Im Januar 2016 konnte man hier lesen: Die »Berufsunfähigkeit ist ein Paradebeispiel für ein Lebensrisiko, das mal sozialversicherungsförmig in der gesetzlichen Rentenversicherung abgesichert war und das dann durch eine politische Entscheidung für alle, die ab 1961 geboren wurden, privatisiert worden ist. Es gibt hier also gar keine Alternative mehr zur privaten Versicherungslösung, wenn man dieses Risiko absichern möchte oder meint zu müssen. Und schon sind wir mittendrin in einem Lehrbuchbeispiel für die These, was es bedeutet, wenn man bei zentralen Lebensrisiken mit einem eklatanten Marktversagen konfrontiert wird und warum eine Renaissance sozialversicherungsförmiger Absicherung eine echte Alternative wäre, die man politisch – also wenn man wollte – nutzen könnte.« Dem Beitrag Vom Wert der Sozialversicherung und einem veritablen Marktversagen der privaten Versicherungswirtschaft: Die Berufsunfähigkeit und ihre (Nicht-)Absicherung vom 24. Januar 2016 konnte man weiter entnehmen: »Vor 2001 gehörte die Absicherung der Berufsunfähigkeit zum gesetzlichen Sozialversicherungssystem. Die rot-grüne Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) realisierte damals die bereits von der christlich-liberalen Kohl-Regierung geplante Absicht, die gesetzliche Berufsunfähigkeitsabsicherung auslaufen zu lassen. Seither müssen Erwerbstätige, die nach dem 1. Januar 1961 geboren wurden, privat für den Fall vorsorgen, dass sie wegen Krankheit dauerhaft nicht arbeiten können. Nur wer so krank ist, dass er in überhaupt keinem Beruf mehr als drei Stunden pro Tag arbeiten kann, wird auf eine Erwerbsminderungsrente verwiesen, die meistens sehr niedrig liegt. Aber einen Berufsschutz gibt es in dieser Logik nicht mehr.«
Die Politik hat die Berufsunfähigkeitsversicherung für den offenen Versicherungsmarkt freigegeben. Und was ist passiert? Wenn die was tun, dann machen sie Rosinenpickerei. Sie suchen sich die Risiken aus, die kaum ein Risiko darstellen, berufsunfähig zu werden. Schon damals wurde auf das „Berufsgruppen-Bingo“ hingewiesen: »Früher gab es nahezu nur eine Differenzierung der Berufe in der Berufsunfähigkeitsversicherung: Überwiegend körperlich tätig, oder nicht. Die Zeiten sind vorbei. Immer mehr Differenzierung, immer mehr Berufsgruppen, immer unterschiedlichere Beiträge. In der Folge wird die Absicherung für vermeintlich gefahrlose akademische Berufe immer günstiger, während sie insbesondere für handwerkliche und soziale Berufe teurer wird. Natürlich alles statistisch total fundiert abgesichert«, so der BU-Experte Matthias Hellberg dazu.
Und genau an dieser Stelle können wir einen aktuellen Fall aufrufen. Konkret geht es um ein besonderes Angebot des Versicherungsunternehmens Generali. »Rückblende: Im Sommer 2016 startet Generali das Fitness-Programm Vitality und dehnt das Angebot auch auf den Maklerversicherer Dialog und Direktversicherer Cosmos Direkt aus. Der Fitness-Tarif wird in Deutschland in Verbindung mit einer BU-Absicherung verkauft. Mit dem anreizbasierten Programm zur Gesundheitsförderung sollen Kunden mit Gutscheinen und Rabatten belohnt werden, wenn sie sich gesundheitsbewusst verhalten. Wer etwa regelmäßig ins Fitnessstudio geht oder gesunde Lebensmittel kauft, sammelt Punkte und kann Nachlässe auf seine Versicherungsprämien erhalten«, so dieser Beitrag „Vitality“-Klauseln der Generali intransparent. Offensichtlich wurde gegen diesen Tarif geklagt bzw. genauer: gegen die Verknüpfung einer Berufsunfähigkeitsversicherung mit dem Fitness-Tarif und es gab eine Entscheidung des Landgerichts München.
