die tendenziell zu einer Unterschätzung des wahren Wertes führen.« (Hoff et al. 2025: 8; Hervorhebungen nicht im Original). |
Wie immer stellt sich natürlich auch die Frage, ob das neben der reinen absoluten Zahl gesellschaftlich viel ist. Man muss also vergleichen. Die Autoren verweisen an dieser Stelle beispielsweise auf das Sozialbudget mit den dort publizierten großen Milliarden-Beträgen: Dort werden »Kosten für die gesetzliche Rentenversicherung (2023: 385 Milliarden Euro), Krankenversicherung (2023: 302 Milliarden Euro) oder Pflegeversicherung (2023: 59 Milliarden Euro)« ausgewiesen. Hier zeigt sich die Größenordnung im Vergleich, die sich aus der Abschätzung der monetären Bewertung des Zeiteinsatzes pflegender Angehöriger ergeben hat.
Dieser enorme Beitrag zum Gemeinwesen wird aus öffentlichen Geldern nur zu einem geringen Teil kompensiert: Geldleistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung, die an private Pflegehaushalte in Form von Pflegegeld ausgezahlt werden, betragen mit 16,2 Milliarden Euro in 2023 deutlich weniger als ein Zehntel dieser Summe, bilanzieren die Verfasser.
Fußnote
- Diese Umschreibung wird seit vielen Jahren verwendet. Ein Beispiel aus dem Jahr 2010: »Nach Ansicht des Vorstandschefs des AOK-Bundesverbandes, Dr. Herbert Reichelt, ist in Deutschland die Familie immer noch die zentrale Institution bei der Pflege von Angehörigen. „Man kann hier mit Fug und Recht vom größten Pflegedienst der Nation sprechen“, so Reichelt.« Im Jahr 2014 wurde die damalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) im Kontext der Behandlung des „Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf“ im Deutschen Bundestag mit diesen Worten zitiert: „Die Familien in unserem Land, sie sind der größte Pflegedienst der Nation und deshalb haben sie unsere Unterstützung verdient.“ Anlässlich der Veröffentlichung des Barmer-Pflegereports im Jahr 2018 findet man diese Formulierung: »Der „größte Pflegedienst der Nation“ steht am Rande seiner Kräfte: Viele der 2,5 Millionen pflegenden Angehörigen sind einer Untersuchung zufolge überfordert, gestresst oder selbst krank.« Der (ehemalige) Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, wurde 2020 mit diesen Worten zitiert: »Schon heute werde über die Pflegeversicherung ein breites Spektrum an kombinierbaren Unterstützungsmöglichkeiten für „Deutschlands größten Pflegedienst“, die pflegenden Angehörigen, bereitgestellt, sagte Westerfellhaus.« Der Artikel ist bezeichnenderweise so überschrieben: Größter Pflegedienst der Nation geht am Stock. Auch in diesem Blog taucht die Begrifflichkeit auf, so in der Überschrift zu einem Beitrag, der am 19. August 2018 veröffentlicht wurde: Pflegende Angehörige als größter Pflegedienst der Nation – auch in Österreich. Eine Studie hat genauer hingeschaut. Auch in der hier zu besprechenden Studie von Hoff et al. (2025) wird gleich am Anfang des Textes von »Pflegende An- und Zugehörige als ‚größter Pflegedienst der Nation‘« gesprochen, allerdings mit einer Fußnote versehen: »Diese metaphorische Bezeichnung hat sich weitläufig eingebürgert und wird von Interessenverbänden pflegender Angehöriger wie der Deutschen Alzheimergesellschaft, wir pflegen e.V. oder Wir! Stiftung pflegender Angehöriger ebenso verwendet wie von Kranken- und Pflegekassen wie der AOK, der BARMER oder dem Verband der privaten Krankenversicherungen.« ↩︎