Habemus Koalitionsvertrag: »Wochenlang haben sie Gespräche geführt und sind dabei auch immer wieder an Grenzen gestoßen. Nichtsdestotrotz haben die Verhandler von CDU, CSU und SPD die Koalitionsverhandlungen nun abgeschlossen. „Deutschland bekommt eine starke und handlungsfähige Regierung“, sagte CDU-Chef Friedrich Merz bei der Vorstellung der Ergebnisse«, so diese Meldung am 9. April 2025: Was Schwarz-Rot vorhat – und was nicht. Das kann man in diesem „Vertragstext“ im Original nachlesen (dessen finale Gültigkeit eine entsprechende Zustimmung der drei Parteien, vor allem eine Mitgliederbefragung in der SPD voraussetzt):
➔ CDU/CSU/SPD (2025): Verantwortung für Deutschland. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Berlin, 09.04.2025
Natürlich ist man nach den ersten Entwürfen aus den 16 Facharbeitsgruppen gespannt, was es davon (und darüber hinaus?) an sozialpolitisch relevanten Inhalten in den Koalitionsvertrag geschafft hat.
Immerhin sind es 144 Seiten geworden, da wird sicher eine Menge Stoff enthalten sein.
Aber: »(Wer) etwas Interesse an Sozialpolitik mitbringt, dessen Augen bleiben im Text vor allem an einem Stichwort hängen: Kommission.« Das behauptet Ulrike Winkelmann in Ihrem Beitrag Kommissionen als Ritualobjekte.
➔ Die Verwendung des Begriffs „Ritualobjekte“ wird von Winkelmann mit Blick auf die Veröffentlichung des Koalitionsvertrages am Mittwoch, dem 9. April 2025 mit dieser netten Geschichte eingeführt: »ie Ereignisse am Mittwoch ließen mich an jenes Fest des Dorfes denken, bei dem eine reich geschmückte Heiligenfigur nach einem uralten Ritus von den stolzesten Jünglingen durch die Gassen getragen wird. Nur einmal alle vier Jahre ist sie zu sehen, die mythische Heilige im goldverzierten Schrein, die Jüngeren kennen sie nur aus Erzählungen der Großmütter. Aus dem dichten Gedränge heraus sind für viele nur die fast blinden Scheiben des Schreins zu erspähen. Doch halt: Da ist ja gar keine Figur! Zwischen den Brokatstoffen ist – nichts.«
Winkelmann hat angefangen zu zählen und führt die sozialpolitisch wichtigsten Beispiele für die (erneut) grassierende Kommissionitis auf:
»Die gesundheitspolitischen Vorhaben sollen bis Frühjahr 2027 von einer Kommission „in der Gesamtwirkung“ betrachtet werden, es werden dann auch „Ableitungen“ getroffen. Eine Kommission soll über die Finanzierung einer Pflegereform nachdenken. Eine Kommission wird bis Mitte der Legislaturperiode eine neue Kenngröße für die Rente „prüfen“. Eine Kommission soll über Transparenz und Zusammenlegung von Sozialleistungen nachdenken.«
Und es handelt sich hier nur um einen (eben sozialpolitisch besonders relevanten) Auszug aus der langen Liste an Kommissionen und Arbeitsgruppen, die in den vor uns liegenden Monaten kreisen und gebären sollen.
➔ Die beiden Vorsitzenden der Fraktion der Grünen im Bundestag, Britta Haßelmann und Katharina Dröge, werden mit diesem Zählergebnis zitiert: »Es gibt 18 Kommissionen und Arbeitskreise, auf die man sich verständigt hat, und es drängt sich der Eindruck auf, dass jedes Thema, das kontrovers ist, in eine Kommission oder einen Arbeitskreis verlegt ist. Frei nach dem Motto: Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründe ich einen Arbeitskreis … Viele der Fragen, die ganz relevant sind, sind verlegt auf später, zum Teil ist 2027 als Datum angegeben.«
➔ Eine wahre Kommissions-Inflation: Andere zählen 17 Kommissionen, so beispielsweise Christoph Knoop et al. vom Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) in ihrem Beitrag Wenn man nicht mehr weiterweiß, gründet man ‘nen Arbeitskreis: Die Liste der Projekte ist lang – doch oft sind sich CDU, CSU und SPD noch uneins. Über viele Themen sollen deshalb Expertenrunden beraten: Mindestens 15 neue Kommissionen will Schwarz-Rot laut Koalitionsvertrag gründen, ergab eine RND-Analyse. Und mindestens zwei weitere Projektgruppen dürften wie Kommissionen arbeiten. »Sie sollen eine Sozialstaatsreform, Ideen für die Rentenpolitik, eine Reform der Schuldenbremse oder einen Wirtschaftskurs gegenüber China erarbeiten. Hinzu kommen mit der Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes und des Mietrechtes mindestens zwei weitere Projekte, welche von Experten- oder Bund-Länder-Runden bearbeitet werden sollen, die über Mitglieder der Bundesregierung hinausgehen.
