Die Rechtsprechung von ganz oben schleift sukzessive die Mauern gegen aktive Sterbehilfe: Der Bundesgerichtshof und die „ärztlich assistierte Sterbebegleitung“

Schon seit Jahren ist sie auch in diesem Blog Thema: die Sterbehilfe. Oder genauer: die aktive Sterbehilfe. Ein in jeder Hinsicht vermintes Gelände. Die – nicht nur, aber auch historisch zu verstehende – Ablehnung der aktiven Sterbehilfe ist in den vergangenen Jahren immer brüchiger geworden. Folgt man unter allem generellen Vorbehalt den Umfragen, dann ist die Mehrheit der Bevölkerung eindeutig auf der anderen Seite. 67 Prozent der Bundesbürger für aktive Sterbehilfe, meldet das Deutsche Ärzteblatt am 5. Juli 2019 unter Bezugnahme auf die Ergebnisse einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts YouGov, die im April dieses Jahres durchgeführt wurde.

38 Prozent würden sie „voll und ganz“ befürworten, 29 Prozent würden ihr „eher“ zustimmen. 17 Prozent lehnten aktive Sterbehilfe „voll und ganz“ oder „eher“ ab. Mit 72 Prozent gab es in Ostdeutschland mehr Befürworter als in Westdeutschland (65 Prozent). Eine Legalisierung der Beihilfe zum Suizid befürworten in der Umfrage 45 Prozent „voll und ganz“ und 24 Prozent „eher“. 13 Prozent lehnen eine Zulassung ab.

Aber auch von Seiten der Rechtsprechung sind in den vergangenen Jahren immer öfter Signale gekommen, die man verstehen kann als eine schrittweise Öffnung hin zur aktiven Sterbehilfe. Dazu zuletzt am 29. Mai 2019 dieser Beitrag hier:
Sterbehilfe und Selbsttötung als wahrhaft existenzielle Fragen zwischen den Aktendeckeln der höchsten Gerichte. Dort wurde auch darüber berichtet, dass wir im Laufe dieses Jahres mit einer bedeutsamen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts rechnen können – zum brisanten Thema Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe. Dem höchsten deutschen Gericht liegen sechs Klagen dagegen vor.

Und nun hat sich erneut der Bundesgerichtshof (BGH) zu Wort gemeldet. Freisprüche in zwei Fällen ärztlich assistierter Selbsttötungen bestätigt, so ist eine Pressemitteilung des BGH vom 3. Juli 2019 überschrieben. Das Landgericht Hamburg und das Landgericht Berlin haben jeweils einen angeklagten Arzt von dem Vorwurf freigesprochen, sich in den Jahren 2012 bzw. 2013 durch die Unterstützung von Selbsttötungen sowie das Unterlassen von Maßnahmen zur Rettung der bewusstlosen Suizidentinnen wegen Tötungsdelikten und unterlassener Hilfeleistung strafbar gemacht zu haben. Gegen diese Freisprüche haben die involvierten Staatsanwaltschaften Revision eingelegt. Mit diesem Ergebnis: »Der 5. („Leipziger“) Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revisionen der Staatsanwaltschaft verworfen und damit die beiden freisprechenden Urteile bestätigt.«

Ein Blick auf die beiden konkreten Sachverhalte, die hier verhandelt und entschieden wurden, verdeutlicht die konkreten Dimensionen der beiden Fälle:

Der Hamburger Fall: »Nach den Feststellungen im Urteil des Landgerichts Hamburg litten die beiden miteinander befreundeten, 85 und 81 Jahre alten suizidwilligen Frauen an mehreren nicht lebensbedrohlichen, aber ihre Lebensqualität und persönlichen Handlungsmöglichkeiten zunehmend einschränkenden Krankheiten. Sie wandten sich an einen Sterbehilfeverein, der seine Unterstützung bei ihrer Selbsttötung von der Erstattung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens zu ihrer Einsichts- und Urteilsfähigkeit abhängig machte. Dieses erstellte der Angeklagte, ein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Er hatte an der Festigkeit und Wohlerwogenheit der Suizidwünsche keine Zweifel. Auf Verlangen der beiden Frauen wohnte der Angeklagte der Einnahme der tödlich wirkenden Medikamente bei und unterließ es auf ihren ausdrücklichen Wunsch, nach Eintritt ihrer Bewusstlosigkeit Rettungsmaßnahmen einzuleiten.«
Die Entscheidung des Landgerichts Hamburg: »Das Landgericht Hamburg hat den Angeklagten aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen freigesprochen. Beide Frauen hätten die alleinige Tatherrschaft über die Herbeiführung ihres Todes gehabt. Der Angeklagte sei aufgrund der ihm bekannten Freiverantwortlichkeit der Suizide auch nicht zu ihrer Rettung verpflichtet gewesen. Anhaltspunkte für eine nach Einnahme der Medikamente eingetretene Änderung des Willens der beiden Frauen konnte das Landgericht nicht feststellen.«

