Rainer Schlegel ist im Februar 2024 als Präsident des Bundessozialgerichts (BSG) in Pension gegangen. »Sein Gericht hinterlässt er gut aufgestellt, doch für das Sozialrecht insgesamt sehe es bitter aus«, so die Einleitung eines Interviews, das von Legal Tribune Online, das unter der durchaus ambivalent zu lesenden Überschrift „Mit Sozialrecht kann man nicht reich werden“ veröffentlicht wurde. Der damals scheidende BSG-Präsident wurde mit Blick auf das Sozialrecht gefragt: Interessiert sich genug Nachwuchs für dieses Rechtsgebiet? Seine Antwort: »Leider überhaupt nicht. Um das Sozialrecht reißt sich niemand.« Die oft vorgesehenen Pauschalgebühren seien für Anwälte nicht attraktiv, so Schlegel. »Man kann mit dem Sozialrecht nicht reich werden. Daher gibt es nur ganz wenige spezialisierte Kanzleien für bestimmte Themen wie beispielsweise für Teile des Gesundheitsrechts.«
Auch sein Blick auf die Hochschulen ist getrübt: »In den Universitäten sieht es ganz bitter aus. Die Anzahl der Lehrstühle, an denen zumindest auch Sozialrecht gelehrt wird, hat drastisch abgenommen, Stellen werden oft nicht mit einer Venia für das Sozialrecht nachbesetzt.« Viele Richter und Richterinnen am BSG übernehmen eine Honorarprofessur, weil es keine hauptamtlichen Professoren für Sozialrecht mehr gibt. In der Literatur ist das genauso: Die wird in weiten Teilen durch Richter aus der Sozialgerichtsbarkeit geschrieben. »Wir entscheiden also über die Fälle, schreiben die Kommentare und Aufsätze und sind in der Lehre tätig.«
Nun war das im vergangenen Jahr. Schauen wir in die Gegenwart – und auf die Ausführungen seiner Nachfolgerin an der Spitze des höchsten deutschen Sozialgerichts, Christine Fuchsloch. Die hat im Februar 2025 ihren ersten Jahresbericht als BSG-Präsidentin vorgestellt. Sie hat – für den einen oder anderen möglicherweise irritierend, wenn man an die vielen Berichte über unter Aktenbergen versinkenden Sozialgerichten denkt – erleichtert hervorgehoben, dass die Arbeit endlich nicht weniger geworden ist:
»Die Aufgabe des Bundessozialgerichts sei es, grundlegende Maßstäbe für das Verständnis sozialrechtlicher Regelungen zu entwickeln … Dies gelinge nur, wenn das Gericht ausreichend Verfahren erreichten. Insoweit sei es erfreulich, dass mit 2.523 Verfahren über alle Verfahrensarten die Eingangszahlen 2024 im Vergleich zu 2023 nicht zurückgegangen seien. Die Zahl der Revisionsverfahren sei sogar leicht angestiegen. Dies bedeute eine echte Trendumkehr im Vergleich zu vorherigen Jahren.«
Und dann finden wir auch bei ihr die bereits von Schlegel vor über einem Jahr angeführte Klage über eine abnehmende Zahl an Fachanwälten für Sozialrecht:
»Zugleich wies sie auf die sinkende Zahl der Fachanwältinnen und Fachanwälte für Sozialrecht hin, für die sich sozialrechtliche Mandate angesichts der geringen Vergütung wirtschaftlich oft nicht mehr lohnten. „Ein starker sozialer Rechtsstaat braucht eine auch zahlenmäßig starke Anwaltschaft, die die sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger verteidigt. Und zwar nicht aus Idealismus, sondern auch, um davon leben zu können.“«
Diesen Aspekt hat Tanja Podolski in ihrem Artikel vertieft, der unter der passenden Überschrift Zu wenig Anwälte im Sozialrecht gestellt wurde. »Beim BSG steigen die Fälle, bei denen sich die Bürger:innen ohne anwaltliche Vertretung an das Gericht wenden. In fast 600 Verfahren hätten rechtssuchende Personen die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Anwalts oder einer Anwältin beantragt. Diesen Anträgen gibt das Gericht bei klärungsbedürftigen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung statt. Die Beiordnung allerdings sei „immer schwieriger“, so Fuchsloch.«
Der Grund für diese Entwicklung, so Fuchsloch, liegt auf der Hand: Das Sozialrecht ist eine hochkomplexe Materie mit geringen Verdienstmöglichkeiten für die Anwälte, etwa wegen der sogenannten Betragsrahmengebühren, also gedeckelter Gebühren und dem Verbot von Honorarvereinbarungen, wie etwa im Sozialgesetzbuch (SGB) II vorgegeben. „Die Einnahmen reichen für die Anwälte oft nicht mehr aus, um kostendeckend zu arbeiten“, so die Präsidentin.
Entsprechend gibt es auch weniger Anbieter für Fortbildungen zum Sozialrecht und damit auch weniger Fachanwälte. Das sei, in Hinblick auf die Komplexität des Rechtsgebiets, „ein besorgniserregender Trend“. Ein sozialer Rechtsstaat brauche auch eine zahlenmäßig starke Anwaltschaft, um das Sozialrecht der Bürger zu verteidigen.
Schauen wir uns an dieser Stelle einmal die Zahlen an hinsichtlich der Entwicklung im Bereich der Fachanwaltschaft im Sozialrecht.

