Die Einschätzung der allgemeinen Wirtschaftslage kann das Wahlverhalten beeinflussen. Studien und Wahlanalysen zeigen, dass wirtschaftliche Faktoren oft eine zentrale Rolle in politischen Entscheidungen spielen. Damit verbunden ist eine auf den ersten Blick einleuchtende Hypothese: Wenn die Wirtschaftslage als schlecht eingestuft wird, dann steigt die Bereitschaft, für Oppositionsparteien oder Protestparteien zu stimmen. Wähler suchen nach Parteien, die glaubwürdige wirtschaftliche Lösungen versprechen, oder wenden sich populistischen Parteien zu, die einfache Antworten auf komplexe Probleme bieten. Wenn das zutreffend sein sollte, dann sieht es nicht gut aus für die bisherigen Regierungsparteien, wenn man sich die Entwicklung der Einschätzung der allgemeinen Wirtschaftslage in Deutschland hinsichtlich einer Bewertung mit „schlecht“ anschaut:

➔ Die Forschungsgruppe Wahlen führt seit 1977 regelmäßig für das ZDF Politbarometer-Umfragen durch. Diese erfassen Meinungen und Einstellungen der wahlberechtigten Bevölkerung zu aktuellen Ereignissen, zu Parteien und Politikern, aber auch zu allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen. Dabei werden in den westlichen Bundesländern jeweils ca. 1.000 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte befragt, in den östlichen Bundesländern ca. 500. Eine Überquotierung des Ostens erfolgt, um eigenständige Aussagen über die ostdeutschen Länder treffen zu können. Die Zusammenfassung dieser Befragten führt nach Ausgleich der Überquotierung im Osten rechnerisch zu ca. 1.250 Interviews. Weitere Erläuterungen findet man hier: Methodik der Politbarometer-Untersuchungen.
Die Einschätzungswerte am aktuellen Rand der Zeitreihe sehen nicht gut aus: Am Jahresende 2024 äußerten mehr als 40 Prozent der Befragten, dass die Wirtschaftslage in Deutschland schlecht sei, damit ist ein Niveau wie zuletzt während der Finanz- und Weltwirtschaftskrise 2009 erreicht.
In der Wahlforschung gibt es mit dem „Economic Voting“ einen eigenen Ansatz, über den seit vielen Jahren überaus strittig diskutiert wird (was angesichts der komplexen multifaktoriellen Einflussfaktoren auf die Wahlentscheidung nicht überraschen kann). Nach diesem Ansatz richten vereinfachend gesagt Wähler ihre Entscheidung nach wirtschaftlichen Entwicklungen aus. Dabei gibt es durchaus zwei unterschiedliche Pole des Ansatzes: Zum einen beurteilen Wähler ihre eigene wirtschaftliche Situation und entscheiden entsprechend („egocentric voting“), zum anderen behauptet das „sociotropic voting“, dass Wähler die allgemeine Wirtschaftslage bewerten und für Parteien stimmen, die sie für kompetent halten, damit (besser) umzugehen. Es würde durchaus einen erheblichen Unterschied ausmachen, welcher der beiden Ansätze eher zutrifft, wenn man sich ergänzend zu der Einschätzung der allgemeinen Wirtschaftslage in Deutschland anschaut, wie viele der Befragten die eigene wirtschaftliche Lage als „schlecht“ bewerten. Wenn man das macht, erhält man auf der Basis der Politbarometer-Daten ein sehr interessantes Ergebnis:

Obgleich die Wahrnehmung der allgemeinen Wirtschaftslage als „schlecht“ in den vergangenen Monaten mit Blick auf die Anteilswerte massiv angestiegen ist, bewegt sich der Anteil derjenigen, die ihre eigene wirtschaftliche Situation als „schlecht“ bewerten, weiterhin konstant knapp unter 10 Prozent. Insofern werden wir (erneut) Zeugen eines Auseinanderlaufens der negativen Sicht auf die allgemeine und die persönliche wirtschaftliche Lage, was man bereits um die Jahrtausendwende und später dann in der Finanz- und Weltwirtschaftskrise gesehen hat.
Kann das Wissen über die Bewertung der allgemeinen und der persönlichen wirtschaftlichen Lage helfen bei der Einschätzung dessen, was möglicherweise am 23. Februar 2025 auf uns zukommen wird? Wie bereits angedeutet handelt es sich bei den individuellen Wahlentscheidungen um höchst komplexe Ereignisse, die man keineswegs monokausal verengen kann und darf. Allerdings gibt es einige Hinweise aus der sozialwissenschaftlichen Diskussion hinsichtlich der Bedeutung der (tatsächlichen bzw. wahrgenommenen) wirtschaftlichen Situation. Bei der es natürlich auch und am aktuellen Rand zuweilen vor allem um die Frage geht, wie die Entwicklung der Anteilswerte der AfD einzuordnen ist.