Der Berliner Fall: »Gemäß den Feststellungen im Urteil des Landgerichts Berlin hatte der Angeklagte als Hausarzt einer Patientin Zugang zu einem in hoher Dosierung tödlich wirkenden Medikament verschafft. Die 44-jährige Frau litt seit ihrer Jugend an einer nicht lebensbedrohlichen, aber starke krampfartige Schmerzen verursachenden Erkrankung und hatte den Angeklagten – nachdem sie bereits mehrere Selbsttötungsversuche unternommen hatte – um Hilfe beim Sterben gebeten. Der Angeklagte betreute die nach Einnahme des Medikaments Bewusstlose – wie von ihr zuvor gewünscht – während ihres zweieinhalb Tage dauernden Sterbens. Hilfe zur Rettung ihres Lebens leistete er nicht.«
Die Entscheidung des Landgerichts Berlin: »Das Landgericht Berlin hat den Angeklagten aus rechtlichen Gründen freigesprochen. Die Bereitstellung der Medikamente stelle sich als straflose Beihilfe zur eigenverantwortlichen Selbsttötung dar. Zu Rettungsbemühungen nach Eintritt der Bewusstlosigkeit sei er nicht verpflichtet gewesen. Denn die freiverantwortliche Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Verstorbenen habe eine Pflicht des Angeklagten zur Abwendung ihres Todes entfallen lassen.«

Und mit welcher Begründung hat der BGH nun diese beiden Freisprüche der Ärzte bestätigt? Im Kern geht es um diese Argumentation, die man sich genau anschauen sollte:

»Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der Angeklagten für ihre im Vorfeld geleisteten Beiträge zu den Suiziden hätte vorausgesetzt, dass die Frauen nicht in der Lage waren, einen freiverantwortlichen Selbsttötungswillen zu bilden … Deren Sterbewünsche beruhten vielmehr auf einer im Laufe der Zeit entwickelten, bilanzierenden „Lebensmüdigkeit“ und waren nicht Ergebnis psychischer Störungen.«

Und weiter erfahren wir vom BGH: »Beide Angeklagte waren nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Suizidentinnen auch nicht zur Rettung ihrer Leben verpflichtet. Der Angeklagte des Hamburger Verfahrens hatte schon nicht die ärztliche Behandlung der beiden sterbewilligen Frauen übernommen, was ihn zu lebensrettenden Maßnahmen hätte verpflichten können. Auch die Erstellung des seitens des Sterbehilfevereins für die Erbringung der Suizidhilfe geforderten Gutachtens sowie die vereinbarte Sterbebegleitung begründeten keine Schutzpflicht für deren Leben. Der Angeklagte im Berliner Verfahren war jedenfalls durch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der später Verstorbenen von der aufgrund seiner Stellung als behandelnder Hausarzt grundsätzlich bestehenden Pflicht zur Rettung des Lebens seiner Patientin entbunden.«

Und wie ist es mit der (eigentlich) jedermann obliegende Hilfspflicht nach § 323c StGB? Dazu der BGH: »Da die Suizide, wie die Angeklagten wussten, sich jeweils als Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der sterbewilligen Frauen darstellten, waren Rettungsmaßnahmen entgegen deren Willen nicht geboten.«

Das ist – wie man unschwer erkennen kann – eine sehr weitreichende Auslegung des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen. Bleibt noch eine offene Frage, die zugleich auf die Bedeutung der noch ausstehenden Entscheidung des BVerfG zu dem seit 2015 bestehenden expliziten Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe für zukünftige Fälle verweist:

»Am Straftatbestand der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) war das Verhalten der Angeklagten wegen des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes nicht zu messen, da dieser zur Zeit der Suizide noch nicht in Kraft war.«

Die Bedeutung der neuen BGH-Entscheidung muss auch in diesem Kontext gesehen werden: 35 Jahre nach dem umstrittenen Urteil im Fall Wittig (Urt. v. 04.07.1984, Az. 3 StR 96/84) hat der BGH nun seine Rechtsprechung geändert. Damals hatte der BGH noch entschieden, dass Ärzte sich unter Umständen doch strafbar machen, wenn sie bewusstlose Patienten nicht zu retten versuchen.

