Den Verantwortlichen für „pathogene Umstrukturierungen“ durch „Management by Terror“ wurde der Prozess gemacht. In Frankreich. Ein Schuldspruch ist herausgekommen

Wir würden auch in Deutschland viele, sehr viele Zeugen für eine Anklage finden können, die dem Vorwurf nachgeht, dass das, was von Unternehmensberatern und Führungskräften gerne verschleiernd als „Umstrukturierungen“ bezeichnet und das mit zahlreichen bunten Powerpoint-Folien zu einem abstrakten Hin-und-Herschieben von entmenschlichten Kästchen auf vielen Folien verwässert wird, im wahrsten Sinne des Wortes „ent-menschlicht“, was in schweren Krankheiten und zuweilen auch in einer Selbsttötung der Betroffenen münden kann. Und wenn so etwas passiert, dann wird das sofort zu einem Problem des Einzelnen gemacht, auf eine unverständliche und nur dem Einzelnen zurechenbare Tat eines konkreten „kranken“ Menschen verengt, um gar nicht erst die Frage nach (möglichen) Mittätern aufkommen zu lassen.

Insofern verwundert es nicht, wenn solche Fragen noch nicht einmal zugelassen werden, dass das auch nicht vor einem Gericht zur Verhandlung gebracht wird. Vor diesem Hintergrund lässt dann so eine Meldung aufhorchen: »Vor zehn Jahren erschütterte eine Suizidserie von Mitarbeitern des Staatsunternehmens ganz Frankreich. Nun wurde die damalige Konzernspitze wegen „institutionellen psychischen Mobbings“ schuldig gesprochen«, kann man diesem Artikel entnehmen: Gericht verurteilt Ex-Chef von France Télécom zu Gefängnisstrafe. Schauen wir also zu unseren Nachbarn, nach Frankreich.

Blicken wir zurück: „Die Leute gehen durch die Tür oder fliegen durchs Fenster raus“, so hatte Christian Schubert seinen Artikel im Mai 2019 überschrieben: »35 France Télécom-Mitarbeiter nahmen sich in den Jahren 2008 und 2009 das Leben. Ein Gericht soll die Fälle nun aufarbeiten. Der Druck von oben ist belegt, aber die Rechtslage scheint nicht eindeutig.«

Und Schubert gibt einigen „Fällen“, um die es hier geht, Namen:

»Stéphane Dessoly, 32 Jahre, hat sich erhängt. „Ich gehe wegen meiner Arbeit bei France Télécom – nur deswegen“, stand in seinem Abschiedsbrief stand. Nicolas Grenovile, 28 Jahre, wählte ebenfalls den Strick. „Ich ertrage diesen Job nicht mehr, und France Télécom pfeift darauf“, hinterließ er als Botschaft. Jean-Michel Laurent, 53 Jahre, warf sich auf die Gleise; wenige Sekunden zuvor telefonierte er noch mit einem Gewerkschafter. „Der Zug kommt“, waren seine letzten Worte. Rémy Louvradoux, 56 Jahre, zündete sich vor einem Betrieb von France Télécom an. Stéphanie Moison, 32 Jahre, stürzte sich an ihrem Arbeitsort aus dem Fenster.«

Es geht um die Jahre 2008 und 2009. 35 Mitarbeiter des Unternehmens France Télécom nahmen sich in diesen Jahren das Leben. Und im Mai 2019 – zehn Jahre später – »begann vor einem Pariser Gericht ein Strafprozess gegen das Unternehmen und sieben ehemalige Manager. Der Vorwurf: Mobbing von oben. Der Konzern habe ein System extrem hohen Leistungs- und Flexibilitätsdrucks eingeführt, das zum Stellenabbau führen sollte. In drei Jahren sollte die Belegschaft von rund 120.000 auf etwa 98.000 Beschäftigte schrumpfen. Aufgrund des hohen Kündigungsschutzes – ein Großteil der Mitarbeiter waren Beamte – konnte der Abbau nur über „freiwilligen“ Abgang erfolgen.«

Christian Schubert stellt in seinem Beitrag fest: Der Druck von oben ist belegt.

