Es gab ja mal eine Zeit, in der intensiv darüber diskutiert wurde, dass Deutschland angeblich kein Einwanderungsland sei. Schaut man sich dann solche aktuelle Meldungen an, dann wird klar, dass wir (schon seit langem) natürlich in einer Einwanderungsgesellschaft leben: Gut jede vierte Person in Deutschland hatte 2021 einen Migrationshintergrund, berichtet das Statistische Bundesamt in einer Mitteilung vom 12. April 2022. »Im Jahr 2021 hatten 22,3 Millionen Menschen und somit 27,2 % der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund.« Das sind viele.
Was muss man sich unter diesem „Migrationshintergrund“ vorstellen, eine immer wieder auftauchende Begrifflichkeit, die so abstrakt und fast schon konturlos daherkommt? Die Statistiker verwenden für ihre Zählung diese Definition: »Eine Person hat nach der hier verwendeten Definition einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde.«
Wenn es wie hier um das Thema Wahlen geht, dann muss man unterscheiden, ob die entsprechende Person überhaupt das Wahlrecht hat. Das ist im Regelfall geknüpft an die deutsche Staatsangehörigkeit. Dazu erfahren wir vom Statistischen Bundesamt:
»Im Jahr 2021 hatten 53 % der Bevölkerung mit Migrationshintergrund (knapp 11,8 Millionen Menschen) die deutsche Staatsangehörigkeit und gut 47 % eine ausländische Staatsangehörigkeit (knapp 10,6 Millionen Menschen).«
Und differenzierend geht es weiter: »Mehr als die Hälfte der 11,8 Millionen Deutschen mit Migrationshintergrund besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit seit der Geburt (54 %). Sie haben einen Migrationshintergrund, weil mindestens ein Elternteil ausländisch, eingebürgert, deutsch durch Adoption oder (Spät-)Aussiedlerin oder Aussiedler ist. Weitere 23 % sind selbst als (Spät-)Aussiedlerin oder Aussiedler nach Deutschland gekommen, 22 % sind eingebürgert und etwa 1 % besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit durch Adoption.«
Woher kommen die Menschen mit Migrationshintergrund (bzw. deren Eltern)?
»Knapp zwei Drittel (62 %) aller Personen mit Migrationshintergrund sind aus einem anderen europäischen Land Eingewanderte oder deren Nachkommen. Dies entspricht 13,9 Millionen Menschen, von denen 7,5 Millionen Wurzeln in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben. Die zweitwichtigste Herkunftsregion ist Asien. Die 5,1 Millionen aus Asien Eingewanderten und ihre Nachkommen machen 23 % der Personen mit Migrationshintergrund aus, darunter haben 3,5 Millionen einen Bezug zum Nahen und Mittleren Osten. Knapp 1,1 Millionen Menschen (5 %) haben Wurzeln in Afrika. Weitere 0,7 Millionen Menschen (3 %) sind aus Nord-, Mittel- und Südamerika sowie Australien Eingewanderte und deren Nachkommen.«
»Wichtigste Herkunftsländer sind die Türkei (12 %), gefolgt von Polen (10 %), der Russischen Föderation (6 %), Kasachstan (6 %) und Syrien (5 %). 1 % oder 308 000 der im Jahr 2021 in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund stammten aus der Ukraine, wobei die überwiegende Mehrheit (82 %) selbst zugewandert ist und durchschnittlich seit 19 Jahren in Deutschland lebte.« Die Zahl der Menschen aus der Ukraine könnte bzw. wird aufgrund der aktuellen Fluchtereignisse wahrscheinlich stark ansteigen, das konnte sich in den hier präsentierten Daten noch nicht niederschlagen.
Und auch zur Sprache erfahren wir einiges: »Von den 22,3 Millionen Personen mit Migrationshintergrund sprechen zu Hause 7,2 Millionen (32 %) ausschließlich und weitere 3,1 Millionen (14 %) vorwiegend deutsch. Dies entspricht zusammen knapp der Hälfte (46 %) aller Menschen mit Migrationshintergrund. Neben Deutsch sind die am häufigsten gesprochenen Sprachen Türkisch (8 %) gefolgt von Russisch (7 %) und Arabisch (5 %). Knapp die Hälfte (49 %) aller Personen mit Migrationshintergrund ist mehrsprachig und spricht zu Hause sowohl Deutsch als auch (mindestens) eine weitere Sprache.«
Eine methodische Anmerkung zur Herkunft der Zahlen: Die Daten stammen aus dem Mikrozensus. Der Mikrozensus ist eine Stichprobenerhebung, bei der jährlich rund 1 % der Bevölkerung in Deutschland befragt wird. Alle Angaben beruhen auf Selbstauskünften der Befragten. Um aus den erhobenen Daten Aussagen über die Gesamtbevölkerung treffen zu können, werden die Daten an den Eckwerten der Bevölkerungsfortschreibung hochgerechnet. Der Mikrozensus ist die einzige derzeit verfügbare amtliche Datenquelle zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund.
