Karl-Josef Laumann (CDU), der Arbeits-, Sozial- und Gesundheitsminister des Landes Nordrhein-Westfalen, ist ein Mann, der sich auskennt in der Pflege. Von Dezember 2013 bis Juni 2017 war Laumann Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit und Bevollmächtigter der Bundesregierung für Patienten und Pflege. Er weiß, wie es um die Pflege bestellt ist. Und er nimmt kein Blatt vor den Mund: Er hält das Problem des Fachkräftemangels in der Pflege für nicht lösbar. „Es wird eine dauerhaft angespannte Situation bleiben, weil wir in den nächsten Jahren drei bis vier Prozent mehr Pflegebedürftige haben in NRW. Wo sollen diese Pflegekräfte denn herkommen, die sich um die Menschen kümmern?“, so der Minister am Rande einer Tagung des Bundesverbands für Ambulante Dienste und stationäre Pflege (bad) in Essen. Eine ehrliche Analyse – aber er ist zugleich Vollblutpolitiker und weiß, dass man anders als Hochschullehrer oder Journalisten nicht bei der Diagnose stehen bleiben darf, vor allem, wenn sie negativ daherkommt. Man muss irgendwas präsentieren, das nach Anpacken aussieht.
»Neben der Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland will Laumann das Thema Ausbildung stärker in den Blick nehmen. „Wir wollen jedem, der den Pflegeberuf erlernen will, eine Ausbildungsgarantie geben“, kündigte Laumann an. Noch immer müssten Altenpflegeschulen Bewerber ablehnen, da sie nicht ausreichend Plätze anbieten können. Laumann möchte daher die Kliniken in NRW in die Pflicht nehmen, wieder mehr auszubilden. In den vergangenen Jahren hätten die Krankenhäuser speziell im Pflegebereich die Ausbildung immer stärker zurückgefahren und stattdessen ausländische Fachkräfte eingestellt.« Das berichtet Jennifer Schumacher in ihrem Artikel Minister Laumann will Ausbildungsgarantie in der Altenpflege. Und die folgende Aussage lässt tief blicken: »Vor allem in den sozialen schwächeren Regionen in NRW, „wie dem Essener oder Dortmunder Norden“, sehe er noch großes Potenzial, um für die Ausbildung in der Pflege zu werben.«
Hier soll es um die Ausbildung an sich gehen, denn neben der Tatsache, dass offensichtlich deutlich mehr Menschen zu Pflegefachkräften ausgebildet werden müssten, steht das bisherige System der Pflegeausbildungen vor einem fundamentalen Umbau. Die bislang getrennten Ausbildungen in der Gesundheits- und Krankenpflege, der Kinderkrankenpflege und der Altenpflege sollen zu einer generalistischen Pflegeausbildung umgewandelt werden. Also eigentlich sollten sie das ursprünglich, so dass alle Pflegekräfte erst einmal eine einheitliche Pflegeausbildung durchlaufen, wie das in anderen Ländern schon immer so war. Aber in Deutschland ist man ja ein Meister der Nicht-Fisch-Nicht-Fleisch-Lösungen. Also hat man im Gesetzgebungsverfahren vor allem auf Druck der privaten Heimbetreiber durchgesetzt, dass es nun doch noch die Option geben soll, nach einer anfänglich gemeinsamen Wegstrecke wieder auszuscheren, die Generalistik zu verlassen und als Altenpfleger/in die Ausbildung abzuschließen, wobei der Abschluss als Altenpfleger(in wie heute auch schon einen geringeren Status haben wird als der „normale“ Abschluss als Pflegefachfrau/-mann. Auch der Abzweig in die Kinderkrankenpflege soll bestehen bleiben. Dazu ausführlich der Beitrag Reform der Pflegeausbildung: Nicht Fisch, nicht Fleisch. Von der Dreigliedrigkeit zum 1.+2. (+3.) Generalistik- bzw. (ab 3.) Y-Optionsmodell vom 24. Juni 2017.
Nun haben wir bereits Herbst 2019 und man sollte meinen, dass in der Zwischenzeit die Umsetzung der beschlossenen Reform der Pflegeausbildung soweit gediehen ist, dass im kommenden Jahr mit der schulischen Bearbeitung der hoffnungsvollen neuen Pflege-Azubis begonnen werden kann. Aber auch hier mahnen die Erfahrungen aus der Vergangenheit, vor allem hinsichtlich des Zeitbedarfs in ausdifferenzierten Systemen wie der beruflichen Bildung, wo zahlreiche Akteuere ein Wörtchen mitzureden haben und dies auch tun, zur Vorsicht. Angereichert wird diese Skepsis angesichts der zahlreichen ganz praktischen Dinge, die nun beim Übergang in die neue Ausbildungswelt geregelt werden müssen, beispielsweise das Suchen, Finden und Überzeugen geeigneter Kooperationspartner, die man für bestimmte Phasen der Ausbildung benötigt.