Für 2025 werden also 1.619 Fachanwälte für Sozialrecht ausgewiesen. Zur Einordnung dieser Zahl: Die Bundesrechtsanwaltskammer berichtet von derzeit 165.776 zugelassenen Rechtsanwälten in Deutschland. Davon sind 46.148 Fachanwälte. An der Spitze stehen von der Anzahl her 11.163 Fachanwälte für Arbeitsrecht. Auch das Familienrecht (8.759) und das Steuerrecht (4.695) sind gut besetzt. Aber selbst das Medizinrecht (1.972) oder das Erbrecht (2.372) sind besser bestückt als das nun wirklich weite Feld des Sozialrechts. Das zudem für Millionen Menschen von im wahrsten Sinne des Wortes existenzieller Bedeutung ist oder sein kann.
In der immer komplexer und widersprüchlicher werdenden sozialrechtlichen Wirklichkeit stehen Einzelpersonen, die sich nicht selten auch in schwierigen Lebenslagen befinden, großen Behörden und teilweise kafkaesk agierenden Organisationen gegenüber und brauchen dann eine professionelle Vertretung ihrer Anliegen, bei deren Verwirklichung man definitiv nicht reich wird als Betroffener.
Nun muss man allerdings der Vollständigkeit halber auch erwähnen, dass es nicht nur die hier einschlägigen Fachanwälte für Sozialrecht gibt (bzw. offensichtlich immer weniger gibt), die in Anwaltskanzleien für den Ratsuchenden da sind. Mit Blick auf die Vertretung vor Gericht muss man berücksichtigen, dass es noch eine zweite Säule in Deutschland gibt. Darauf hat die BSG-Präsidentin auch hingewiesen, allerdings zugleich Wasser in den Wein gekippt:
»Zwar bestehe mit dem gewerkschaftlichen und dem Rechtsschutz durch die Sozialrechtsverbände in der Sozialgerichtsbarkeit noch eine starke zweite Säule der Prozessvertretung. Dies genüge aber nicht, dauerhaft den Mangel in der Anwaltschaft auszugleichen.«
Fazit: Auch hier also Mangelwirtschaft (jedenfalls an der Basis), wie in so vielen anderen Bereichen auch.
Eine Anmerkung zu einem – sicher nicht armen – Teil des Sozialrechts: Am Anfang dieses Beitrags wurde Rainer Schlegel zitiert, der Ende Februar 2024 als BSG-Präsident in den Ruhestand gegangen ist. Oder sagen wir besser Unruhestand? Auf alle Fälle ist die Pension eines ehemaligen BSG-Präsidenten, der nach der Besoldungsgruppe R 10 vergütet wurde, sicher als auskömmlich zu vermuten. Aber offensichtlich kann man mit Expertise im Sozialrecht auch noch gutes Geld verdienen. Also weniger mit Fragen des Bürgergeldes (SGB II) oder der Grundrente (SGB VI), sondern vor allem in dem Bereich, der angesichts der enormen Beträge, um die dort gestritten wird, auch als „Haifischbecken“ bezeichnet wurde: dem Gesundheitswesen. Im Juni 2024 wurde unter der Überschrift Ex-Präsident des BSG wechselt zu Dierks+Company berichtet: »Seine Entlassungsurkunde hat er erst vor wenigen Wochen erhalten. Ein Rückzug ins Private ist bei Prof. Dr. Rainer Schlegel aber nicht geplant … Schlegel, der zwischen zwei Etappen am BSG von 2010 bis Ende 2013 die Abteilung Arbeitsrecht und Arbeitsschutz im Bundesministerium für Arbeit und Soziales leitete, berät künftig für Dierks+Company.« Und weiter heißt es: »Schlegel passe hervorragend ins Team, so Managing Partner Dominik Roters in einer Mitteilung des Unternehmens. Christian Dierks, ebenfalls Managing Partner, sieht in dem Neuzugang sogar einen „echten Glücksfall“. Es gebe im Markt nur sehr wenige Persönlichkeiten mit einer so herausragenden Fachkenntnis im Sozialrecht.« Der Ex-BSG-Präsident »freut sich auf eine „spannende Aufgabe“ rund um die Transformation im Gesundheitssektor.« Dierks+Company hat sich im vergangenen Jahr offensichtlich weitere „Glücksfälle“ für das eigene Geschäft an Bord geholt, die alle über sicher profunde Expertise im angesprochenen Haifischbecken verfügen: Beispielsweise Stefan Lange, zuvor Chief Scientific and Medical Officer des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Und Anja Tiedemann, eine langjährige Justiziarin des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) sowie Andreas Propp, einen ausgewiesenen Experten für Medizinrecht und Krankenversicherungsrecht, der 14 Jahre lang Justiziar des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) war – Propp »gilt als Spezialist für Fragen der Bewertung von Gesundheitstechnologien (Health Technology Assessment – HTA). In diesem Zusammenhang hat er Hersteller von Medizinprodukten und Leistungserbringer umfassend auch in Bezug auf EU-HTA beraten. Darüber hinaus umfasste seine Tätigkeit die Bewertung von veranlassten Leistungen einschließlich neuer Heil- und Hilfsmittel«, kann man diesem Artikel entnehmen: Andreas Propp wechselt zu Dierks+Company. Und wer ein wenig die Bedeutung des auch als „kleinen Gesetzgebers“ im Gesundheitswesens bezeichneten Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) kennt, der ahnt, warum hier von echten „Glücksfällen“ gesprochen wird. |