Wählen die Einwanderer und wenn ja, welche Partei? Da soll sich was verändert haben
Viele haben bestimmte Bilder im Kopf, wenn es um das Abstimmungsverhalten von wahlberechtigten Menschen mit einer Migrationsgeschichte geht. Dass beispielsweise die Aussiedler bzw. Spätaussiedler (früher) vor allem die CDU/CSU gewählt haben (und seit einigen Jahren viele auch die AfD), während Einwanderer und ihre Kinder aus der Türkei ihre Kreuz vor allem bei der SPD gemacht haben. Und schaut man zurück in vergangene Forschungsbefunde, dann scheinen diese Bilder auch ihre Grundlage gehabt zu haben.
»Für welche Partei entscheiden sich die Einwanderer und ihre Kinder aus der Türkei oder der ehemaligen Sowjetunion mit einem deutschen Pass bei einer Bundestagswahl? Dieser Frage gingen jetzt Politikwissenschaftler der Universität Duisburg-Essen (UDE) und der Universität zu Köln erstmals in einer Studie nach, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde«, so ein Bericht der UDE, der am 2. März 2018 unter der Überschrift Wie Einwanderer und ihre Kinder wählen veröffentlicht wurde. Hier geht es um die „Immigrant German Election Study“, die sich mit dem Wahlverhalten von Deutschen mit Migrationshintergrund bei der Bundestagswahl 2017 beschäftigt hat. Dazu wurden jeweils knapp 500 zufällig ausgewählte Deutsche befragt, die selbst oder deren Eltern aus der Sowjetunion oder ihren Nachfolgestaaten (Russlanddeutsche) oder der Türkei (Deutschtürken) eingewandert sind.
Ein Befund aus der damaligen Studie: eine deutlich geringere Wahlbeteiligung. Bei den Deutschtürken lag die Quote bei 64 Prozent, bei den Russlanddeutschen sogar nur bei 58 Prozent. Das liegt ganze 18 Prozent unter der allgemeinen Wahlbeteiligung. Und die hier bereits angesprochenen Bilder über die politischen Einstellungen finden sich in den damaligen Ergebnissen durchaus bestätigt: »Beide Gruppen sind politisch auch ganz anders eingestellt als die Deutschen ohne Migrationshintergrund: Russlanddeutsche sind rechts der Mitte positioniert, Deutschtürken links der Mitte.« Allerdings gäbe es auch schon diesen Hinweis: „In beiden Gruppen haben aber die beiden Volksparteien, die ehemals dominant waren, verloren.“ Besonders selten (8 Prozent) haben Russlanddeutsche grün gewählt.
Kreuzten die Russlanddeutschen bei früheren Bundestagswahlen auf dem Wahlzettel noch mehrheitlich die CDU/CSU an, entschieden sich 15 Prozent von ihnen im Jahr 2017 für die AfD. „In der Tat punktete die AfD bei den Russlanddeutschen stärker als bei den Wählern ohne Migrationshintergrund. Aber sie blieb als dritte Kraft hinter der Union und den Linken weit hinter den Erwartungen zurück, die medial geschürt wurden“, so Achim Goerres von der Universität Duisburg-Essen.
Mehr als ein Drittel (35 Prozent) der Deutschtürken haben die SPD gewählt.
Weiterführende Informationen zu der ersten Studie findet man hier:
➔ Achim Goerres et al. (2020): Der Zusammenhang zwischen nicht- politischer Integration und politischer Teilhabe von Bürger/innen mit Migrationshintergrund. Befunde von der Bundestagswahl 2017 auf Basis der Immigrant German Election Study, in: Gert Pickel et al. (Hrsg.): Handbuch Integration, Wiesbaden 2020
Mittlerweile gibt es ein Update. Am 12. April 2022 wurde von der Universität Duisburg-Essen diese Pressemitteilung veröffentlicht, deren Überschrift auf neue Erkenntnisse hinweist: Unterschiede nehmen ab. Wem geben Deutsche mit Migrationshintergrund ihre Stimme, welche politischen Einstellungen haben sie? Dieser Frage ist zum zweiten Mal eine Forschungsgruppe nachgegangen anlässlich der Bundestagswahl 2021. Erste aussagekräftige Ergebnisse der Immigrant German Election Study II (IMGES II) liegen jetzt vor.