➔ Dazu diese Erläuterungen vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in Bonn: »Kooperationsverträge sind nach dem Pflegeberufegesetz Voraussetzung dafür, um als Träger der praktischen Ausbildung überhaupt tätig werden und um die praktische Ausbildung durchführen zu können. Um den theoretischen und den praktischen Unterricht gewährleisten zu können, schließt der Träger der praktischen Ausbildung zunächst einen Vertrag zur Zusammenarbeit mit einer Pflegeschule ab. Dies ist nicht notwendig, wenn der Träger eine eigene Pflegeschule betreibt. Durch den Abschluss von Kooperationsverträgen mit weiteren Einrichtungen stellt er sicher, dass die praktische Ausbildung dem Ausbildungsplan entsprechend durchgeführt werden kann. Die Auszubildenden lernen im Sinne einer breiten und umfassenden Ausbildung vielfältige Versorgungsbereiche der Pflege kennen. Für die praktische Ausbildung bedeutet dies, dass Teilbereiche nicht vom Träger selbst abgedeckt werden können und daher in einer weiteren Einrichtung stattfinden. Es sind auch Kooperationen in einem Ausbildungsverbund mit mehreren Partnern möglich.« Das hört sich nicht nur komplex an, das ist es auch. Das BIBB hat nu einen eigenen Ratgeber verfasst und online gestellt:
➞ Bundesinstitut für Berufsbildung (Hrsg.): Kooperationsverträge der beruflichen Pflegeausbildung : Fachworkshop-Empfehlungen zur Umsetzung in der Praxis. Version 1.0, Bonn 2019
Und man muss nicht nur die zahlreichen Kooperationspartner organisieren, neben den schulischen müssen auch die Curricula für die Kooperationsphasen verfasst werden. Man ahnt schon – das dauert.
Und nun erreichen uns solche Meldungen aus Bayern: Pflegeschulen lassen Frühjahrs-Ausbildung ausfallen: »Viele Pflegeschulen in Bayern haben den für April geplanten Ausbildungslehrgang gestrichen. Grund ist ein Gesetz, das die Pflege verbessern soll – doch dessen Umsetzung verzögert sich. Kritiker sehen die Schuld dafür bei der Staatsregierung«, so Nikolaus Nützel. Was ist da los?
»Eine Reihe großer Pflegeschulen in Bayern wird zum April keinen Ausbildungsgang starten, obwohl das theoretisch möglich wäre. Erst im Herbst nehmen sie wieder künftige Pflegerinnen und Pfleger auf. Hintergrund ist eine Umstellung der Ausbildung, die die Staatsregierung nach Ansicht von Kritikern nicht rechtzeitig umsetzt.« Und genau hier scheint es jetzt zu klemmen: »Einen Rahmen für die entsprechenden neuen Lehrpläne hat die Bundesregierung im Sommer veröffentlicht. Die Landesregierungen sollen diese Vorgaben jeweils für ihr Bundesland umsetzen. Doch etliche Pflegeschulen beklagen, der Zeitplan, um sich darauf einzustellen, sei zu knapp. In Bayern sei mit entsprechenden Vorgaben nicht vor Weihnachten zu rechnen, sagt die Sprecherin der Sozialstiftung Bamberg, Brigitte Dippold. „Bis April bleibt dann aber zu wenig Zeit, die Ausbildung anzupassen.“«
»Die Verantwortung trägt nach Ansicht der Landtags-SPD die bayerische Staatsregierung, weil sie die neuen Regeln nicht rechtzeitig umgesetzt habe. Auch der zuständige Landes-Fachbereichsleiter der Gewerkschaft Verdi, Robert Hinke, sieht ein Versagen der Politik. Handwerkliche Fehler seien aber auch vom Bundesgesundheitsministerium gemacht worden.« Diese Schuldzuweisung wird von den Betroffenen zurückgewiesen:
»Das Kultusministerium weist die Vorwürfe zurück. Ein Entwurf des neuen Lehrplans werde voraussichtlich im November an die Schulen gegeben, erklärt Sprecher Günther Schuster. „Die Schulen entscheiden, ob sie zum 1. April 2020 starten können“, so Schuster.«
Aber: »Pflegeschulen-Träger halten dem allerdings entgegen, das Ministerium habe ihnen empfohlen, den April-Termin ausfallen zu lassen. „Das haben wir auf Anraten der Bezirksregierung und des Ministeriums gemacht“, sagt Dippold von der Sozialstiftung Bamberg. Auch das Uni-Klinikum Augsburg erteilt die gleiche Auskunft: „Die Bayerische Staatsregierung und auch die Regierung von Schwaben haben angeraten, einen Ausbildungsbeginn im April ausfallen zu lassen.“«
Nun wäre es gut, wenn irgendjemand eine Übersicht hätte, wie die Umsetzung der Reform der Pflegeausbildung in allen Bundesländern läuft oder nicht. Eine solche Übersicht gibt es aber nicht. So könnte man die These aufstellen, dass das spezifisch bayerische Probleme sind und das anderswo kein Thema ist. Es kann aber sein, dass es woanders schlichtweg noch nicht das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat.
