Seien wir ehrlich – wie sehr wünscht man sich in diesen Zeiten mal gute Nachrichten. Botschaften, dass etwas besser geworden ist. Da sind solche Meldungen am Ende dieses in mehrfacher Hinsicht niederschmetternden Jahres sehr passend: Tariflöhne steigen 2024 nominal um durchschnittlich 5,5 Prozent – Reallohnzuwachs von 3,2 Prozent gibt erstmals wieder einen kräftigen Kaufkraftschub. Da ist schon die Überschrift mehr als lang. Schauen wir genauer hin, was die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung zu sagen hat:
»Die Tariflöhne in Deutschland steigen im Jahr 2024 nominal gegenüber dem Vorjahr um durchschnittlich 5,5 Prozent. Da der Anstieg der Verbraucherpreise im Jahresdurchschnitt 2024 mit voraussichtlich 2,2 Prozent gegenüber den historisch hohen Inflationsraten der Jahre 2022 und 2023 wieder deutlich zurückgegangen ist, erhalten die Tarifbeschäftigten mit durchschnittlich 3,2 Prozent erstmals wieder einen kräftigen Reallohnzuwachs.«
Zu diesem Ergebnis kommt das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in seiner vorläufigen Jahresbilanz für das Tarifjahr 2024.
Nominal entspricht die Zuwachsrate bei den Tariflöhnen im Jahr 2024 exakt der des Vorjahres. Im längerfristigen Vergleich ist sie jedoch außergewöhnlich hoch.
„Die Tariflohnentwicklung des Jahres 2024 ist nach wie vor eine Reaktion auf die außergewöhnlich hohen Inflationsraten der Vorjahre, in denen die Beschäftigten einen erheblichen Rückgang der Reallöhne hinnehmen mussten“, so Thorsten Schulten vom WSI-Tarifarchiv. Nun sind die Nominallöhne das eine, für die Kaufkraft relevant ist natürlich die Entwicklung der Reallöhne, also bei Berücksichtigung der Preisentwicklung. Und hier kann man der Abbildung entnehmen, dass es im gerade auslaufenden Jahr 2024 einen Anstieg der realen Tariflöhne in der Größenordnung von 3,2 Prozent gegeben hat.
„Durch die kräftigen Reallohnzuwächse in diesem Jahr konnten die Kaufkraftverluste der drei Vorjahre etwa zur Hälfte kompensiert werden.“ (Thorsten Schulen, WSI-Tarifarchiv)
Das preisbereinigte Niveau der Tariflöhne liegt insgesamt auf dem Niveau des Jahres 2018 und damit deutlich unter dem bisherigen Spitzenwert des Jahres 2020. „Auch wenn die Einkommen der Beschäftigten in diesem Jahr wieder Boden gut gemacht haben, besteht also weiterhin erheblicher Nachholbedarf“, so Schulten.
➔ »Im Jahr 2024 wurden für etwa 12,6 Millionen Beschäftigte neue Tarifabschlüsse getätigt. Hinzu kommen Tariferhöhungen für weitere 7,9 Millionen Beschäftigte, die bereits 2023 oder früher vereinbart wurden. Insgesamt profitieren damit in 2024 gut 20 Millionen Beschäftigte von tarifvertraglichen Lohnsteigerungen. In der Tarifrunde 2024 wurden in den meisten großen Tarifbranchen neue Tarifverträge vereinbart. Hierzu gehören etwa die Chemische Industrie und die Metall- und Elektroindustrie wie auch das Baugewerbe oder der Einzelhandel. Nicht verhandelt wurde hingegen im Öffentlichen Dienst, der Anfang nächsten Jahres den Auftakt der Tarifrunde 2025 bilden wird.«
Und eine besondere Rolle spielt eine Maßnahme der mittlerweile selbst-aufgelösten Ampel-Regierung zur Bewältigung der Inflationsfolgen: die Inflationsausgleichsprämien.