Die Generali-Klauseln beim Fitness-Programm „Vitality“ sind intransparent, urteilte das Landgericht München I (AZ: 12 O 8721/20, Urteil vom 28.01.2021). Damit setzt sich der Bund der Versicherten (BdV) mit seiner Klage gegen die Generali-Tochter Dialog Leben durch. Mit dem Urteil wird dem Versicherer verboten, bestimmte Klauseln zu verwenden oder sich auf sie zu berufen. Dabei ging und geht es beispielsweise um die Klausel, dass es bei einem bestimmten Verhalten des Einzelnen Vergünstigungen gibt, aber welches konkretes Verhalten? Zu unklar formuliert, sie die klagenden Verbraucherschützer. Ein weiterer Kritikpunkt, der auch vom Gericht geteilt wird, bezieht sich auf die Klausel, »dass sofern der Versicherer „keine termingerechte Information über das sonstige gesundheitsbewusste Verhalten“ erhält, der Vertrag so behandelt wird, als hätte sich die versicherte Person nicht „sonstig gesundheitsbewusst verhalten“. Auch hier teilt das Gericht die Ansicht des BdV, dass die Klausel die Versicherungsnehmer*innen unangemessen benachteiligt, da sie das Übermittlungsrisiko generell auf sie überträgt – auch dann, wenn der Versicherer die Nichtübermittlung selbst zu vertreten hat.«
Die klagenden Verbraucherschützer ziehen die folgende Schlussfolgerung aus dem Urteil: »Nun müsse der Versicherer darauf verzichten, Prämien bei sich unterschiedlich gesundheitsbewusst verhaltenden Versicherten in der geplanten Form zu differenzieren … Die Verbraucherschützer hätten damit verhindert, dass die Risikokollektive in der Berufsunfähigkeitsversicherung weiter verbraucherschädlich verkleinert werden.«
Nun ist das Urteil noch nicht rechtskräftig, denn die Generali hat Berufung beim OLG München eingereicht.
Über das konkrete Verfahren hinaus werden wir hier mit grundsätzlichen und hoch problematischen Entwicklungen konfrontiert, die in dem folgenden Beitrag von Michael Fiedler aufgerufen werden – und die an die bereits 2016 hier vorgetragenen Aspekte unmittelbar anknüpfen: Verbraucherschutz warnt: „Die Berufsgruppen-Differenzierung schreitet immer weiter voran“. Der Bund der Versicherten (BdV) sieht in dem noch nicht rechtskräftigen Urteil des Münchener Landgerichts eine Signalwirkung für die ganze Branche: Die solle darauf verzichten, Risikokollektive in der Berufsunfähigkeitsversicherung verbraucherschädlich zu verkleinern. Denn das Problem der Risikoverkleinerung lässt sich generell am gesamtem Markt für Berufsunfähigkeitsversicherungen feststellen.
„Die Berufsgruppen-Differenzierung schreitet immer weiter voran. Für viele Berufe ist es finanziell gar nicht mehr zu stemmen, sich privat gegen das Risiko der Berufsunfähigkeit abzusichern. Die Versicherer versuchen durch die immer weitergehende Risikoaufspreizung die für sie schlechten Risiken möglichst aus ihrem Bestand zu halten“, so wird Julia Alice Böhne vom Bund der Versicherten zitiert.
Der Vorwurf der Verbraucherschützer berührt einen Kernbereich der versicherungsförmigen Absicherung von Lebenssicherung: Die sukzessive Aushöhlung des Solidarprinzips werde durch den Vitality-Tarif der Generali auf die Spitze getrieben, „da dort sogar individuelles Verhalten während der laufenden Versicherung zur Prämiengestaltung verwendet werden soll.“
Wobei die Generali stellvertretend für die gesamt Branche steht: „Die meisten Versicherer bieten jährlich neue Tarife an, in denen die Risikogruppen nicht nur immer weiter aufgefächert werden, sondern sogar die ohnehin schon sehr ausdifferenzierte Berufsgruppeneinteilung aufgeben.“
Die Versicherer im Bereich der Berufsunfähigkeitsabsicherung setzen »verstärkt auf Scoring-basierte Modelle, die u.a. folgende Risikomerkmale abfragen:
➞ Tätigkeitsstatus,
➞ Anteil der Bürotätigkeit,
➞ Berufs- bzw. Bildungsabschluss,
➞ Personalverantwortung (differenziert nach Anzahl der geführten Mitarbeiter),
➞ Reisetätigkeiten,
➞ Nikotinkonsum
➞ gefährliche Hobbies (wie z.B. Motorradfahren oder Kampfsportarten)
➞ Tätigkeitsprofile (z.B. bei Ärzten eine chirurgische Tätigkeit).«
Und bei jedem dieser Risikomerkmale nehmen die Versicherer noch tiefergehende Unterteilungen vor.
