Das Nationale Forschungsprogramm „Fürsorge und Zwang – Geschichte, Gegenwart, Zukunft“ (NFP 76). In der Schweiz

Im Jahr 2017 beauftragte der Bundesrat den Schweizerischen Nationalfonds (SNF), ein Forschungsprogramm zum Thema Fürsorge und Zwang durchzuführen. Bis Ende 2023 analysierten rund 150 Wissenschaftler in 29 Projekten des Merkmale, Mechanismen und Wirkungen der schweizerischen Fürsorgepolitik und -praxis.

Wer in der Schweiz in Not gerät und auf Hilfe angewiesen ist, wird vom Sozialwesen unterstützt. Kindes- und Erwachsenenschutz, Sozialhilfe, Opferberatung und weitere Stellen helfen Kindern und Jugendlichen, Kranken und Menschen mit Behinderungen, Migranten und Geflüchteten. Das Sozialwesen und der Sozialstaat sind aber historisch belastet. Mehrere hunderttausend Menschen waren im 20. Jahrhundert von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffen, viele wurden Opfer von Misshandlung, Missbrauch und wirtschaftlicher Ausbeutung, berichtet der Schweizer Nationalfonds.

In vielen Bereichen wurden inzwischen Verbesserungen umgesetzt. Gesetzlich legitimierte Maßnahmen sind jedoch je nach Situation nach wie vor mit Zwang verbunden oder werden von den Betroffenen als Zwang empfunden. Deren Rechte werden teilweise missachtet. Dies zeigen die Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms «Fürsorge und Zwang» (NFP 76)

(Nicht-)Selbstbestimmung der Betroffenen

»In den letzten fünfzig Jahren hat sich das Sozialwesen verändert. Der Kindes- und Erwachsenenschutz ist auf gesetzlicher Ebene modernisiert worden, das Kindeswohl steht im Zentrum, die Stellung Minderjähriger in rechtlichen Verfahren ist gestärkt. Die Schweiz hat die Kinderrechtskonvention und die Behindertenrechtskonvention der UNO unterzeichnet. Doch die kantonalen Zuständigkeiten und die komplexe Behördenorganisation führen zu Rechtsungleichheiten, besonders was die Mitwirkungsmöglichkeiten der Betroffenen angeht. Für Letztere sind Transparenz und Rechtssicherheit oft nicht gegeben, wenn sie beispielsweise nicht nachvollziehen können, welche Funktion die Fachperson hat, die ihnen für Abklärungen einen Wohnungsbesuch abstattet.«

Das Forschungsprogramm kommt zu dem Schluss, dass die Verfahren im Kindes- und Erwachsenenschutz auf Bundesebene harmonisiert werden sollen.

»Der Zugang zu den relevanten Informationen ist zu vereinfachen. Dazu gehört die verbesserte Aufklärung über Rechte und Pflichten sowie der Abbau administrativer und sprachlicher Barrieren, damit die Partizipation von Betroffenen gewährleistet, ihre Integrität geschützt und ihre Autonomie gefördert werden.«

»Menschen, die Ende der 1950er Jahre als Säuglinge in Heimen platziert wurden, kamen oft aus Gastarbeiterfamilien oder waren Kinder von ledigen Müttern. Sie weisen bis ins späte Erwachsenenalter mehr gesundheitliche Probleme und eine geringere Lebenserwartung auf als Kinder, die nie in einem Heim platziert waren. Zudem ist die Entwicklung ihrer kognitiven, motorischen, sozialen und emotionalen Fähigkeiten verlangsamt,« so eines der Ergebnisse des Forschungsprogramms. Die Schlussfolgerung: »Interventionen von Behörden können sich also ein Leben lang negativ auswirken. Daher sollten diese behutsam vorgehen. Alle Kinder sollen gleiche Bildungs- und Berufschancen erhalten, und vulnerable Jugendliche, etwa unbegleitete minderjährige Geflüchtete, sind an den Übergängen in das Erwachsenenleben zu begleiten und auf dem Weg in die Selbständigkeit zu unterstützen.«

Und auch in der Schweiz hängt vieles an der Art und Weise der Finanzierung

»Die Betreuung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in prekären Situationen beruht auf einem Finanzierungsmix, an dem gleichzeitig Bund, Kantone und Gemeinden beteiligt sein können. Liegt die Entscheidung bei den Gemeinden, die auch für die Sozialhilfe zuständig sind, werden beispielsweise weniger Fremdplatzierungen angeordnet als wenn kantonale Verwaltungsbehörden oder Gerichte entscheiden.«

Es wird dafür plädiert, die Finanzierung so zu regeln, dass Fehlanreize vermieden werden und genügend Ressourcen zur Verfügung stehen. Einfacher geschrieben als umzusetzen, eine Erfahrung, die wir im ebenfalls föderal strukturierten Deutschland in den meisten Handlungsfeldern der Sozialpolitik auch jeden Tag machen müssen.

