Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden: Die Herausnahme des Rettungsdienstes aus dem kommerziellen Wettbewerb ist möglich. Unter der Überschrift Die Regelungen über die öffentliche Auftragsvergabe gelten nicht für die Dienstleistung des Transports von Patienten im Notfall durch gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen veröffentlichte der EuGH am 21.03.2019 diese Mitteilung mit Bezug auf die EU-Richtlinie 2014/24 über die öffentliche Auftragsvergabe:
»In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass nach Art. 10 Buchst. h der Richtlinie die klassischen Regelungen über die öffentliche Auftragsvergabe einschließlich der Verpflichtung zur Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt nicht für öffentliche Aufträge gelten, die den Katastrophenschutz, den Zivilschutz oder die Gefahrenabwehr betreffen, wenn die doppelte Bedingung eingehalten wird, dass sie unter bestimmte CPV-Codes fallen (hier der Code für „Rettungsdienste“ oder für den „Einsatz von Krankenwagen“) und von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden. Diese Ausnahme von der Geltung der Regelungen über die öffentliche Auftragsvergabe enthält jedoch insofern eine Ausnahme von der Ausnahme, als dass sie nicht für den Einsatz von Krankenwagen zur Patientenbeförderung gilt, für die die vereinfachten Beschaffungsregelungen gelten.«
Der angesprochene Art. 10 Buchst. h der Richtlinie 2014/24 hat unter der Überschrift „Besondere Ausnahmen für Dienstleistungsaufträge“ zum Inhalt:
»Diese Richtlinie gilt nicht für öffentliche Dienstleistungsaufträge, die Folgendes zum Gegenstand haben:
…
h) Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr, die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden und die unter die folgenden CPV-Codes fallen: 75250000-3, 75251000-0, 75251100-1, 75251110-4, 75251120-7, 75252000-7, 75222000-8, 98113100-9 und 85143000-3 mit Ausnahme des Einsatzes von Krankenwagen zur Patientenbeförderung;«
Alles klar?
Schauen wir uns den Sachverhalt an:
»Die Stadt Solingen (Deutschland) hat, nachdem sie mehrere Hilfsorganisationen zur Abgabe eines Angebots aufgefordert hatte, im Jahr 2016 einen Auftrag über Rettungsdienstleistungen für die Dauer von fünf Jahren an zwei dieser Vereinigungen vergeben. Der Auftrag betraf insbesondere die Betreuung und Versorgung von Notfallpatienten durch Rettungsassistenten, unterstützt durch einen Rettungssanitäter, sowie den Einsatz im Krankentransport mit der Hauptaufgabe der Betreuung und Versorgung von Patienten durch einen Rettungssanitäter, unterstützt durch einen Rettungshelfer (letzterer im Folgenden: qualifizierter Krankentransport).
Das Unternehmen Falck Rettungsdienste und die Falck A/S-Gruppe, zu der Falck Rettungsdienste gehört (im Folgenden gemeinsam: Falck), riefen deutsche Gerichte an, um festzustellen zu lassen, dass diese Vergabe mangels vorheriger Veröffentlichung einer Auftragsbekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union (im Folgenden: Amtsblatt) nach den allgemeinen Regelungen der Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe1 rechtswidrig sei.«
Da wird sich der eine oder andere Leser dieses Blogs erinnern: Falck und die Vergabe von Rettungsdienstleistungen, da war hier doch schon mal was? Genau. Am 22. November 2017 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Den Rettungsdienst im Vergabedschungel verheddern. Das Problem einer elementaren Daseinsvorsorge zwischen Vergabelogik und kommunalen Entscheidungsdilemmata. Der begann richtig nostalgisch:
»Früher waren so einige Dinge einfacher organisiert (was nicht automatisch bedeuten muss: besser). Beispielsweise der Rettungsdienst. Der wurde in den großen Städten irgendwann mal professionalisiert und in die Hände der sowieso vorzuhaltenden Berufsfeuerwehr gelegt, in vielen anderen Kommunen hat man das an die delegiert, die sich das zu ihrem Anliegen gemacht hatten, also beispielsweise dem Deutschen Roten Kreuz, der Johanniter Unfallhilfe oder dem Arbeiter Samariter Bund. Diese gemeinnützig agierenden Organisationen hatten und haben zudem den Vorteil, dass sie auf einen nicht unerheblichen Stamm an ehrenamtlichen Mitarbeitern zurückgreifen können, was wiederum die Kosten für die öffentliche Hand reduziert. Zugleich waren und sind diese Organisationen auch eingebunden in den Katastrophen- bzw. Zivilschutz, den man für den Fall der Fälle vorhalten muss.«
Um einen dann in die heutige Zeit zurückzuholen: »Doch die Zeiten haben sich geändert und die Krankentransport- und Rettungsdienste haben sich zwischenzeitlich ausdifferenziert zu dem, was Betriebswirte ein lukratives „Geschäftsmodell“ nennen. Was natürlich auch damit zu tun hat, dass man diese Dienstleistungen über einen großen Player des Sozialstaats abwickeln kann, also der Krankenversicherung.