Das wird auch von den Befürwortern der aktiven Sterbehilfe erkannt: »Die Deutsche Sterbehilfe bezeichnete das Leipziger Urteil als eine „für das Selbstbestimmungsrecht epochale Abkehr“ von der Entscheidung aus dem Jahre 1984. Für den Verein habe das bedeutet, dass der Sterbehelfer den Suizidenten verlassen musste, bevor dieser bewusstlos wurde. „Mit dieser unwürdigen Situation ist nun Schluss“, erklärte die vom früheren Hamburger Justizsenator Roger Kusch geleitete Vereinigung«, kann man diesem Artikel entnehmen: Der Pati­en­ten­wille zählt. Und die Kritiker? Auch die kommen hier zu Wort: »Rudolf Henke, Vorsitzender des Marburger Bundes, kritisierte das Urteil hingegen. „Unsere ärztliche Aufgabe ist es, Leben zu erhalten und Leiden zu lindern. Die Mitwirkung an der Selbsttötung ist keine solche ärztliche Aufgabe. Unsere Berufsordnung lässt daran keinen Zweifel: Ärztinnen und Ärzte dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“, so Henke in einer Mitteilung. Das Selbstbestimmungsrecht von Patienten sei zwar zu achten, so Henke weiter. „Es gibt aber Grenzen ärztlichen Handelns, die sich aus unserem beruflichen Selbstverständnis ergeben.“« Entsprechend auch die Äußerungen anderer Kritiker: »Hamburgs Ärztekammerpräsident Pedram Emami zeigt sich enttäuscht über die Bestätigung der Freisprüche zweier Ärzte«, so dieser Artikel: Urteil zur Sterbehilfe ist „völlig unverständlich“. »Der Hamburger Ärztekammerpräsident sieht im Strafrecht die eine Seite, im Berufsrecht eine andere. „Für Hamburger Ärztinnen und Ärzte gilt Paragraf 16 der Berufsordnung. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“, so Emami. Deshalb seien bereits die damaligen Urteile der Landgerichte Hamburg und Berlin „völlig unverständlich“ gewesen, die die beiden Ärzte von den Vorwürfen freigesprochen hatten.«

Auch zu dieser sich auf die ärztliche Berufsordnung beziehende Argumentation findet man einen Hinweis vom BGH – sie sei schlichtweg nicht relevant: »Dass die Angeklagten mit der jeweiligen Leistung von Hilfe zur Selbsttötung möglicherweise ärztliche Berufspflichten verletzt haben, ist für die Strafbarkeit ihres Verhaltens im Ergebnis nicht von Relevanz.«

Auf die von Henke angesprochenen Grenzen ärztlichen Handelns hatte auch der – nunmehr ehemalige – Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, im Umfeld der Diskussionen anlässlich der Anhörung des BVerfG zum laufenden Verfahren das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe betreffend hingewiesen: »Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery spricht sich vehement gegen die Aufweichung des Verbots der geschäftsmäßigen Sterbehilfe aus … Wenn man ärztlich assistierten Suizid erlaube, führe das direkt zu einer Tötung auf Verlangen«, so der Artikel „Wo ist der Unterschied zur Euthanasie?“, der sich u.a. auf dieses Interview mit ihm bezieht: „Der Arzt ist kein geschäftsmäßiger Sterbehelfer“. „Wenn wir Sterbehilfe als Ärzte betreiben sollten, müssten wir es qualitätsgesichert und nach allen Prinzipien der guten medizinischen Praxis machen“, sagte der Ärztepräsident. „Das würde bedeuten: Sterbewilligen würde das Gift über einen Venenzugang injiziert. Wo ist da dann noch der Unterschied zur Euthanasie?“

Wie dem auch sei – in dem zitierten Artikel über die harsche Reaktion von Montgomery finden wir auch einen naturgemäß spekulativen Hinweis, in welche Richtung die Entscheidung des BVerfG gehen könnte bzw. gehen wird:

»Nach den Verhandlungen des Bundesverfassungsgerichts im April weist vieles darauf hin, dass das Verfassungsgericht das strikte Sterbehilfeverbot kippen wird. Demnach handelt es sich bei einem Suizid um ein Grundrecht, das schwerer wiegen könnte als die Bedenken. Vermutlich werden die Richter der Politik nahelegen, Hilfe zum Suizid davon abhängig zu machen, dass sich jemand hat eingehend beraten lassen oder dass ein Expertengremium den Sterbewilligen begutachtet hat.«