Pech gehabt. Berufskrankheiten, die seit Jahren beklagten Defizite im Recht ihrer Anerkennung mit daraus resultierenden Leistungen – und nun ein „ungesundes Gesetz“ im Sinne der Arbeitgeber?

»Dieter Schümann hat jahrelang mit hochgiftigem Asbest gearbeitet, heute ist er schwer lungenkrank. Von den Berufsgenossenschaften kann er keine Hilfe erwarten. Hunderttausende Berufskranke in Deutschland müssten beweisen, dass die Arbeit sie krank machte – doch viele Gutachter sind voreingenommen.«

So beginnt der Artikel Der verzweifelte Kampf der Berufskranken, der bereits am 15. November 2011 veröffentlicht wurde. Darin wurde bereits eines der vielen Probleme in diesem Bereich angesprochen: »Wer in Deutschland durch die Arbeit krank wird, hat Anspruch auf Entschädigung durch die Berufsgenossenschaften. Damit aber fängt für viele das Problem erst an: Der Betroffene muss nachweisen, dass die Arbeit ursächlich schuld an seiner Erkrankung ist. Erst dann wird die Berufskrankheit anerkannt, und man bekommt bei entsprechender Beeinträchtigung eine Rente zugesprochen. Doch weil es mitunter Jahrzehnte dauert, bis eine Berufskrankheit zum Ausbruch kommt, ist es für die Betroffenen oft unmöglich, die Ursache ihres Leidens zweifelsfrei nachzuweisen.«

Das wird schon seit langem immer wieder beklagt. Und nun scheint das endlich auch bei der Politik angekommen zu sein:

»Pflegerinnen mit Bandscheibenvorfall, Dachdecker mit Knieproblemen oder Bauarbeiter mit Lärmschwerhörigkeit: Jedes Jahr werden in Deutschland Zehntausende Menschen durch ihre Arbeit ernsthaft krank. Doch nicht einmal jeder Vierte von ihnen bekommt eine Berufskrankheit anerkannt oder wird entschädigt. In anderen Ländern wie Frankreich, Spanien oder Dänemark werden deutlich mehr Berufskrankheiten anerkannt. Das kritisieren Arbeitsschützer seit Jahren, und auch die Bundesländer fordern schon lange eine Reform des Berufskrankheitenrechts vom Bund. Die ist nun endlich in Arbeit: Das Bundesarbeitsministerium hat einen Entwurf vorgelegt, der die Anerkennung und Entschädigung von Berufskrankheiten neu regeln soll.«

Das berichten Christina Berndt und Daniel Drepper in ihrem Artikel Neues Gesetz – ganz im Sinne der Arbeitgeber. Allerdings produziert ein Titel des Beitrags – „ganz im Sinne der Arbeitgeber“ – zumindest einige Fragezeichen, wenn nicht Zweifel, ob nunmehr ein großer Schritt nach vorne vom Gesetzgeber anvisiert wird. Obgleich es sich doch beim zuständigen Minister um einen Sozialdemokraten handelt, in Person von Hubertus Heil (SPD), dem Bundesarbeitsminister. Der müsste doch was für die Arbeitnehmer erreichen wollen, sollte man meinen.

In vielen Bundesländern sind die zuständigen Fachleute alles andere als zufrieden mit dem Entwurf: Die vorgesehenen Änderungen seien unzureichend, der Bund sei viel zu sehr auf die Interessen der Arbeitgeber eingegangen, so Berndt und Drepper.

»Die Bundesländer würden von der Bundesregierung ausgebootet, kritisieren … mehrere Ländervertreter, die offiziell nicht mit Medien über ihre Arbeit sprechen dürfen. Das Bundesarbeitsministerium wolle das neue Berufskrankheitenrecht im Interesse der Unternehmen möglichst schnell durchwinken. Die Bundesländer fordern dagegen eine Reihe von Nachbesserungen.«

So wollen die Bundesländer erreichen, dass Betroffene mehr Rechte bekommen und die Unfallversicherungen mehr Menschen entschädigen müssen.