Immerhin wird auch aus anderen Bundesländern Unmut geäußert über die Art und Weise des Systemwechsels in der Pflegeausbildung: Unter der Überschrift Unmut an Pflegeschulen wächst erfahren wir: Nach »Ansicht des Bundesverbands Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe (BLGS) juristische Unklarheiten im Pflegeberufegesetz (PflBG) zu wachsendem Unmut an Schulen und unter den Trägern der praktischen Ausbildung. Noch immer seien fundamentale Fragen offen, kritisierte der Verband … „Je konkreter die Umsetzungsprozesse voranschreiten, umso deutlicher wird, dass elementare Regelungen im PflBG widersprüchlich und stark interpretationsbedürftig sind. Die Arbeit muss immer wieder unterbrochen werden, weil immer weitere Fragen auftauchen und wir juristisch im Nebel stochern“, sagte BLGS-Bundesvorsitzender Carsten Drude.«
Ein Beispiel dazu: »Derzeit stünden Anfragen zum Status der psychiatrischen Krankenhäuser und insbesondere zur Anrechenbarkeit von Praktikumseinsätzen im Vordergrund. Laut PflBG können psychiatrische Krankenhäuser als Ausbildungsträger fungieren, „wenn die Ausbildungsinhalte der allgemeinen Akutpflege vermittelt werden können“. Allerdings gebe es keine Bestimmung, was unter allgemeiner Akutpflege verstanden werde und welche Ausbildungsinhalte gemeint seien, so die Kritik des BLGS. Dies habe zur Folge, dass psychiatrische Kliniken und Pflegeschulen die praktischen Einsätze ihrer Auszubildenden in diesem Bereich nicht verbindlich planen und keine entsprechenden Kooperationsverträge abschließen könnten.«
Aus anderen Bundesländern werden wir mit Problemanzeigen (nicht nur) die Finanzierung betreffend konfrontiert. Beispiel Bremen: »Die gute Nachricht: Die Finanzierung der 2020 startenden generalistischen Pflegeausbildung in Bremen steht. Die schlechte Nachricht: Die Pauschalen für die schulische und praktische Ausbildung künftiger Pflegefachkräfte sind miserabel«, so Simone Schnase unter der Überschrift Ein fauler Kompromiss. Wir findet man allerdings den Hinweis auf eine weitere Problemstelle, die allzuoft nicht mitbedacht wird am grünen Tisch: Hat man eigentlich genügend Personal für die Ausbildung und vor allem für mehr Auszubildende? Dazu Schnase in ihrem Artikel: »Personalmangel herrscht auch an den Pflegeschulen: „Wir haben große Not, Lehrpersonal zu bekommen. Sie werden sogar von allgemeinbildenden Schulen abgeworben – die zahlen besser.“« Von fehlenden Lehrkräften wird auch aus vielen anderen Bundesländern berichtet.
Wieder einmal bekommt man den Eindruck vermittelt: Hier wurde in einem ganz zentralen Bereich der pflegerischen Versorgung seitens der Politik nichts weniger als ein Systemwechsel beschlossen (wenn auch mit den erwähnten Ausbruchstellen), die Umsetzung sollte dann wie eine schwere OP ohne Narkose bzw. nur mit leichter örtliche Betäubung erfolgen – und keiner verfolgt, ob und wie das flächendeckend auch umgesetzt wird (oder eben nicht). Das ist nicht nur beunruhigend, dass ist auch ein weiteres Beispiel für den Dilettantismus in der Pflegepolitik, der sich bitter rächen wird.