➔ Die Inflationsausgleichsprämien wurden in Deutschland durch das Gesetz zur steuerfreien Inflationsausgleichsprämie eingeführt, das am 26. Oktober 2022 in Kraft getreten ist. Die Regelung ermöglicht es Arbeitgebern, ihren Beschäftigten eine steuer- und sozialabgabenfreie Prämie von bis zu 3.000 Euro im Zeitraum vom 26. Oktober 2022 bis zum 31. Dezember 2024 zu zahlen, um die finanziellen Belastungen durch die hohe Inflation abzumildern. Es handelt sich also um eine grundsätzliche freiwillige Leistung der Arbeitgeber, auf die es keinen Rechtsanspruch der Arbeitnehmer gibt. Für den Staat entstehen Einnahmeausfälle, da die Prämien steuer- und sozialabgabenfrei sind. Allein die Steuerausfälle werden auf rund 5 bis 10 Milliarden Euro geschätzt, wenn alle berechtigten Arbeitnehmer eine Prämie bekommen. Natürlich sind auch die entsprechenden Einnahmeverluste in den parafiskalischen Systemen, also den Sozialversicherungen, in Rechnung zu stellen. Die unmittelbare Vorteilhaftigkeit der vom Staat subventionierten Inflationsausgleichsprämien liegt darin, dass man mit dem Betrag (oder den in Tranchen gestückelten Beträgen) einen unmittelbaren Netto-Effekt in den Taschen der Beschäftigten erreichen und man den in gerade laufende Tarifverhandlungen beim Gesamtergebnis berücksichtigen kann. Zugleich handelt es sich nur um einen einmalige Leistung, was bedeutet, dass es nicht zu einer dauerhaften Kostenbelastung für die Arbeitgeberseite kommt, weil die Tabellenwerte der Tarifverträge nicht angehoben werden. Damit kann man einen aktuellen Tarifanschluss „größer“ aussehen lassen, ohne dass es zu einer ansonsten mit Tariflohnerhöhungen verbundenen dauerhaften Arbeitskosten-Erhöhung kommt.
Dazu mit Blick auf die Bedeutung für die Tariflohnentwicklung die Hans-Böckler-Stiftung:
➔ »Einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Tariflöhne leisten im Jahr 2024 wiederum die sogenannten Inflationsausgleichsprämien (IAPs), die in nahezu allen großen Tarifbranchen wie auch in vielen kleinen Tarifbereichen vereinbart wurden. Bei den IAPs handelt es sich um steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen, die den Beschäftigten, im Vergleich zu einer regulären Tariferhöhung, einen höheren Nettolohn und den Arbeitgebern niedrigere Arbeitskosten ermöglichen. Je nach Tarifbereich variieren die IAPs zwischen einigen hundert bis zu 3.000 Euro. In vielen Fällen werden sie über einen Zeitraum von zwei Jahren in mehreren Tranchen oder auch als monatliche Zusatzzahlungen gewährt. Insgesamt können die IAPs bis Ende 2024 ausgezahlt werden, so dass sie in diesem Jahr noch einmal stark zur Geltung kommen.«
Inflationsausgleichsprämien als Einmalzahlungen seien durchaus ein zweischneidiges Schwert, so Thorsten Schulten vom WSI: »Auf der einen Seite haben sie kurzfristig geholfen, Kaufkraftverluste zu begrenzen und sorgen in diesem Jahr für besonders hohe Reallohnzuwächse. Schon jetzt ist allerdings auch absehbar, dass sich der Wegfall der Inflationsausgleichsprämien im Jahr 2025 stark dämpfend auf die Tariflohnentwicklung auswirken wird.«
Tariflöhne gut und schön – aber was ist mit den anderen?
Nun wird der aufmerksame Leser bemerkt haben, dass hier die ganze Zeit von Tariflöhnen die Rede war – aber, so der berechtigte Einwand, einen solchen bekommen natürlich nur die tarifgebundenen Beschäftigten. Und bekanntlich haben nicht alle Beschäftigte eine tarifvertraglich abgesicherte Entlohnung.
➔ Wie hoch ist der Anteil der Arbeitnehmer, deren Beschäftigungsverhältnis durch Tarifverträge geregelt ist? Dazu berichtet das Statistische Bundesamt: »Für rund 49 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland war das Beschäftigungsverhältnis 2023 durch einen Tarifvertrag geregelt. Allerdings gibt es Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern.«
»Für 44 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den alten Bundesländern war das Beschäftigungsverhältnis 2023 durch einen Branchentarifvertrag geregelt. Für 7 % der Beschäftigten galten Firmentarifverträge.« Zusammen sind es also 51 %.
Und in Ostdeutschland? »In den neuen Ländern war die Tarifvertragsbindung deutlich niedriger. Hier galten für 31 % der Beschäftigten Branchentarifverträge. 14 % arbeiteten in Unternehmen mit Firmentarifverträgen.« Hier sind es 45 %.
»Für 49 % der Beschäftigten im Westen und 56 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Osten gab es keinen Tarifvertrag.«
Hinzu kommt, dass die Tarifbindung nach Branchen und nach Betriebsgröße teilweise erheblich variiert. In sehr kleinen Betrieben mit 1 bis 4 Beschäftigten beläuft sich der Anteil der Beschäftigten mit Branchen- oder Flächentarifvertrag auf nur 14 %, in großen Unternehmen mit mehr als 200 Beschäftigten sind es hingegen 62 %.