Aber um was steht es hier genau? Man muss sich in einem ersten Schritt klar machen, dass der Nachweis von beruflich bedingten Erkrankungen per se eine sehr schwierige bis unmögliche Angelegenheit darstellt. Genau das kann man den Betroffenen, die so etwas einfordern, immer entgegen halten. Vor diesem Hintergrund sind die Forderungen aus den Reihen der Bundesländern zu lesen:

»Im Wesentlichen decken sich die Vorschläge der Länder mit dem, was Arbeitsschützer seit Jahren einfordern. Grundlegend ist demnach eine „Beweislasterleichterung“ für all jene Fälle, in denen die nötigen Belege nicht mehr zu beschaffen sind. Dies ist häufig der Fall, wenn der Arbeitgeber die Arbeitszeiten und den Umgang mit Schadstoffen durch seine Mitarbeiter nicht wie vorgeschrieben dokumentiert hat oder frühere Arbeitgeber gar nicht mehr existieren. Ohnehin liegt die Schädigung bei vielen Krankheiten Jahrzehnte zurück, was die Beleglage zusätzlich erschwert. In solchen Fällen sei „eine Vermutungsregelung zu Gunsten der erkrankten Versicherten“ nötig, so die Bundesländer in ihrer Stellungnahme. Und schließlich soll eine „Härtefallregelung“ Entschädigungen für schwerkranke Arbeitnehmer erleichtern, denen der Nachweis einer Berufskrankheit schwerfällt.«

Es geht hier wahrlich um eine diffizile Problematik, was man dem folgenden Zitat entnehmen kann: „Wir brauchen dringend eine Härtefallregelung, zum Beispiel dann, wenn verschiedene chemische Substanzen immer wieder das gleiche Organ schädigen, die einzelne Dosis aber den für die Anerkennung einer Berufskrankheit notwendigen Schwellenwert nicht überschreitet.“ Das sagt beispielsweise Beate Müller-Gemmeke, arbeits- und sozialpolitische Expertin der Bundestagsfraktion der Grünen. Eine Härtefallklausel könnte hier helfen. Und auch eine Vermutungsregel wird von der Abgeordneten positiv gesehen: „Gerade bei weit zurückliegenden Auslösern einer Berufskrankheit, wie etwa dem Asbest, lassen sich heute kaum noch ganz konkrete Beweise in Arbeitsstätten finden, weil sie gar nicht mehr existieren“.

Was muss man zu dem Hintergrund der aktuellen Streitereien wissen? Dazu Berndt und Drepper:

Im Herbst 2019 »schickte das Bundesarbeitsministerium einen Gesetzesentwurf an verschiedene Organisationen, darunter die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, den Deutschen Gewerkschaftsbund, die Deutsche Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin sowie die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Zwei Wochen hatten diese Zeit, sich zu dem Entwurf zu äußern. Nicht eingebunden wurden die 16 Bundesländer – obwohl diese seit fast zehn Jahren immer wieder konkrete Forderungen an ein neues Gesetz stellen. Einzelne Länder haben sich in den vergangenen Monaten beim Bundesarbeitsministerium über das Gesetz und die fehlende Einbindung beschwert.«

Aber was sieht der Gesetzentwurf der Bundesregierung vor? Das sieht doch auf den ersten Blick ganz positiv aus: »Mehr Macht und Geld soll immerhin der Sachverständigenrat erhalten, der über die Einführung neuer Berufskrankheiten entscheidet und nach Ansicht von Experten bislang viel zu lange für seine Arbeit braucht. Denn nur wenn Krankheiten wie Lungenkrebs bei Schweißern oder Parkinson durch Pestizide auf die Liste der Berufskrankheiten gesetzt werden, gibt es überhaupt eine Möglichkeit der Entschädigung für Betroffene. Künftig soll es eine Geschäftsstelle für den Ausschuss geben, angesiedelt bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Hier sollen zehn Personen beschäftigt werden, die rund 300 000 Euro zusätzlich für wissenschaftliche Arbeiten ausgeben können.«

