Erst Niedersachsen, jetzt Schleswig-Holstein. Vom kurzen Leben der Pflegekammern und der Frage, ob und wer denn die Lücke füllen kann

Am 28. April 2021 hat der Niedersächsische Landtag das Gesetz zur Umsetzung der Auflösung der Pflegekammer Niedersachsen verabschiedet. Nur die Grünen sprachen sich gegen die Auflösung aus. Mit Inkrafttreten des Gesetzes konzentriert sich die Pflegekammer Niedersachsen auf die Abwicklung, die u.a. die Erstattung der Mitgliedsbeiträge für die Beitragsjahre 2018 und 2019 umfasst. Damit wurde das endgültige Aus für die erst 2017 gegründete Niedersächsische Pflegekammer besiegelt. Der Auflösung ging im vergangenen Jahr eine hoch emotionale Debatte voraus. Vor allem die Zwangsmitgliedschaft der 78.000 Pflegenden im Land und die Kammerbeiträge waren umstritten, so dieser Artikel: Niedersächsische Pflegekammer wird aufgelöst. In einer Umfrage hat sich ein Großteil der Mitglieder gegen den Fortbestand der Kammer ausgesprochen. 15.100 von rund 78.000 befragten Mitgliedern der Pflegekammer Niedersachsen hatten an einer Online-Abstimmung über die Zukunft der Kammer teilgenommen. Von denen, die sich an dieser Abstimmung beteiligt hatten, stimmten 70,6 Prozent gegen den Fortbestand der Kammer. Wobei man natürlich auch sagen kann, dass lediglich etwa 13,7 Prozent aller Befragten die Pflegekammer abgelehnt haben und diese – eine Körperschaft des öffentlichen Rechts – daraufhin aufgelöst wurde.

Und nun folgt Schleswig-Holstein dieser Entwicklung. Am 21. Mai 2021 hat der Landtag in Schleswig-Holstein das Gesetz zur Auflösung der Pflegeberufekammer Schleswig-Holstein verabschiedet.

Auch hier war der Abwicklung eine Umfrage vorangegangen. Dazu aus dem Artikel Pflegende in Schleswig-Holstein wollen keine Pflegekammer mehr – mit übrigens anderen Beteiligungswerten als in Niedersachsen: »Die Mitglieder der Pflegeberufekammer Schleswig-Holstein haben sich mit großer Mehr­heit gegen den Fortbestand der Kammer ausgesprochen. In einer per Briefwahl durchgeführten Abstim­mung stimmten 91,77 Prozent der Teilnehmenden für die Auflösung der Standesvertretung … Insgesamt nahmen 17.747 der 23.579 Kammermit­glieder an der Befragung teil; das sind rund 75 Prozent.« Die Abstim­mung hat auf einen entsprechenden Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landtages hin stattge­fun­den. »Der Schleswig-Holsteinische Landtag hatte 2015 die Errichtung der Pflegeberufekammer beschlossen, die sich im April 2018 konstituierte. 2017 hatte sich der neu zusammengesetzte Landtag entschlossen, der Kammer eine nachträgliche Anschubfinanzierung in Höhe von drei Millionen Euro zukommen zu lassen, die er allerdings mit einer Befragung der Kammermitglieder verband.« Und für alle, die wissen, wie bedeutsam die Fragestellung sein kann: »Bei der Befragung hatten die Pflegefachkräfte die vom Landtag vorgegebene Wahl zwischen „1. Die Pfle­ge­berufekammer Schleswig-Holstein wird aufgelöst.“ und „2. Die Pflegeberufekammer Schleswig-Hol­stein wird unter Beibehaltung von Pflichtmitgliedschaften und Pflichtbeiträgen fortgeführt. Die Beiträge müssen für die Finanzierung auskömmlich sein.“«

Man kann dieses Vorgehen der Politik durchaus als „irritierend und tendenziös“ bezeichnen, denn »statt einer angemessenen Evaluation der Kammer lag in der angeordneten Befragung der Fokus ausschließlich auf der Beitragspflicht.« So wird Markus Mai zitiert, Mitglied im Präsidium der Bundespflegekammer und Präsident der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz.

