„Die“ Inflation und ihre Streuung zwischen unten und oben

Am 13. Oktober 2022 meldet das Statistische Bundesamt unter der Überschrift Inflationsrate im September 2022 bei +10,0 %. Vor allem Energie- und Nahrungsmittelpreise sorgen für neuen Höchststand: »Die Inflationsrate in Deutschland − gemessen als Veränderung des Verbraucherpreisindex (VPI) zum Vorjahresmonat – lag im September 2022 bei +10,0 %. Die Inflationsrate hat sich damit nach +7,9 % im August 2022 sprunghaft erhöht und verweilt seit sieben Monaten oberhalb von 7 %.« Die Inflationsrate hat damit einen neuen Höchststand im vereinigten Deutschland erreicht. Georg Thiel, Präsident des Statistischen Bundesamtes, wird mit diesen Worten zitiert: „Hauptursachen für die hohe Inflation sind nach wie vor enorme Preiserhöhungen bei den Energieprodukten. Aber wir beobachten zunehmend auch Preisanstiege bei vielen anderen Gütern, besonders bei den Nahrungsmitteln. Zudem haben das Auslaufen von 9-Euro-Ticket und Tankrabatt den Preisauftrieb im September 2022 verstärkt. Diese zeitlich begrenzten Maßnahmen des zweiten Entlastungspakets hatten sich von Juni bis August 2022 dämpfend auf die Gesamtteuerung ausgewirkt.“ Nach Inkrafttreten der Entlastungsmaßnahmen im Juni 2022 hatte das Statistische Bundesamt den dämpfenden Effekt der Entlastungsmaßnahmen auf den Verbraucherpreisindex auf etwa einen Prozentpunkt geschätzt.

»Die Preise für Energieprodukte lagen im September 2022 um 43,9 % über dem Niveau des Vorjahresmonats … Haushaltsenergie verteuerte sich mit +51,8 % besonders stark: So haben sich die Preise für leichtes Heizöl binnen Jahresfrist mit +108,4 % mehr als verdoppelt, die Teuerung für Erdgas betrug +95,1 %. Die Preise für Strom erhöhten sich um 21,0 %, die Abschaffung der EEG-Umlage seit Juli 2022 federte die Strompreiserhöhung nur leicht ab. Die Teuerung für Kraftstoffe lag im September 2022 bei +30,5 % … Ursachen für die teuren Energieprodukte sind insbesondere die starken Anstiege der internationalen Einkaufspreise.«

»Die Preise für Nahrungsmittel erhöhten sich im September 2022 um 18,7 % gegenüber dem Vorjahresmonat und damit stärker als die Gesamtteuerung. Insgesamt hat sich der Preisauftrieb hierfür seit Jahresbeginn sukzessive verstärkt (August: +16,6 %). Erneut wurden im September 2022 bei allen Nahrungsmittelgruppen Preiserhöhungen beobachtet.«

4,6 % statt 10 %?

Welche besondere preistreibende Bedeutung Energie und Nahrungsmittel haben, wird an diesen Zahlen erkennbar: »Im September 2022 lag die Inflationsrate ohne Energie bei +6,0 %. Wie stark aktuell zudem die Nahrungsmittelpreise Einfluss auf die Gesamtteuerungsrate nehmen, zeigt sich an der Inflationsrate ohne Berücksichtigung von Energie und Nahrungsmitteln: Sie lag deutlich niedriger bei +4,6 % und damit nicht einmal halb so hoch wie die Gesamtinflationsrate.«

Das ist natürlich nur eine rechnerische Operation, um den Stellenwert von besonderen Bereichen für die aktuelle Inflationsentwicklung hervorzuheben – für die betroffenen Menschen gibt es diese Option eines Herausrechnens nicht und „die“ betroffenen Menschen gibt es so wenig wie „die“ Inflationsrate, die ein hoch aggregierter Durchschnittswert darstellt. In der Lebenswirklichkeit kann es erhebliche Streuungen um diesen Durchschnittswert geben. Und es gibt sie.

8 % die einen, 11,4 % die anderen?

Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gibt in diesen Zeiten besonders hilfreich und wertvoll einen monatlichen „Inflationsmonitor“ heraus, in dem ein differenzierter Blick auf die Preisentwicklung geworfen wird.