»Der damalige Konzernchef Didier Lombard sagte in einer Zusammenkunft mit Angestellten: „Ich drückte die Stellenstreichung durch. Die Leute gehen durch die Tür oder fliegen durchs Fenster raus.“ Der damalige Personalchef Olivier Barberot wird in den Gerichtsunterlagen mit den Worten zitiert, dass sich die Vorgesetzten „psychologischer Mechanismen“ bedienen sollen, die zur „Lust, ein neues Leben anzufangen“ führen sollen. Von gezielter „Frustration“ ist die Rede. Viele Mitarbeiter wurden mit völlig neuen Aufgaben konfrontiert oder hatten teilweise gar keine Arbeit mehr; wer das ablehnte, bekam einen Job in einem Call-Center oder in einer Boutique für den Handy-Verkauf angeboten. Vorgesetzte wurden daran gemessen, wie viel Stellenabbau ihnen gelang.«

Schon im September 2009 hatte Thomas Pany unter der Überschrift Mörderische Arbeitsbedingungen und individuelle Verzweiflungsakte über die Ereignisse in Frankreich berichtet. Und im Mai 2019 meldete sich Pany erneut zu Wort: France Télécom: Die Angestellten wissen lassen, dass sie Nullen sind: »Die Restrukturierung in dem Großkonzern war eine regelrechte Hetzjagd auf Angestellte, die in die Enge getrieben wurden, damit sie kündigen … Ein knappes Jahrzehnt später müssen sich die damaligen Bosse vor einem Strafgericht verantworten … Die Anklageschrift umfasst 673 Seiten. Vorgeworfen wird der damaligen Führung „Mobbing“ (i. O. „harcèlement moral“) im Zusammenhang mit einer „pathogenen Umstrukturierung“.«

Und Thomas Pany ordnet die besondere Bedeutung dieses Prozesses entsprechend ein: »Sieben Jahre lang wurde ermittelt. Es ist der erste Prozess seiner Art in Frankreich, da sich bisher noch kein Verantwortlicher eines Unternehmens, das im französischen Aktienleitindex CAC 40 gelistet ist, hinsichtlich der sozialen Dimension seiner Geschäftsführung vor Gericht verantworten musste. Der Prozess ist ein Modellfall in einer politischen Situation, wo soziale Gerechtigkeit und der Abstand zwischen höheren Etagen und dem Parterre mit neuer Schärfe aufgeladen sind.«

Hinter dem, was man damals bei der „Umstrukturierung“ getan hat und den individuellen Schicksalen besteht ein Zusammenhang: »Es ging dabei um einen Plan und der ging auf. Das Ziel, dass binnen drei Jahren, 20.000 Angestellte, etwa 20 Prozent der Gesamtbelegschaft entlassen werden, wurde erreicht. Der Aktienkurs stieg, wie gewünscht, deutlich. Auf Abfindungszahlungen oder ähnliche Anreize zu einer freiwilligen Kündigung wurde, so weit es nur irgendwie ging, verzichtet, ebenso auf Maßnahmen, die einem Sozialplan entsprechen. Das alles war der Führung zu kostspielig … Eine besondere „Herausforderung“ stellten die Beamten in dem Konzern dar, die unkündbar waren, weshalb sie vor allem im Visier standen. Man sollten am Ende durch weniger Personal ersetzt werden, das leichter zu kündigen ist, noch besser durch Subunternehmer, die nur zeitlich begrenzt eingesetzt werden, so gut wie nichts verdienen und für die keine Sozialabgaben fällig werden.«

Um den Plan zu realisieren, kamen Methoden zum Einsatz, die vielen Arbeitnehmern auch in unserem Land nicht unbekannt vorkommen werden: »Überlastung war ein Mittel, um den Angestellten das Arbeitsleben möglichst schwer zu machen, dazu kamen spontane Versetzungen an Orte, die weit weg von der Wohnung und damit nicht selten von der Familie liegen, neue Arbeitsgebiete, die entweder zur Überforderung führten, die in Performance-Checklisten gnadenlos Woche für Woche gnadenlos dokumentiert wurde, oder als Abstellgleis funktionierten, um den Angestellten vor Augen zu führen, dass sie nicht gebraucht würden. Die offensichtlich sehr wirksame grundlegende Methode bestand darin, die Angestellten fühlen zu lassen, dass sie „Nullen“ sind.«