Nun muss man wissen: Die Pflicht zur Erforschung von Berufskrankheiten liegt eigentlich bei den Berufsgenossenschaften. Aber offensichtlich ist man sich da nicht so sicher, dass die ihrem Auftrag auch gerecht werden: »Dem neuen Gesetzesentwurf zufolge sollen die Genossenschaften künftig einmal im Jahr offenlegen, in welche Projekte sie wie viel Geld investiert haben und welche Wissenschaftler die Mittel erhalten haben.« Und dann? Verständlicherweise ist das für viele Kritiker nicht überzeugend: »Experten kritisieren, dass das nicht weit genug gehe. Den Berufsgenossenschaften müssten klarere Regeln auferlegt werden. Wenn etwa in anderen europäischen Ländern neue Berufskrankheiten anerkannt werden, dann sollten deutsche Berufsgenossenschaften diese zumindest erforschen müssen. Oft sind Krankheiten in anderen Ländern bereits seit Jahren anerkannt, während in Deutschland noch darüber diskutiert wird.«

Gibt es irgendeine positive Botschaft? Die scheint es zu geben: »Abgeschafft werden soll … der „Unterlassungszwang“: Diese Regelung schloss bisher für neun Krankheiten von Rückenschmerzen bis Hautproblemen Entschädigungen für Arbeitnehmer aus, die trotz ihrer Krankheit weiterhin berufstätig waren. Doch weil Entschädigungszahlungen oft klein sind oder ausbleiben, wählen viele Geschädigte genau das: lieber mit Rückenschmerzen oder Hautkrankheiten zur Arbeit als ohne Geld zu Hause. Dies habe „unangemessene Nachteile für die Versicherten“ nach sich gezogen, heißt es nun im Gesetzesentwurf der Bundesregierung.«

Und was haben die Arbeitgeber damit zu tun?

Es wurde bereits auf die Berufsgenossenschaften und damit auf die Unfallversicherung hingewiesen. Das nun ist ein ganz besonderer Zweig der Sozialversicherung, denn anders als die anderen großen Systeme wie Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung wird die Unfallversicherung eben nicht (wenigstens auf dem Papier) paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert, sondern sie speist sich ausschließlich aus Arbeitgeber-Beiträgen. Und die sind auch noch risikogestaffelt, also Unternehmen aus Branchen mit einem höheren Schadensaufkommen müssen auch mehr abdrücken als andere.

Vor diesem Hintergrund erschließt es sich relativ schnell, dass man im Arbeitgeberlager – unabhängig von der real existierenden grundsätzlichen Nachweisproblematik – kein großes Interesse an einer Ausweitung der Schadensfälle hat. Und Berndt/Drepper weisen am Beispiel der nun selbst durch den vorliegenden Gesetzentwurf seitens der Bundesregierung zur Disposition gestellten „Unterlassungszwangs“ darauf hin, was das konkret bedeutet: »Die Vorteile, welche die von den Arbeitgebern finanzierten Berufsgenossenschaften aus der Regelung gezogen haben, lassen sich dagegen in Euro umrechnen: Konservativ geschätzt, haben sie so über die Jahrzehnte mehrere hundert Millionen Euro gespart.«