Gefordert wird, »dass Fachpersonen etwa in der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie in der Aus- und Weiterbildung für stigmatisierende Wirkungen ihrer Arbeit zu sensibilisieren sind, zum Beispiel wenn sie psychologische und medizinische Diagnosen vornehmen. Hierfür brauchen sie im beruflichen Alltag zeitliche und finanzielle Ressourcen.«

»Die behördlichen Eingriffe tangieren nicht nur die Direktbetroffenen, sondern auch die Nachkommen. Unwissentlich gaben und geben Eltern ihre traumatischen und traumatisierenden Erfahrungen weiter. «Um zu verhindern, dass nach der zweiten eine dritte Generation betroffen ist, braucht es einen einfachen Zugang zu unentgeltlicher Unterstützung», sagt Alexander Grob, Präsident der Leitungsgruppe des NFP 76. Dazu gehören Beratung und Hilfe bei der Aufarbeitung und Dokumentation von Lebensgeschichten. Auch und besonders ist die öffentliche Anerkennung des Leids weiterhin nötig.«

Das NFP 76 identifiziert Schwachpunkte der Sozialpolitik und gibt Empfehlungen, was sich ändern sollte. Eine Synthese der zahlreichen Einzelprojekte findet man in dieser Veröffentlichung:

➔ Leitungsgruppe NFP 76 (2024): Eingriffe in Lebenswege. Ergebnisse und Impulse des Nationalen Forschungsprogramms «Fürsorge und Zwang» (NFP 76), Bern: Schweizerischer Nationalfonds, Mai 2024

Es gibt dazu drei weitere Buchveröffentlichungen, alle im Open Access zugänglich:

➔ Christoph Häfeli et al. (Hrsg.) (2024): Zwischen Schutz und Zwang – Normen und Praktiken im Wandel der Zeit, Basel 2024
»Fürsorgerische Massnahmen gegenüber Erwachsenen und Minderjährigen bewegen sich in einem Spannungsfeld, das von juristischen Normen, professionellen Diskursen, behördlichen Praktiken und öffentlichen Meinungen gekennzeichnet ist. Die Beiträge untersuchen dieses Spannungsfeld in historischer und Gegenwartsperspektive. Gefragt wird nach den Wechselwirkungen zwischen Normen, Diskursen und Praktiken sowie nach den Faktoren für Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der zeithistorischen Entwicklung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen.«

➔ Vincent Barras et al. (Hrsg.) (2024): Diffuse Verantwortlichkeiten. Strukturen, Akteur:innen und Bewährungsproben, Basel 2024
»Welche Strukturen, Institutionen und Akteure sind in der Schweiz des 19. bis 21. Jahrhunderts an der Politik und Umsetzung von Fürsorge und Zwang beteiligt? Diesem Themenkomplex ist der Band gewidmet. Untersucht werden strukturelle Merkmale von Fürsorge und Zwang und Fragen der Verantwortlichkeiten von Anordnung, Vollzug und Aufsicht der Massnahmen im jeweiligen wirtschaftlichen und politischen Kontext. In den Blick kommen dabei etwa die Rolle der Psychiatrie, der Einsatz von Hausbesuchen oder die Leitbilder und Handlungsspielräume von Fachpersonen.«

➔ René Knüsel et al. (Hrsg.) (2024): Schicksale der Fremdplatzierung. Behördenentscheidungen und Auswirkungen auf den Lebenslauf, Basel 2024
»Die Schweizer Behörden liessen im 20. Jahrhundert Zehntausende von Kindern und Jugendlichen fremdplatzieren. In diesem Band werden die Auswirkungen dieser Entscheidungen auf den Lebensweg der Betroffenen aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet. Dabei werden auch die heutigen Praktiken von Fremdplatzierungen in den Blick genommen.«