Didier Lombard, der von Februar 2005 bis Januar 2011 Président-directeur général (PDG) von France Télecom war, »wollte lange Zeit keinen Zusammenhang zwischen den Suizidversuchen, von Warnungen innerhalb des Unternehmens und sogar von Krankenkassen anhand der auffällig gewordenen Fallzahlen von psychisch Erkrankten (weit über 1.000) erkennen.«

»In einem Anfang des Jahres 2010 veröffentlichten Untersuchungsbericht hieß es, das Management hätte Angestellte in neue Jobs gezwungen, die weit von ihrem Heimatort entfernt waren oder für die Bewertung ihrer Arbeit Ziele herangezogen, die schlicht unerreichbar waren. Auf Warnungen von Gewerkschaften, Betriebsärzten und Krankenkassen sei völlig unzureichend reagiert worden. Der Chef des Konzerns, Didier Lombard, war daraufhin zurückgetreten«, so dieser Artikel. Nicht überraschend: »Nachfolger des Managers wird die bisherige Nummer zwei im Konzern«, wurde in diesem Artikel berichtet: France-Télécom-Boss tritt ab.

Aber offensichtlich passierte in diesem Fall eben nicht das, was ansonsten immer passiert: Es wächst Gras über die Sache. Sondern die Frage nach der Verantwortlichkeit des Didier Lombard wurde vor ein Strafgericht getragen. Und die Richter haben den ehemaligen Vorstandschef Lombard zu einem Jahr Gefängnis, davon acht Monate auf Bewährung verurteilt. Er soll außerdem eine Geldstrafe von 15.000 Euro zahlen. Zwei weitere Ex-Manager wurden ebenfalls zu Gefängnisstrafen verurteilt. Das Unternehmen, das 2013 in Orange umbenannt wurde, soll die Höchststrafe von 75.000 Euro zahlen. Mit Blick auf die sicher kritischen Anmerkungen vieler Leser, dass das doch nun wirklich überschaubare Strafen seien: Man kann nur das Strafmaß verhängen, das gesetzlich zulässig ist. Und hier relevant: „Mobbing“ ist in Frankreich ein Straftatbestand, die mit einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und eine Geldbuße von 15.000 Euro belangt werden kann.

Christian Schubert hat in seinem Artikel aus dem Mai 2019 einen Unternehmensberater mit diesen Worten zitiert: „Alle Unternehmen beobachten den Prozess aus nächster Nähe, weil er soziale Rechte und die Verantwortung des Managements neu definieren kann.“

Weil sie mit dem Urteil Neuland betreten, haben die Richter ihre Entscheidung auf 345 Seiten begründet. »Die Gerichtspräsidentin, Cécile Louis-Loyant, kam … zum Schluss, es gebe so etwas wie ein „institutionelles“ oder „systematisches“ Mobbing«, kann man diesem Artikel von Rudolf Balmer entnehmen: France-Télécom-Chefs verurteilt.

»Das Gerichtsverfahren hatte phasenweise Züge einer Gruppentherapie. „Das Gericht hofft, dass es den Schmerz erträglicher macht, wenn er hier geteilt wird“, sagte die Vorsitzende Richterin einmal. Ex-Beschäftigte von France Télécom berichteten im Zeugenstand von Demütigungen – etwa, wenn Ingenieure zu Callcenter-Mitarbeitern degradiert wurden. Oder wenn manche mit Arbeit überfrachtet wurden, während andere quälendem Nichtstun ausgesetzt waren«, so der Beitrag Mobbing mit Todesfolge von Leo Klimm. Lombards Anwalt kündigte Revision an. Er muss also erst einmal nicht ins Gefängnis, aber es wird nicht erwartet, dass es eine Etage höher (noch) glimpflicher davon kommen wird.

Bei aller sicher berechtigten Unzufriedenheit über den (bisherigen) Ausgang des Verfahrens muss man sehen, dass hier ein Stück Rechtsgeschichte geschrieben wurde und man sich durchaus mit den (möglichen) präventiven Folgen einer solchen, sich nun endlich Bahn brechenden Rechtsprechung beschäftigen sollte.