(Mögliche) Auswirkungen wirtschaftlicher Faktoren auf die Wahlentscheidung
Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema sei hier beispielhaft auf diese Ausarbeitung Bezug genommen:
➔ Florian Dorn et al. (2024): Stabile Demokratien in wirtschaftlich schweren Zeiten?. ifo Forschungsberichte, Nr. 146, München: ifo Institut, September 2024
Dorn et al. (2024) unterscheiden zwei Ebenen bei der Untersuchung des Einflusses der wirtschaftlichen Situation auf politische Präferenzen:
➔ Die erste Ebene befasst sich mit dem Einfluss makroökonomischer Entwicklungen auf das Wahlverhalten. Diese Entwicklungen umfassen meistens das wirtschaftliche Wachstum (BIP), die Arbeitslosenquote oder verschiedene Ungleichheitsmaße.
➔ Die zweite Ebene befasst sich mit dem Einfluss der individuellen ökonomischen Situation auf die Wahlentscheidungen. Dabei werden beispielsweise die Entwicklung des eigenen Einkommens oder ein Arbeitsplatzverlust berücksichtigt, ebenso aber auch die relative Position in der Einkommensverteilung.
Aus der umfangreichen Studie sollen hier nur einige wenige Befunde zitiert werden:
➔ Die Literatur zum Einfluss der makroökonomischen Lage »dokumentiert robuste Korrelationen zwischen makroökonomischen Indikatoren und Wahlergebnissen. Niedrigeres Wirtschaftswachstum, höhere Arbeitslosigkeit oder Inflation gehen mit schlechteren Wahlergebnissen für die amtierende(n) Partei(en) bzw. die Amtsinhaber einher. Die Studienergebnisse zeigen auch, dass nicht nur die tatsächliche ökonomische Entwicklung eine Rolle spielt, sondern auch die (teilweise abweichende) eigene Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger zur makroökonomischen Lage.« (Dorn et al. 2024: 7).
➔ Die zweite Ebene der Literatur zu den Auswirkungen der wirtschaftlichen Situation auf die Wahlabsichten befasst sich mit dem Einfluss der individuellen ökonomischen Lage. Hier wird mit Blick auf die vorliegende Literatur hervorgehoben, »dass der Einfluss der gesamtwirtschaftlichen Lage grundsätzlich deutlich höher ist als der Einfluss der individuellen Lage. Dies scheint auch auf den Erfolg radikaler Parteien zuzutreffen. (Dorn et al. 2024: 8).
Ergänzende Hinweise auf die besondere Relevanz des „sociotropic voting“, dass Wähler also die Bewertung der allgemeinen Wirtschaftslage entscheidend gewichten (auch wenn die eigene ökonomische Situation davon abweicht), mit Blick auf die AfD-Wahlergebnisse finden sich in dieser Arbeit:
➔ Knut Bergmann et al. (2023): AfD in von Transformation betroffenen Industrieregionen am stärksten. IW-Kurzbericht, Nr. 71/2023, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft (IW), September 2023
Zuerst einmal halten die Autoren fest: »Der Hauptgrund für AfD-Neigung ist in der Ablehnung der aktuellen Migrationspolitik zu suchen.« Vor diesemHintergrund ist die Fokussierung des bisherigen Wahlkampfs auf eine primär negative, problematisierende Thematisierung von Migration sicherlich AfD-förderlich gewesen. Dann wird darauf hingewiesen, dass AfD-Anhänger in überdurchschnittlichem Maße zu Protokoll geben, sich große Sorgen nicht nur um die eigene wirtschaftliche Lage zu machen, sondern auch um die allgemeine wirtschaftliche Lage. »Bei der Interpretation dieser Einschätzungen ist zu berücksichtigen, dass AfD-Anhänger weder vor einigen Jahren noch heute primär aus sozial schwachen Schichten stammen, sondern meistens ökonomisch und statusmäßig etwas zu verlieren haben.«
»Insofern bieten die soziotropischen Umfeldbedingungen mehr Erklärungsgehalt für die Wahlergebnisse der Partei als die aktuelle individuelle wirtschaftliche Situation ihrer Wähler«, schlussfolgern Bergmann et al. (2023).
»Die positive Korrelation zwischen Industriearbeitsplätzen und AfD-Zweitstimmenergebnis bestätigt sich bei der Bundestagswahl 2021. Der Korrelationskoeffizient beträgt auf Kreisebene in Westdeutschland 0,49 – in Ostdeutschland sogar 0,68. Auf den ersten Blick stehen diese Befunde im Gegensatz zur verbreiteten Theorie, dass gerade der Verlust von (Industrie-)Arbeitsplätzen die Wähler in die Arme einer rechtspopulistischen Globalisierungs-Opposition treibe … Die AfD ist aber eben dort stark, wo die industrielle Basis weiterhin besteht – nicht umgekehrt.«
Das nun sollte man auf alle Fälle mit der in den vergangenen Monaten kräftig an Fahrt aufgenommenen Debatte über eine „Deindustrialisierung“ in Deutschland in Verbindung setzen, die sicher auch zu dem starken Anstieg der Anteilswerte für die Kategorie „schlechte“ allgemeine wirtschaftliche Lage (auch wenn die eigene davon unberührt geblieben ist) beigetragen hat.