➔ Damit wiederholt sich eine Kritik, die schon bei dem umfragebasierten Abschuss der Pflegekammer in Niedersachsen vorgetragen wurde: Die politischen Entscheidungsträger »verweisen auf eine mehr als fragwürdige Fragebogenerhebung, um die Abschaffung der Pflegekammer zu begründen und argumentativ einzubetten. Diese Befragung ist forschungsmethodisch, inhaltlich und zeitlich sehr stark zu kritisieren.« So die Bewertung von Martina Hasseler, Pflegewissenschaftlerin und Professorin für Klinische Pflege an der Ostfalia Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Wolfsburg, in ihrem Beitrag Professionalisierung und europäischer Standard? So nicht! Ihre Bewertung: »Die Abschaffung der Pflegekammer wird weder die Situation der Pflegeberufe noch die Attraktivität der Pflegeberufe noch die Entlohnung und Qualität der Pflege oder Konkurrenz und Vergleichbarkeit mit anderen Ländern verbessern. Es wird lediglich die Situation der Pflegeberufe des letzten Jahrhunderts weitergeführt: eine Berufsgruppe ohne berufsständische Vertretung und Möglichkeiten verantwortlicher Mitgestaltung an der Entwicklung der eigenen Profession und der Gesundheits- und Pflegeversorgung.« Der Schaden, der für die Pflegeberufe auf mittlere und lange Sicht erzeugt ist, wird vielen nicht deutlich, so die Pflegewissenschaftlerin.

»Mit dem Ende der Pflegeberufekammer im Norden stellt sich die Frage neu, wer künftig eine Vertretung für Pflegekräfte übernimmt und definiert, was gute Pflege ausmacht«, so Dirk Schnack in seinem Artikel Abwicklung der Pflegekammer Schleswig-Holstein: Wer soll jetzt die Lücke füllen? „Mit dem Ende ihrer Heilberufekammer verlieren Pflegefachpersonen erheblich an Einfluss“, befürchtet der amtierende Kammer-Vizepräsident im Norden, Frank Vilsmeier. Er erwartet, dass nun berufsfremde Akteure darüber bestimmen werden, „was gute Pflege ist und braucht“. Auch in der Landespolitik herrscht in dieser Frage Ratlosigkeit.

»Aus Sicht der Kammer selbst bleiben mit der Abwicklung „drängende Probleme unbearbeitet“. Neben der berufspolitischen Vertretung nannte sie als Beispiele die nicht abgeschlossenen Arbeiten an Regelungen zur Absicherung von Pflegenden vor gefährdenden Arbeitsbedingungen und Regelungen zum Schutz der von Pflege abhängigen Menschen vor pflegeunwürdigem Verhalten.«

Aus und vorbei, jedenfalls unter dem Dach einer eigenständigen Pflegekammer. Auch in Schleswig-Holstein stand die Beitragspflicht der Pflegekräfte im Mittelpunkt der Kritiker. Von diesem Frontabschnitt kann berichtet werden: »Geregelt ist dagegen die Beitragsfrage – eine der zentralen Kritikpunkte an der Kammer. Für 2021 werden keine Beiträge erhoben, für 2020 dagegen sind Beiträge zu zahlen, die auch nicht zurückerstattet werden.«

Ein Blick zurück

Am Beispiel der Geschichte der Pflegekammer Schleswig-Holstein kann man eine Menge lernen – auch über die Hauptgegner der Verklammerung, neben vielen Pflegekräften selbst, die den Sinn einer solchen Institutionalisierung nicht erkennen (wollen oder können). Dazu diese Darstellung, die der instruktiven Übersicht Errichtung von Pflegekammern in den einzelnen Bundesländern (Stand: 06.04.2021) entnommen ist:

»Seit dem Jahr 2008 ist der Pflegerat Schleswig-Holstein politisch aktiv, um eine Pflegekammer zu errichten. Im Dezember 2012 beschloss der Landtag die rechtlichen Voraussetzungen für eine Errichtung zu schaffen. Zunächst hätte nun ein Errichtungsgesetz zur Kammergründung verabschiedet werden müssen. Allerdings wollte das zuständige Ministerium nun auch eine Umfrage unter den Pflegenden durchführen, um ein repräsentatives Meinungsbild zur Errichtung einer Pflegekammer zu bekommen. Rund 1.170 Pflegekräfte waren im Jahr 2013 von TNS Infratest im Auftrag der Landesregierung um ihre Meinung gebeten worden. Eine knappe Mehrheit, nämlich 51 Prozent, haben sich für eine Pflegekammer ausgesprochen. 24 Prozent hat sie abgelehnt. Die restlichen Befragten hatten sich noch keine Meinung gebildet. Die geplante Einführung einer Pflegekammer hatte am 23. Januar 2014 im Landtag zu heftigen Kontroversen zwischen Regierung und Opposition geführt. So scheiterte der Antrag von CDU/FDP gegen eine Pflegekammer. Die Regierungsparteien lehnten den Antrag ab. Gegner der Pflegekammer kommen vor allem aus dem Lager der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. So hat zum Beispiel der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) eine eigene Befragung unter seinen Mitglieder zur Einführung einer Pflegekammer durchgeführt. Anfang September 2014 befasste sich das Kabinett erstmals mit dem entsprechenden Errichtungsgesetz. Im Oktober 2014 wurde das Anhörungsverfahren abgeschlossen. Die erste Lesung im Landtag erfolgte am 21. Januar 2015. Der Gesetzentwurf wurde anschließend dem Sozialausschuss zugewiesen, der im Sommer 2015 den entsprechenden Gesetzentwurf beschlossen hat. Am 15. Juli 2015 hatte der Landtag in Schleswig-Holstein der Gründung einer Pflegekammer zugestimmt. Daraufhin hat der Errichtungsausschuss für eine Pflegekammer im Januar 2016 seine Arbeit aufgenommen und seit Mitte August 2016 unterstützt eine Geschäftsstelle die Arbeit des Ausschusses. Zu Irritationen hatte das Wahlprogramm der als Siegerin bei der Landtagswahl hervorgegangenen CDU geführt. Dort war die Abschaffung der Pflegekammer aufgeführt worden.«

„Gegner der Pflegekammer kommen vor allem aus dem Lager der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände.“ Das ist ein bedeutsamer Satz, um zu verstehen, welche institutionenegoistischen Interessen seit Jahren gegen die – durchaus diskussionsbedürftige – Verkammerung der Pflegeberufe Stellung beziehen. Dass die Arbeitgeberverbände kein Interesse haben an einer Verkammerung der Pflegeberufe ist aus deren Sicht verständlich, wollen sie doch möglichst alle von ihnen unabhängige und dann auch noch mit den Insignien einer staatlichen Körperschaft ausgestattete Gremien verhindern. Aber auch die Gewerkschaft ver.di macht seit Jahren massiv Stimmung gegen die Pflegekammern. Dazu beispielsweise die Argumentationsversuche auf der ver.di-Seite Mythos Pflegekammer. Zu der Abwicklung der Pflegekammer in Schleswig-Holstein – die von der Gewerkschaft ver.di als „sinnloses und kostspieliges Experiment“ bzeichnet wird, kann man lesen: »Es hat nicht geholfen, sondern von den eigentlichen Aufgaben abgelenkt, für bessere Arbeitsbedingungen und eine gute Bezahlung zu sorgen. Von Beginn an war klar, dass die Kammer auf die entscheidenden Fragen keinen Einfluss hat. Zugleich bedeuteten verpflichtende Mitgliedschaft und Beiträge für die beruflich Pflegenden zusätzlichen Druck. Damit ist nun Schluss.« Man darf und muss allerdings darauf hinweisen, dass die Gewerkschaft ver.di einen grottenschlechten Organisationsgrad vor allem in der Altenpflege hat (vgl. dazu ausführlicher die Studie von Wolfgang Schroeder et al.: Kollektives Beschäftigtenhandeln in der Altenpflege, Düsseldorf, Dezember 2017).