➔ Achim Goerres et al. (2022): Wählerinnen und Wähler mit Einwanderungsgeschichte im Bundestagswahlkampf: Erste Ergebnisse der Immigrant German Election Study II (IMGES II) aus Duisburg von Mai bis November 2021. Version 10.04.2022
Ein neuer Befund fällt sofort ins Auge: »Statt eine der beiden Volksparteien zu bevorzugen, wählen sie nun ähnlich wie Menschen ohne Einwanderungsgeschichte.«
Die IMGES II ist allerdings keine Fortschreibung dessen, was man 2017 gemacht hat, sondern es handelt sich um einen ganz anderen methodischen Ansatz: »Statt wie 2017 Teilnehmende bundesweit auszuwählen und sich auf die zwei größten Gruppen – Türkeistämmige und Russlanddeutsche – zu konzentrieren, fand die Erhebung 2021 repräsentativ in Duisburg statt und wurde erweitert: … Befragt wurden diesmal zusätzlich auch Deutsche anderer Herkunft bzw. ohne migrantische Wurzeln. Und: Alle vier Gruppen wurden schon während des Wahlkampfes interviewt und nicht erst nach der Stimmabgabe.«
Mit 1.500 per Zufallsstichprobe ausgesuchten Personen wurden je drei längere Telefoninterviews geführt. Eineige erste Ergebnisse:
„Die Wahlbeteiligung hat sich im Vergleich zu anderen Studien … angeglichen: Sie lag bei türkeistämmigen Deutschen und Russlanddeutschen bei 67 und 66 %, und damit geringfügig niedriger als bei den anderen beiden Gruppen, die in Duisburg auf 69 % kamen“, wird Achim Goerres zitiert. Und auch bei den Parteipräferenzen gibt es erhebliche Veränderungen:
»Während 2017 bei der bundesweiten Erhebung beide Gruppen politisch noch anders eingestellt waren als die Deutschen ohne Migrationshintergrund, hat sich das Bild 2021 für Duisburg verschoben: Hier wählten Russlanddeutsche mit nur 20 % die CDU.« Das ist wirklich bemerkenswert, wenn man bedenkt, wie stark die CDU/CSU in dieser Gruppe einmal war. Die Stimmenanteile für die anderen Parteien fielen so aus: SPD 30 %, Grüne 28 %, FDP 7 %, AfD 6% und Linke 2 %.
»Rot ist hingegen immer noch die Farbe der türkeistämmigen Deutschen. In Duisburg wählten 39 % SPD, 17 % CDU, 15 % grün. Im Vergleich zu den anderen Gruppen ist auch die Linke mit 13 % stark, die FDP kommt auf 5 %.« Damit lag die SPD zwar immer noch vorne, aber eine wirkliche Dominanz in dieser Gruppe ist nicht mehr vorhanden.
Russlanddeutsche wählen CDU, Türkeistämmige SPD – dieses Muster, das Jahrzehnte galt, stimmt nicht mehr. „Die Parteipräferenzen, die wir 2021 für die Wahlberechtigten mit türkischen, russlanddeutschen oder anderen post-sowjetischen Wurzeln beobachten konnten, haben sich zunehmend denen von Wählenden ohne Migrationsgeschichte angeglichen“, so Achim Goerres.
In dem Paper von Goerres et al. (2022) zu den ersten Befunden aus der Studie wird vorsichtiger formuliert, es „verstärkt sich der Eindruck, dass sich das Wahlverhalten in diesen Gruppen insgesamt dem der Mehrheitsgesellschaft annähert.“ (S. 17).
Man muss natürlich bedenken, dass die neuen Ergebnisse aus einer Studie stammen, deren Daten in einer Stadt, hier Duisburg, erhoben wurden. Diese Ruhrgebietsstadt sei aufgrund ihres hohen Anteils an Migranten „geradezu der Prototyp der modernen Großstadt des 21. Jahrhundert“, so Achim Goerres. Dennoch kann man durchaus ein Fragezeichen an eine generalisierende Übertragbarkeit auf alle in Deutschland lebende Deutsche mit den entsprechenden Migrationsgeschichten setzen.