Vor diesem Hintergrund lohnt ein Blick auf die grundsätzliche Problematik des Themas. Dazu der Beitrag zur anstehenden Reform des Berufskrankheitenrechts von Hans-Jürgen Urban vom Vorstand der IG Metall in der Zeitschrift „Soziale Sicherheit“ (Heft 7/2019, S. 275 ff.): „Blick zurück und nach vorn“, so ist der überschrieben: »Die Kluft zwischen Verdachtsfällen und Anerkennungen einer Berufskrankheit ist groß und die Hürden auf dem Weg zu einer Leistung sind hoch – für viele Betroffene zu hoch. Seit Jahren drängt die IG Metall den Gesetzgeber, die bestehenden Defizite im Berufskrankheitenrecht zu beseitigen. Gegenwärtig besteht die Hoffnung, dass noch im Jahr 2019 eine Reform auf den Weg gebracht wird. Noch sind die Veränderungen umkämpft und der Konflikt um ein zeitgemäßes Berufskrankheitenrecht ist längst nicht abgeschlossen. Doch eine Reform, die auf die Veränderungen in der modernen Arbeitswelt reagiert und die Absicherung der Beschäftigten verbessert, ist längst überfällig.« Also mit einer Reform noch im Jahr 2019 ist es offensichtlich nichts geworden, wir sind schon mittendrin im Jahr 2020.

Dem Beitrag von Urban kann man einige interessante Fakten entnehmen: Rund 80.000 Anzeigen auf Verdacht einer berufsbedingten Erkrankung in einem Jahr wurdenim Jahr 2017 bei den Berufsgenossenschaften gestellt. Aber: »Die überwiegende Zahl der berufsbedingten Erkrankungen wird gar nicht angezeigt. Und selbst den 80.000 Verdachtsanzeigen steht die Zahl der tatsächlichen Anerkennungen in einem krassen Missverhältnis gegenüber: Nur rund ein Viertel aller Anzeigen des Verdachts auf eine Berufskrankheit wurde zuletzt von den Berufsgenossenschaften im üblichen Prüfungsverfahren anerkannt. Zudem bestehen große Unterschiede hinsichtlich der Anerkennungsquoten bei den verschiedenen Erkrankungen. Wurden im Jahr 2016 knapp 55 % der Lärmschwerhörigkeiten anerkannt, waren es etwa bei den Hauterkrankungen gerade einmal 2,3%.«

Und bei Urban (2019) findet man auch diesen wichtigen Satz, den wir immer im Hinterkopf behalten sollten, wenn es um die nackten Zahlen geht: »Hinter dem gravierenden Ungleichgewicht zwischen angezeigten Verdachtsfällen und späteren Anerkennungen verbergen sich oft schwere Einzelschicksale.« Und weiter: »Viele Beschäftigten, die durch ihre Arbeit krank wurden, sehen sich neben ihrer Erkrankung einem regelrechten Hürdenlauf um die Anerkennung ihrer Erkrankung durch die Berufsgenossenschaften ausgesetzt. Statt die notwendige medizinische Hilfe und soziale Unterstützung zu erhalten, müssen sie sich durch ein hoch komplexes Verfahren kämpfen – und sind damit nicht selten überfordert.«

Dabei ist ein ganz wesentlicher Teil des Problems an der folgenden Stelle zu verorten: »Nur ein geringer Teil der Erkrankungen, die im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit entstehen, werden überhaupt amtlich als Berufskrankheiten anerkannt. Aktuell umfasst die entsprechende Liste im Anhang der Berufskrankheitenverordnung 80 solcher Krankheiten. Welche das im Einzelnen sind, entscheidet die Bundesregierung. Sie lässt sich dabei vom Ärztlichen Sachverständigenbeirat »Berufskrankheiten« (ÄSVB) beraten, der eine Krankheit nur dann als Berufskrankheit empfiehlt, wenn er anhand von Studien widerspruchsfrei nachweisen konnte, dass die beruflichen Einwirkungen wesentlich für die Entstehung einer Erkrankung sind.«

Man ahnt es schon – die Probleme liegen im Kleingedruckten verborgen: Wann ist eine beruflich bedingte Einwirkungen wesentlich für die Entstehung einer Erkrankung?