Wenn man wissen möchte, wie sich die Nominal- und Reallöhne aller Beschäftigten entwickelt haben, also nicht nur der einen Hälfte der tarifgebunden arbeitenden Menschen, dann schaut man in den Nominal- und Reallohnindex des Statistischen Bundesamtes. Und hier zeigt sich der folgende Befund:
Ab Mitte des Jahres 2023 ist die Reallohnentwicklung wieder im positiven Bereich, nach teilweise erheblichen Verlusten seit der zweiten Jahreshälfte 2021 im Gefolge der damals aus dem Ruder laufenden Inflation. Die rückläufigen Steigerungsraten des Verbraucherpreisindex ziehen in Verbindung mit im Vergleich außerordentlich hohen Nominallohnsteigerungen auch die Reallöhne aller Beschäftigten nach oben.
➔ Dabei sei hier auf diesen sozialpolitisch relevanten Befund hingewiesen: Geringverdiener mit überdurchschnittlichem Nominallohnanstieg. Betrachtet man nur die Vollzeitbeschäftigten nach ihrer Verdienstgrößenklasse, hatte das Fünftel mit den geringsten Verdiensten (1. Quintil) mit einem durchschnittlichen Nominallohnwachstum von 7,3 % zum Vorjahreszeitraum die stärksten Verdienststeigerungen im 3. Quartal 2024 (genrell lag der Nominallohnanstieg bei 4,9 %). Damit setzte sich der Trend fort, dass die Nominallöhne von Geringverdiener prozentual am stärksten steigen. Wobei sich natürlich die prozentualen Anstiege auf niedrige Arbeitseinkommen beziehen.
Allerdings sind die Reallöhne im 3. Quartal 2024 erst wieder auf dem Niveau angekommen, das für den Beginn des Jahres 2022 ausgewiesen wurde:
Und wenn man die Löhne preisbereinigt am Verbraucherpreisindex, dann muss man natürlich berücksichtigen, dass es sich hierbei um einen hoch aggregierten Durchschnittswert handelt, um den herum die einzelnen Verbrauchspositionen teilweise ganz erheblich mit ihren Preissteigerungen streuen. Und jeder wird es gemerkt haben, dass die Preisanstiege gerade in den für untere und mittlere Einkommensbereiche, in denen sich die meisten Lohnabhängigen bewegen müssen, besonders relevanten Konsumbereichen wie Lebensmittel, Energie usw. deutlich über dem in der allgemeinen Inflationsrate liegen. Und auch wenn der Preisanstieg niedriger ausfällt, ist es ja nicht so, dass die Preise an sich wieder rückläufig sind, sie bleiben auf dem teilweise überdurchschnittlich hohen Niveau, auf das sie die Inflationswelle gespült hat.
Das hatte Auswirkungen auf das – derzeit nicht vorhandene – Wirtschaftswachstum, wenn man berücksichtigt, dass die privaten Konsumausgaben (unter dafür sind die Löhne immer noch der Hauptbestimmungsfaktor) einen Anteil vom mehr als 52 Prozent am nominalen wie auch realen Bruttoinlandsprodukt haben. Wenn dieser Ausgabenposten schwächelt (oder expandiert), dann hat das unterm Strich entsprechend starke negative (oder positive) Auswirkungen auf die am BIP gemessene volkswirtschaftliche Wertschöpfung.
Das schlägt sich dann nieder in solchen, nicht überraschenden Diagnose-Formulierungen in den Winter-Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute: Der private Konsum stützt das Wachstum derzeit nur begrenzt, obwohl die Realeinkommen weiter zulegen. Zur allgemein eher pessimistischen Stimmung der Verbraucher kommen Sorgen um den Arbeitsplatz, die die Kauflaune zusätzlich trüben. Geld wird lieber auf die hohe Kante gelegt, die Sparquote hat sich zuletzt erneut erhöht, so beispielsweise das DIW unter der Überschrift Deutsche Wirtschaft dümpelt vor sich hin – Belebung wird zur Zitterpartie. Dass sich das im demnächst beginnenden Jahr 2025 kräftig ändern wird, kann man annehmen (wie das DIW, wo man davon ausgeht, »dass der private Konsum im kommenden Jahr wieder anzieht – gestützt von weiter steigenden Einkommen, sinkender Inflation und einer wieder stabileren Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt«). Man kann so eine Annahme aber auch für einen überschießenden Optimismus halten, der eher dem Motto zu folgen scheint: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Man sollte nicht vergessen, dass die Kaufkraftverluste der vergangenen Jahre bislang nicht annähernd wieder aufgeholt werden konnten. Und im kommenden Jahr kann man sicher nicht mit den Lohnsteigerungen rechnen, die wir 2023 und noch 2024 gesehen haben.