Allein zu Haus? Die Pflegekammer Rheinland-Pfalz bleibt am Netz
Wer sich über die Situation in allen Bundesländern informieren will – in den meisten gibt es erst gar keine ernsthaften Bestrebungen, eine Pflegekammer auf Landesebene zu errichten -, der wird auf dieser Seite bedient: Errichtung von Pflegekammern in den einzelnen Bundesländern (Stand: 06.04.2021). Und dort findet man auch die Darstellung der Pflegekammer Rheinland-Pfalz. Die Pflegekammer ist seit März 2016 arbeitsfähig. Im Dezember 2017 hatte die Pflegekammer rund 39.000 registrierte Mitglieder. Aufgaben der Pflegekammer sind u. a. die Verabschiedung von Satzungen und Verordnungen, die Besetzung von Kammern und Landesausschüssen, die Novellierung der Weiterbildungsordnung sowie der Aufbau einer Schiedsstelle. Im Januar 2018 ist die Weiterbildungsordnung und zum 1. Januar 2020 die Berufsordnung für Pflegefachpersonen in Kraft getreten. Letztere enthält verbindliche Regelungen u. a. zu allgemeinen Berufspflichten, Anforderungen an die Berufsausübung und Fragen zur Qualitätssicherung. Zur Geschichte: Bereits im März 2013 stimmten 76 Prozent der Pflegekräfte, die sich für eine Befragung hatten registrieren lassen, für eine Pflegekammer für Pflegeberufe in Rheinland-Pfalz. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist die Pflegekammer gesetzlich verankert. Neben einem verstärkten politischen Einfluss, zum Beispiel durch die Mitwirkung bei der Gesetzgebung, werden die professionell Pflegenden dann auch über eine Standesvertretung verfügen, die als gleichwertiger Partner mit anderen medizinischen Berufsgruppen zusammen auftreten kann. Die Änderung des Heilberufsgesetzes wurde am 17. Dezember 2014 vom Landtag beschlossen. Die Pflegekammer wurde in diesem Gesetz verankert und erhielt damit den gleichen Status wie z. B. die Ärztekammer.
Auch in Rheinland-Pfalz gab und gibt es Kritik: Die Errichtung der Pflegekammer und mit ihr die Einführung der „Zwangsmitgliedschaft“ wird nicht von allen als unkritisch gesehen. Eine Gruppe von Pflegekräften hatte sogar eine diesbezügliche Verfassungsbeschwerde eingereicht. Neben der Zwangsmitgliedschaft und den Kosten für eine Pflegekammer richtete sich die Kritik auch gegen die Umstände der durchgeführten Urabstimmung. Zwischenzeitlich hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde abgewiesen.

Schauen wir zum Abschluss also wieder auf die neue Situation im hohen Norden des Landes. Schnack schreibt dazu in seinem Artikel Abwicklung der Pflegekammer Schleswig-Holstein: Wer soll jetzt die Lücke füllen?: Beim »Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) ist man skeptisch, wie die von der Kammer hinterlassene Lücke geschlossen werden soll. „Wir stehen vor der herkulischen Aufgabe, die pflegerische Versorgung der Bevölkerung Schleswig-Holsteins für die Zukunft zu sichern, und wir sehen nach dem Kammer-Aus niemanden, der dieser Aufgabe gerecht werden kann“, sagte Swantje Seismann-Petersen vom DBfK Nord. Auch in der Landespolitik herrscht in dieser Frage Ratlosigkeit.« Der einzige halbwegs konkrete Vorschlag aus den Reihen der Landespolitiker geht so: »Birte Pauls von der SPD, die sich stets für die Pflegeberufekammer stark gemacht hatte, unterbreitete einen Vorschlag. Sie forderte regionale Pflegekonferenzen, auf denen Ideen für die Zukunft des Berufsstandes gesammelt werden.«

Das eigentliche Problem für und innerhalb der Pflegeprofession wird vielleicht in diesem Zitat erkennbar: FDP-Politiker und Kammer-Kritiker Dennys Bornhöft betonte, gerne daran mitarbeiten zu wollen, „dass die Pflegekräfte eine Vertretung finden oder gründen, mit der sie gemeinsam auf die Straße gehen würden und nicht gegen sie“.

In der Zwischenzeit werden dann mal weiter Fakten geschaffen im Kontext einer fragmentierten Pflegeprofession.