„Wesentlich“ bedeutet nach Auffassung der Arbeitsmediziner/innen, dass eine Verdopplung des Erkrankungsrisikos gegenüber der restlichen Bevölkerung vorliegen muss, so Urban. Hinzu kommt, dass die Anerkennung als Berufskrankheit oftmals sehr viel Zeit in Anspruch nimmt: »Am oberen Ende der Zeit-Skala gingen für die Beratungen aber fast acht Jahre ins Land. Hinzu kamen nochmal zwischen sechs Monaten und über elf Jahren, die zwischen der Veröffentlichung der Beiratsempfehlung und der Aufnahme in die Berufskrankheitenliste (BK-Liste) lagen.«

Woran das liegt? Urban hat eine These: »Eine wesentliche Ursache liegt aber augenscheinlich darin begründet, dass es viel zu wenig arbeitsmedizinische und arbeitswissenschaftliche Forschung gibt. Durch die Abschaffung zahlreicher arbeitsmedizinischer Lehrstühle an den Hochschulen fehlen die notwendigen Ressourcen, um auf der Grundlage einer wissenschaftliche Expertise angemessene Schlüsse zu ziehen.«

Und ein weiterer Schaden durch die Abbauprozesse der vergangenen Jahre wird hier relevante: »Verstärkt wird diese Entwicklung durch den dramatischen Abbau der (Landes-)Gewerbeärzte. Ihre Zahl ging zwischen 2007 und 2017 von 109 auf nur noch 68 in ganz Deutschland zurück. Im Bundesland Bremen gibt es mittlerweile überhaupt keinen Gewerbearzt mehr. Der Stellenabbau auf Länderebene schadet mehrfach. Den Gewerbeärzten kommt im Anerkennungsverfahren von Berufskrankheiten eine wichtige Kontrollfunktion zu. Darüber hinaus rekrutiert sich der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten zu einem erheblichen Teil aus diesem Personenkreis. Die ohnehin bestehenden Expertenengpässe werden so weiter verstärkt.«

Ist die erste Hürde (also die Anerkennung einer „Berufskrankheit“ als solcher) genommen, folgt ein mitunter ebenfalls langwieriges Anerkennungsverfahren für den Betroffenen. Die stehen hier vor dieser Herausforderung: »In einem ersten Schritt wird der Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und der versicherten Tätigkeit überprüft. Die so genannte haftungsbegründende Kausalität muss im Vollbeweis erbracht sein. Das heißt: Es darf keine begründeten Zweifel daran geben, dass die Erkrankung bei der Arbeit entstanden ist.«

Und wenn man das geschafft hat, kommt die zweite Hürde im individuellen Anerkennungsverfahren: »Im zweiten Schritt wird die »haftungsausfüllende Kausalität« überprüft. Hierbei wird der Frage nachgegangen, ob die schädigende Einwirkung geeignet und groß genug war, um die Krankheit auszulösen.«

Dafür braucht man ein medizinisches Gutachten. Aber, so Urban: »Medizinische Gutachten sind allzu oft lückenhaft, oberflächlich und bisweilen schlicht falsch – mit entsprechenden Folgen für die Betroffenen, die auf dem Weg zur Anerkennung ihrer Berufskrankheit dann an dieser zweiten Hürde scheitern.«

»Insgesamt kann man sich mit Blick auf die Rechtslage und die Praxis rund um die Berufskrankheiten des Eindrucks kaum erwehren, dass der Gesetzgeber durchaus bewusst hohe Hürden für die Anerkennung einer Berufskrankheit aufgestellt hat. Offensichtlich sollen möglichst wenige die Hindernisse überwinden und in den Genuss angemessener Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung kommen.«

Und hier kommen dann die Arbeitgeber wieder ins Spiel: Die Arbeitgeber »allein finanzieren die Berufsgenossenschaften mit ihren Beiträgen. Aus geringen Anerkennungsquoten und Leistungen resultieren niedrigere Beiträge und damit niedrigere Lohnnebenkosten, was wiederum die preisliche Wettbewerbsfähigkeit fördert«, so Urban.