Damit werde die Risikovereinzelung und Entsolidarisierung immer weiter vorangetrieben.
Diese Entwicklung muss auch auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass seit Jahren im Bereich der Berufsunfähigkeit dringender Reformbedarf angemahnt wird, der in eine ganz andere Richtung weist, nämlich eine Wiederbelebung und Stärkung der sozialpolitischen Funktion einer versicherungsförmigen Absicherung dieses für viele Betroffenen bedrohlichen Risikos.
So wurde in dem Beitrag aus dem Jahr 2016 über politische Vorstöße berichtet, die Privatisierung dieses Bereichs wieder zurückzunehmen. Der Bund der Versicherten hatte sich gemeinsam mit der Verbraucherzentrale in einem Positionspapier für eine grundlegende Reform des aktuellen Systems ausgesprochen. Eine Rückkehr zum gesetzlichen BU-Schutz wurde angemahnt. Auch aus den Gewerkschaften wurde über eine fundamentale Kritik berichtet: Man sei grundsätzlich der Meinung, dass die zentralen Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Erwerbsunfähigkeit in den gesetzlichen Sozialversicherungssystemen abgesichert sein sollten. Nur dann ist das Kollektiv groß genug, um alle Mitglieder solidarisch abzusichern, und es gibt keinen Grund, Menschen mit Vorerkrankungen auszuschließen“, wird Markus Hofmann vom DGB zitiert. Und aus der IG Metall hört man ebenfalls eine klare Ansage: „Wenn bestimmte Beschäftigtengruppen keine Chance haben, eine BU-Versicherung abzuschließen, und der private Markt kein Verständnis für solche großen Risiken hat, muss man von einem Marktversagen sprechen.
Und der Versicherungsexperte Herbert Fromme hat schon vor Jahren Warnung an die private Versicherungswirtschaft geschickt: »Vor allem Handwerker können sich Versicherungen gegen Berufsunfähigkeit kaum noch leisten. Das darf so nicht bleiben. Wenn die Branche nicht handelt, wird es der Staat tun.« Wobei Fromme die private Versicherungswirtschaft allerdings nicht „befreien“ will von der Aufgabe einer umfassenden Absicherung, sondern er setzt auf eine seiner Meinung nach mögliche Weiterentwicklung des bestehenden, also privat-versicherungswirtschaftlichen Systems: »Die Versicherungswirtschaft kann die Verstaatlichung verhindern, wenn sie wirklich will.« Und wie könne man das erreichen? »Dringend nötig ist ein Annahmezwang für alle Erwerbstätigen zu bezahlbaren Preisen und ohne Ausschlüsse. Dass die Versicherer damit leben könnten, zeigt die Autoversicherung. Die Gesellschaften sollten die Preise bei einer Obergrenze kappen und die starke Aufgliederung nach Berufsgruppen aufgeben. Damit das nicht zu Problemen für einzelne Versicherer führt, wäre eine gegenseitige Absicherung der Unternehmen nötig – eine Art Rückversicherungspool mit Zwangsmitgliedschaft für alle Versicherer. Auch damit hat die Branche Erfahrung: Mit einem ähnlichen Mittel hat sie die private Pflegepflichtversicherung gestemmt.«
Nun schreiben wir das Jahr 2021, die bereits seit langem kritisierte Entwicklung einer fortschreitenden Entsolidarisierung der BU-Absicherung, ihre sukzessive sozialpolitische Entleerung in den Händen der privaten Versicherungswirtschaft geht weiter voran, aber das von Fromme und anderen schon vor Jahren angenommene Einschreiten des Staates lässt ebenso auf sich warten wie eine fundamentale Reform innerhalb des privaten Versicherungsmodells.
Man sollte die Politik daran erinnern, dass eine Baustelle nicht deswegen weg ist, weil man sie mit Absperrgittern umzäunt hat.