Beim Bundeswirtschaftsministerium soll eine Arbeitsgruppe Konzepte für „Wettbewerb und Künstliche Intelligenz“ erstellen – Details noch offen. Für die Modernisierung und Entbürokratisierung des Sozialstaats wird eine Kommission von Bund, Ländern und Kommunen aufgestellt, und die Rentenpolitik wird Aufgabe – klar: einer Rentenkommission. Laut Koalitionsvertrag soll sie „eine neue Kenngröße für ein Gesamtversorgungsniveau über alle drei Rentensäulen“ prüfen. Klingt nach einem Job für Feinschmecker, der deshalb bis zur „Mitte der Legislatur“ dauern darf.
Schneller soll die Reform der Schuldenbremse kommen: Eine Expertenkommission unter Beteiligung von Bundestag und Ländern soll noch in diesem Jahr „einen Vorschlag für eine Modernisierung der Schuldenbremse, die dauerhaft zusätzliche Investitionen in die Stärkung des Landes ermöglicht“ vorlegen.
Die zehn weiteren bereits angekündigten Kommissionen bekommen mehr Zeit, aber ebenso grundlegende Aufgaben. Weil Union und SPD noch keine gemeinsamen – oder auch noch gar keine – Ideen dafür haben, werden sich Experten wahlweise aus Wirtschaft, Wissenschaft, Bundes- und Landespolitik jeweils zusammenfinden und diskutieren über Reformen von Strafprozessordnung, Bildung, Kinder- und Jugendschutz, Medizinstudium, Gleichstellung von Mann und Frau (nach geltender EU-Vorgabe!), Gesundheitspolitik und Gesetzliche Krankenversicherung, Pflege, Entwicklungshilfe, Prostitution und natürlich das Wahlrecht. Thematische Überschneidungen nicht ausgeschlossen.«
Wieder zurück zu den angesprochenen und in Aussicht gestellten Kommissionen in sozialpolitischen Kernbereichen: »Es sind vier Kommissionen, über deren Zusammensetzung, Gründungstreffen und interne Verwerfungen die Öffentlichkeit sich dann freuen darf, bevor die Regierung beschließt, welchen Teil der Arbeitsergebnisse sie wahrnehmen möchte und was davon sie versenkt. Um hier schon einmal einen Tipp zu platzieren: Kommissionen, die erst zur Mitte der Legislaturperiode etwas vorlegen sollen, haben wenig Chancen, überhaupt noch Termin und Ort für eine Vorstellung so zu legen, dass dort auch jemand vorbeischaut«, ätzt Ulrike Winkelmann in ihrem Beitrag. Und sie ist nicht allen.
»Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD Arbeitsgruppen für Reformen in der Kranken- und Pflegeversicherung vereinbart. Es ist aber längst bekannt, was getan werden muss. Nötig ist vielmehr schnelles Handeln.« So Tim Szent-Ivanyi in seinem Kommentar Pflege und Gesundheit im Koalitionsvertrag: Neue Kommissionen sind überflüssig. Er erinnert uns an eine Hochzeit der Kommissionitis: »Im politischen Berlin gibt es ein Bonmot, das in der Regierungszeit von Gerhard Schröder die Runde machte, aber seitdem etwas in Vergessenheit geraten ist: „Wenn Du nicht mehr weiter weißt, bilde einen Arbeitskreis. Kennst Du das Ergebnis schon, bilde eine Kommission.“ Damals kamen Expertenkommissionen in Mode, die letztlich nur einen Zweck hatten: Die Regierung wollte sich davor drücken, Urheber unangenehmer Entscheidungen zu werden. Schröder nutzte dieses Mittel intensiv.«
➔ Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hantiert mit der „Hartz-Kommission“ und auch der „Rürup-Kommission“ (der Abschlussbericht der „Hartz-Kommission“ wurde im August 2002 im „Französischen Dom“ zu Berlin wie ein Ritualobjekt mit einem Quasi-Hochamt veröffentlicht, der Bericht der „Rürup-Kommission“ folgte im August 2003). Es war eine umtriebige Zeit, in der allerlei Kommissionen herumgeisterten. Und nicht nur die Regierung bediente sich dieses Instrumentariums. Es darf an dieser Stelle nur als ein Beispiel an die „Herzog-Kommission“, benannt nach dem ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, erinnert werden: Diese Kommission wurde im Jahr 2000 von der CDU eingesetzt, um Vorschläge zur Reform des Sozialstaats zu erarbeiten. Die Empfehlungen der Kommission betrafen unter anderem die Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie die Krankenversicherung. Der Bericht der Kommission „Soziale Sicherheit“ zur Reform der sozialen Sicherungssysteme (Herzog-Kommission) als Konkurrenzprodukt zur „Rürup-Kommission“ und den anderen rot-grünen Überlegungen damals wurde ebenfalls im August 2003 veröffentlicht.
Zurück in die Gegenwart. Mit Blick auf die aktuellen Kommissionspläne kritisiert Tim Szent-Ivanyi: »Gleich zwei sind für den Bereich Gesundheit geplant. Sie sollen sich nicht etwa mit einem Spezialgebiet beschäftigen, sondern mit der zentralen Frage, wie die Sozialsysteme Krankenversicherung und Pflegeversicherung trotz der Alterung der Gesellschaft leistungsfähig und bezahlbar bleiben. Allerdings ist das längst wissenschaftlich hell ausgeleuchtet. An Vorschlägen und sogar durchgerechneten Reformmodellen mangelt es nicht. Woran es fehlt, sind politische Entscheidungen, die im Zweifel unangenehm sind. Und davor wollen sich Union und SPD offensichtlich drücken. Sie haben im Koalitionsvertrag noch nicht einmal den Rahmen für die Arbeit der Kommissionen abgesteckt.«
Auf die lange Bank schieben? Die überaus drängende Frage der Finanzierung der Pflegeversicherung als Beispiel für System-Grenzen der Kommissionitis
Schauen wir einmal in den aktuelle Koalitionsvertrag, was dort zu der Frage der Zukunft der Pflegeversicherung niedergeschrieben wurde. Zuerst einmal – keine Überraschung – wird uns eine jetzt aber wirklich „große Pflegereform“ in Aussicht gestellt:
»Die strukturellen langfristigen Herausforderungen werden mit einer großen Pflegereform angehen. Ziele der Reform sind, die nachhaltige Finanzierung und Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung zu sichern sowie eine Stärkung der ambulanten und häuslichen Pflege. Ferner wollen wir damit gewährleisten, dass Leistungen der Pflegeversicherung von den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen einfach und bürokratiearm in Anspruch genommen werden können.« (S. 109). Da sind wir gespannt.
Und dann kommt sie schon, die Kommission:
»Die Grundlagen der Reform soll eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Ministerebene unter Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände erarbeiten.«
Der aufmerksame Leser wird sofort identifiziert haben, dass es dahingehend eine Besonderheit zu anderen Kommissionen gibt, als dass man hier offensichtlich „unter sich“ bleiben will, also man verzichtet auf wie auch immer gearteten „externen Sachverstand“ und will das innerhalb des ministeriellen Apparates abwickeln.