Urban kommt von der IG Metall und sein Engagement in diesem Bereich ist durchaus nachvollziehbar, denn: Mit über 30 % entsteht ein erheblicher Teil der heute angezeigten Berufskrankheiten im Organisationsbereich der IG Metall. Bei den anerkannten Fällen, die zu einer Rente führten, waren es sogar knapp 39 %. Die IG Metall hat eine Vielzahl an Gesprächen und Diskussionen mit Fachpolitiker/innen, Jurist/innen und Mediziner/innen geführt und herausgekommen sind diese Vorschläge für eine Neuformulierung des für die Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechtes wesentlichen § 9 des SGB VII :

➞ »Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit sind unverhältnismäßig hoch und können im Grunde willkürlich zu Lasten der Erkrankten ausgelegt werden. Die Chancen auf Anerkennung einer Berufskrankheit müssen deutlich erhöht werden. Dazu gehört auch die Beweiserleichterung – also die Beseitigung des Problems, dass Beweise über schädigende Einwirkungen auf den menschlichen Körper nach langen Jahren der Berufstätigkeit oft nur schwer zu beschaffen sind.«

➞ »Die Berufsgenossenschaften müssen die Anerkennungsverfahren versichertenfreundlicher gestalten. Besonders problematisch ist nach wie vor, dass die Kriteri en nicht offengelegt sind, die an die in Auftrag gegebenen Gutachten gestellt werden. Sowohl die Gutachten als auch die Verwaltungsverfahren sind einer systematischen Qualitätssicherung zu unterziehen. Damit die Betroffenen ihre Rechte auch wahrnehmen können, bedarf es transparenter und fairer Verfahren.«

➞ »Die Berufskrankheiten-Liste muss zügig erweitert und an das veränderte Belastungsspektrum angepasst werden. Erkenntnisse über Erkrankungen, die durch eine berufliche Tätigkeit verursacht wurden, müssen sich zeitnah in der BK-Liste niederschlagen. Dazu gehört es auch, die explosionsartig gestiegene Zahl arbeitsbedingter psychischer Erkrankungen zum Gegenstand einer ernsthaften Debatte über die Anerkennung solcher Erkrankungen als Berufskrankheiten zu machen.«

➞ »Der Präventionsgedanke muss gestärkt und seiner Umsetzung in Präventionshandeln muss mehr Nachdruck verliehen werden. Der immer noch skandalöse Tatbestand, dass in nicht einmal einem Viertel der Betriebe eine ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung, d. h. unter Einschluss der Gefährdungsfaktoren für die psychische Gesundheit, durchgeführt wurde, muss dringlichst behoben werden.21 Hier sind auch die Arbeitsschutzbehörden aufgefordert, ihrem Überwachungs- und Beratungsauftrag wirksamer nachzukommen. Wo Krankheiten entstehen, muss jede angezeigte Berufskrankheit zum Anlass genommen werden, ernsthaft nach den Ursachen und den Versäumnissen auf dem Feld der Prävention zu suchen, um daraus entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen.«

Damit stehen die Gewerkschaften nicht alleine: So fasste die Arbeits- und Sozialministerkonferenz im Jahr 2016 einen Beschluss zur Berufskrankheiten-Reform, der weitgehend identisch ist mit den Vorschlägen aus dem Gewerkschaftslager. Auch eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag von Union und SPD aus dem Jahr 2018 folgt nach Urban der Initiative der IG Metall. Man wolle „u. a. die gesetzliche Unfallversicherung und das Berufskrankheitenrecht weiterentwickeln“, heißt es dort im Kapitel „Gute Arbeit“.

Aber das, was bislang aus dem BMAS zu hören ist, deutet nicht darauf hin, dass man den Vorschlägen der IG Metall und auch anderer Parteien, Organisationen und Einzelpersonen folgen möchte.