Und seit den 1990er Jahren wird immer mehr auf Markt und Wettbewerb gesetzt, um darüber effizientere Lösungen zu finden. Um das hier vorweg zu sagen: Das muss nicht (immer) des Teufels sein. Es kann tatsächlich überaus bereichernd und hilfreich sein, wenn man gewachsene Strukturen über Konkurrenz und Alternativen aufbrechen kann – bei bestimmten Angelegenheiten hingegen kann das „in the long run“ überaus heftige Kollateralschäden verursachen, weil gewachsene und stabile Strukturen eben auch Vorteile haben können. Es kommt eben darauf an.«
Und das hat Folgen: »Auch wenn man im medizinischen Notfall die Nummer 112 wählt, kann es sein, dass eine Privatfirma den Transport ins Krankenhaus durchführt.« So Kurt Stenger in seinem Artikel Rettungsdienst geht anders. Und er kommt dann sogleich zur Sache: »Zu den Großen auf dem deutschen Markt gehört die dänische Unternehmensgruppe Falck, die mittlerweile 470 Rettungswagen in acht Bundesländern im Einsatz hat. Allerdings schielt der Konzern eifersüchtig auf die Konkurrenz der großen Hilfsorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz (DRK), den Arbeiter-Samariter-Bund oder den Malteser Hilfsdienst. Allein das DRK hat 4.700 Rettungswagen im Einsatz. Und es geht um einen boomenden Riesenmarkt: In den vergangenen 15 Jahren haben sich die Ausgaben der Krankenkassen für den Rettungsdienst nahezu verdreifacht und beliefen sich zuletzt auf 2,3 Milliarden Euro im Jahr 2017.«
Zum „Marktvolumen“ kann man dem Artikel Keine Ausschreibung für Rettungsdienst entnehmen: »Die Ausgaben für den Rettungsdienst sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen, pro Jahr nehmen sie nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums um durchschnittlich 7 Prozent zu. Von 2002 bis 2017 haben sich die Ausgaben für Rettungswagen von gut 800 Millionen Euro auf etwa 2,3 Milliarden Euro nahezu verdreifacht. Eine weitere Milliarde Euro mussten die Krankenkassen 2017 für den Einsatz von Notarztwagen auszahlen.«
Und hier man der Sachverhaltsbeschreibung des EuGH entnehmen kann, hat Falck die Stadt Solingen verklagt, denn die hat 2016 mehrere Hilfsorganisationen zur Abgabe eines Angebots aufgefordert und dann den Auftrag über Rettungsdienstleistungen für die Dauer von fünf Jahren an zwei dieser Vereinigungen vergeben, ohne dass diese Ausschreibung im EU-Amtsblatt entsprechend dem sonstigen Vorgehen veröffentlicht wurde.