➔ Einen deutlich weiter gespannten Kommissionsauftrag finden wir in den Ausführungen zum Thema Krankenversicherung. Gleich am Anfang des Kapitels „Gesundheit und Pflege“ finden wir diese Zielbestimmung: »Wir wollen die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung auch langfristig stabilisieren und zugleich eine hohe Qualität und ein hohes Niveau der Leistungen sichern. Wir wollen die Einnahmen durch ein höheres Beschäftigungsniveau vergrößern und die Kosten auf der Ausgabenseite reduzieren.« Und dann kommt an dieser Stelle auch eine Kommission: »Für diese Aufgabe werden wir eine Kommission unter Beteiligung von Expertinnen und Experten und Sozialpartnern einrichten. Wir wollen, dass die Kommission die gesundheitspolitischen Vorhaben dieses Koalitionsvertrags in der Gesamtwirkung betrachtet und bis zum Frühjahr 2027 Ableitungen trifft und konkrete weitere Maßnahmen vorschlägt.« (S. 105).
Nun wird sich der eine oder andere mit Blick auf die Finanzierung der Pflegeversicherung daran erinnern, dass doch erst vor kurzem eine systematische Bestandsaufnahme der vorliegenden und bei der Sache naturgegeben sehr weit auseinander gehenden Reformvorschläge veröffentlicht wurde. Stimmt, gemeint ist diese Analyse:
➔ Bericht der Bundesregierung Zukunftssichere Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung – Darstellung von Szenarien und Stellschrauben möglicher Reformen, BT-Drs. 20/12600 vom 19.08.2024
Mit den Anlagen handelst es sich um 400 Seiten eng bedrucktes Papier, in der alle Ansätze und unterschiedlichen Wege, die man gehen könnte, beschrieben worden sind. Das Spektrum wird aufgezeigt, eine eindeutige Empfehlung wird nicht gegeben, was auch nicht überrascht, denn man muss eine politische Grundsatzentscheidung treffen, die natürlich immer im Feuer stehen wird von der anderen Seite.
Insofern könnte man nun argumentieren, dass die in Aussicht gestellte neue Kommission aufgrund ihres deutlich schmaleren Zuschnitts auf die ministeriale Ebene geeignet sein könnte, die notwendige Entscheidung voranzutreiben und endlich eine Umsetzung kommen kann. Das aber überschätzt zum einen die Zuständigkeit der administrativen Ebene, auch (und gerade) die braucht die politische Grundsatzentscheidung. Zum anderen aber besteht die Gefahr, dass man die ministerielle Ebene unterschätzt, wenn man nicht klare Vorgaben macht, denn dann wird sich dieser Teil des Apparates zwangsläufig in den bestehenden Strukturen bewegen (müssen).
Also schauen wir nochmals in den Koalitionsvertrag, um uns zu versichern, ob und wenn ja welche Leitplanken von der Politik der Kommission vorgegeben werden. Und man wird fündig – mit einer überaus kleinteilig daherkommenden Vorgabe:
»Zum Arbeitsauftrag der Kommission gehört insbesondere die Prüfung von Leistungsumfang, Ausdifferenzierung der Leistungsarten, Bündelung und Fokussierung der Leistungen, Möglichkeiten zur Stärkung der pflegenden Angehörigen, Schaffung von Angeboten für pflegerische Akutsituationen, Stärkung der sektorübergreifenden pflegerischen Versorgung und Übernahme von Modellprojekten (wie zum Beispiel „stambulant“) in die Regelversorgung, Anreize für eigenverantwortliche Vorsorge, Nachhaltigkeitsfaktoren (wie beispielsweise die Einführung einer Karenzzeit), Verortung versicherungsfremder Leistungen wie die Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige und die Ausbildungsumlage, Begrenzung der pflegebedingten Eigenanteile. Die Kommission legt ihre Ergebnisse noch 2025 vor.« (S. 109).
Das sind sicher sehr wichtige Einzelpunkte im bestehenden System – aber eine große Pflegereform kann daraus naturgemäß nicht geboren werden. Das wäre eine völlige Fehleinschätzung und Überforderung dieser kleingeschrumpften Kommission. Man wird den Verdacht nicht los, dass es der Politik hier darum geht, konkrete Notfall-Maßnahmen geliefert zu bekommen und gleichzeitig wird dem breiten Publikum wieder einmal eine „große Pflegereform“ (wie schon vor der Vorgänger-Koalition) versprochen, in der Hoffnung, dass einem vielleicht etwas einfällt in der nun startenden Legislaturperiode oder auch in Erwartung, dass man sich erneut vier Jahre mit dem Bestehenden irgendwie ans nächst Wahlufer retten kann.