In der Oktober-Ausgabe wird zum einen über die offizielle 10 % („für alle“) berichtet, zum anderen aber wird die Spannweite „der“ Inflationsrate aufgezeigt – und der Finger auf eine offene Wunde gelegt:

»Weit überdurchschnittlich belastet sind einkommensschwache Familien und, in etwas abgeschwächter Form, Alleinlebende mit niedrigem Einkommen. Gemessen an den für diese Haushaltstypen repräsentativen Warenkörben trugen Familien mit niedrigem Einkommen im September eine Inflationsbelastung von 11,4 Prozent, bei ärmeren Singles waren es 10,8 Prozent. Dagegen weisen Alleinlebende mit hohem Einkommen wie in den Vormonaten die im Vergleich geringste haushaltsspezifische Teuerungsrate auf: 8,0 Prozent. Damit hat sich die soziale Schere bei den Inflationsraten gegenüber August noch einmal deutlich geöffnet, von 2,1 auf 3,4 Prozentpunkte.
Das ist der höchste in diesem Jahr gemessene Wert und liegt daran, dass die größten Preistreiber – Haushaltsenergie und Lebensmittel – bei den Einkäufen von Haushalten mit niedrigen bis mittleren Einkommen einen größeren Anteil ausmachen als bei wohlhabenden. Auch Alleinerziehende und Familien mit jeweils mittleren Einkommen hatten mit 10,4 Prozent bzw. 10,2 Prozent etwas überdurchschnittliche Teuerungsraten zu tragen, während kinderlose Paare und Alleinlebende mit jeweils mittleren Einkommen mit 9,9 Prozent sehr nahe am allgemeinen Durchschnitt lagen. Familien und Alleinlebende mit jeweils höheren Einkommen wiesen unterdurchschnittliche Raten von 9,3 bzw. 9,5 Prozent auf.«

„Die spezifischen Inflationsraten zeigen, dass Haushalte mit geringeren Einkommen durch den Preisanstieg bei Haushaltsenergie überproportional belastet sind und sich hier auch die Verteuerung der Nahrungsmittel stärker niederschlägt“, so Silke Tober und Sebastian Dullien, die den Monitor erstellen.

»So schlugen bei Familien mit zwei Kindern und niedrigem Einkommen diese beiden Gütergruppen des täglichen Grundbedarfs mit 7,2 Prozentpunkten auf die haushaltsspezifische Inflationsrate von 11,4 Prozent durch, bei einkommensschwachen Alleinlebenden machten sie sogar 7,9 Prozentpunkte der 10,8 Prozent spezifische Teuerung aus. Bei einkommensstarken Alleinlebenden entfielen darauf hingegen lediglich 3,3 Prozentpunkte von insgesamt 8,0 Prozent.«

Warum die einkommensstarken Alleinlebenden dennoch eine Inflation von immerhin noch 8 % erfahren? »Bei diesen Haushalten sorgten dagegen die im Vorjahresvergleich ebenfalls erheblichen Preisanstiege bei Pauschalreisen, Gaststättendienstleistungen oder Wohnungsinstandhaltung für höhere Ausgaben.« Diese Differenzierung der Preissteigerungsquellen ist wichtig:

»Das Problem, dass Haushalte mit niedrigem bis mittlerem Einkommen aktuell auch noch besonders hohe Inflationsbelastungen tragen, wird dadurch verschärft, dass vor allem Ärmere grundsätzlich besonders unter starker Teuerung leiden … Die Alltagsgüter, die sie vor allem kaufen, sind kaum zu ersetzen. Zudem besitzen diese Haushalte kaum Spielräume, ihr Konsumniveau durch Rückgriff auf Erspartes aufrecht zu erhalten.«

Vor diesem Hintergrund sei die Stabilisierung von Einkommen und die staatliche Entlastungspolitik von besonderer Bedeutung, so das IMK. Dazu bilanzieren die IMK-Wissenschaftler:

»Die von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen gingen, insbesondere nach den durch das 3. Entlastungspaket vorgenommenen Ergänzungen, „weitgehend in die richtige Richtung“ … So komme die Energiepreispauschale in Höhe von 300 Euro, die Erwerbstätige im September erhalten haben, und die im Dezember an Menschen im Ruhestand und andere zuvor ausgelassene Gruppen gezahlt wird, insbesondere Haushalten mit niedrigerem Einkommen zugute, da sie versteuert werden muss. Dasselbe gilt für die Pauschalen, die für Kinder gezahlt wurden.«

Und dann wird ein Blick geworfen auf die Vorschläge zur Einführung einer „Gaspreisbremse“:

Die Vorschläge der Gaskommission für eine Gaspreisbremse sind ein wichtiger Baustein, um weitere deutliche Preisschübe in den kommenden Monaten zumindest in wichtigen Teilen abzufangen. Auch die Senkung der Mehrwertsteuer auf Erdgas und der Verzicht auf die Gasumlage lassen – bei allen Unwägbarkeiten durch weitere Eskalationen im Ukraine-Krieg – etwas optimistischer auf den weiteren Inflationsverlauf schauen als noch vor einem Monat. Die Gaspreisbremse in der derzeit diskutierten Form sei „ein großer Beitrag, um über den Winter Zahlungsausfälle und finanzielle Not bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein zu verhindern“, so Sebastian Dullien. »Der Staat würde im Schnitt etwas mehr als 40 Prozent der Heizrechnung übernehmen, wenn Haushalte weiter so Gas verbrauchen wie im Vorjahr. Diese prozentuale Entlastung ist unabhängig vom Gasverbrauch und Einkommen, und gilt damit für Menschen in einer 60-Quadratmeter-Wohnung genauso wie für jene mit einem alten, schlecht isolierten Haus auf dem Land.«

Aber der Ansatz wird auch kritisch gesehen: »Die vorgeschlagene prozentuale Übernahme der Heizkosten basierend auf dem üblichen Verbrauch durch den Staat bedeute allerdings auch, dass Haushalte mit hohem Verbrauch und hoher Heizrechnung in Euro gerechnet stärker entlastet werden als Haushalte mit niedrigem Verbrauch. Und während es auch bei Geringverdienenden Haushalte mit hohem Gasverbrauch gibt, kommt das in den oberen Einkommensdezilen mit durchschnittlich größeren Wohnflächen häufiger vor. Wenn die Entlastung ohne Obergrenze geschehe, erhielten Besitzer von großen Luxusimmobilien Entlastungsbeträge, die im Extremfall den Durchschnitt um ein Mehrfaches übersteigen könnten.« Da Energieversorger aktuell gar nicht wissen, ob hinter einem Anschluss beispielsweise eine Villa mit Privatschwimmbad oder ein Mehrfamilienhaus mit 10 Mietparteien steckt, sei dieses Problem administrativ nicht einfach zu lösen. Schon gar nicht bei dem enormen Zeitdruck, unter dem die Gaskommission arbeiten musste.

Dennoch überwiegt offensichtlich die positive Bewertung der geplanten Gaspreisbremse. Von anderer Seite wird dies gerade mit Blick auf die besonders betroffenen Personengruppen im unteren Einkommensbereich deutlich kritischer gesehen, dazu stellvertretend der Beitrag Die Gaspreisbremse ist unsozial von Marcel Fratzscher: »Trotz Gaspreisbremse geht die Energiekrise zulasten der Einkommensschwächsten. Besserverdiener brauchen keine Entlastung.«

Den Oktober-Bericht des Inflationsmonitors1 im Original gibt es hier:

➔ Sebastian Dullien und Silke Tober (2022): IMK Inflationsmonitor – Erdgas- und Strompreise treiben massive Teuerung der Haushaltsenergie im September 2022. IMK Policy Brief Nr. 137, Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Oktober 2022

1 Für den IMK Inflationsmonitor werden auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamts die für unterschiedliche Haushalte typischen Konsummuster ermittelt. So lässt sich gewichten, wer für zahlreiche verschiedene Güter und Dienstleistungen – von Lebensmitteln über Mieten, Energie und Kleidung bis hin zu Kulturveranstaltungen und Pauschalreisen – wie viel ausgibt und daraus die haushaltsspezifische Preisentwicklung errechnen. Die Daten zu den Haushaltseinkommen stammen ebenfalls aus der EVS. Im Inflationsmonitor werden neun repräsentative Haushaltstypen betrachtet: Paarhaushalte mit zwei Kindern und niedrigem (2000-2600 Euro), mittlerem (3600-5000 Euro), höherem (mehr als 5000 Euro) monatlichem Haushaltsnettoeinkommen; Haushalte von Alleinerziehenden mit einem Kind und mittlerem (2000-2600 Euro) Nettoeinkommen; Singlehaushalte mit niedrigem (unter 900 Euro), mittlerem (1500-2000 Euro), höherem (2000-2600 Euro) und hohem (mehr als 5000 Euro) Haushaltsnettoeinkommen sowie Paarhaushalte ohne Kinder mit mittlerem Haushaltsnettoeinkommen zwischen 3600 und 5000 Euro monatlich.