Nach dem bereits zitierten Art. 10 Buchst. h der Richtlinie 2014/24 können „Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr, die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden“, von den Ausschreibungs- und Vergabevorschriften der Richtlinie ausgenommen werden. Und das EuGH hat nun mit Blick auf den Solinger Sachverhalt entschieden:
»Der Gerichtshof weist darauf hin, dass es sich bei der Betreuung und Versorgung von Notfallpatienten in einem Rettungswagen durch einen Rettungsassistenten/Rettungssanitäter und beim qualifizierten Krankentransport weder um „Dienstleistungen des Katastrophenschutzes“ noch um „Dienstleistungen des Zivilschutzes“ handelt, sondern um „Gefahrenabwehr“. Aus der wörtlichen und aus der systematischen Auslegung der Richtlinie ergibt sich nämlich, dass die „Gefahrenabwehr“ sowohl Gefahren für die Allgemeinheit als auch Gefahren für Einzelpersonen betrifft.«
Die Ausnahme von der Anwendung der EU-Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe gelte laut EuGH »nur für bestimmte Notfalldienste, die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden, und darf nicht über das unbedingt notwendige Maß hinaus ausgeweitet werden.« Und wie sieht es mit den Krankentransporten aus? Die fallen doch nicht unter Notfalldienste – oder doch? Der EuGH klärt uns auf:
»Der qualifizierte Krankentransport fällt hingegen nur dann unter den Code, der dem „Einsatz von Krankenwagen“ entspricht, wenn zumindest potenziell ein Notfall vorliegt, d. h. wenn ein Patient befördert werden muss, bei dem das – objektiv zu beurteilende – Risiko besteht, dass sich sein Gesundheitszustand während des Transports verschlechtert. Dieses Risiko bringt mit sich, dass der Transport von ordnungsgemäß in erster Hilfe geschultem Personal durchgeführt werden muss. Unter diesen Umständen finden die allgemeinen Regelungen über die öffentliche Auftragsvergabe (einschließlich der Verpflichtung zur vorherigen Veröffentlichung einer Bekanntmachung mit Amtsblatt) keine Anwendung, sofern diese Dienstleistungen von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden.«
Vor diesem Hintergrund versteht man dann auch sicher die folgende Bewertung: »Beim Bayerischen Roten Kreuz hat man nach eigenen Angaben sehnsüchtig auf das Urteil gewartet … Notfall-Rettung sei Teil des Bevölkerungsschutzes und kein kommerzielles Wirtschaftsgut. Dies hätten die Luxemburger Richter nun bestätigt«, kann man diesem Artikel entnehmen: EuGH beendet Bürokratiewahnsinn bei Rettungsdiensten. Die Erleichterung des Bayerischen Roten Kreuzes muss auch in diesem Kontext gesehen werden: »In den vergangenen zehn Jahren wurden in Bayern mehr als 100 Rettungswachen öffentlich ausgeschrieben, gut drei Viertel davon wurden an das Rote Kreuz vergeben. Insgesamt neun gingen an private Rettungsdienste. Diese dürfen bei der Vergabe nicht benachteiligt werden, das hatte der Bayerische Verfassungsgerichtshof bereits 2012 entschieden.«
Das Deutsche Rote Kreuz erwartet nun, dass das EuGH-Urteil nun bundesweit Folgen hat. »Wir fordern alle Bundesländer auf, die Bereichsausnahme in den jeweiligen Rettungsdienstgesetzen zu berücksichtigen«, wird DRK-Generalsekretär Christian Reuter zitiert. »Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hat in einer Reaktion auf das Urteil angekündigt, zügig einen Gesetzentwurf zur Änderung des Bayerischen Rettungsdienstgesetzes vorlegen zu wollen. Er werde dazu mit Vertretern des BRK, weiteren Rettungsdiensten und auch den privaten Anbietern sprechen«, kann man diesem Bericht entnehmen.
Denn derzeit gibt es in Deutschland einen gesetzlichen Flickenteppich. Dazu Kurt Stenger: »Nachdem der Bundesgerichtshof 2008 geurteilt hatte, dass Rettungsdienstleistungen grundsätzlich ausgeschrieben werden müssen, begann der Aufstieg der Privaten. Die EU-Richtlinie, die im April 2016 in deutsches Recht überführt wurde, schob der kompletten Öffnung dann aber einen Riegel vor. Heute gibt es unterschiedliche landesgesetzliche Regelungen, und teilweise wird die Vergabe von Kommune zu Kommune anders gehandhabt. So übernahm das Falck-Tochterunternehmen ASG Ambulanz Leipzig im Februar den Rettungsdienst im nordsächsischen Oschatz. Und an der Feuer- und Rettungswache 2 im Kölner Stadtteil Marienburg, nur 40 Kilometer von Solingen entfernt, warten vier Rettungswagen der Privatfirma auf ihren Einsatz.«