Fließbandarbeiter einer Bildungsindustrie in Zeiten eines Lehrermangels

Die Zeiten ändern sich. Es ist noch gar nicht lange her, da galt ein Lehramtsstudium als relativ sichere Eintrittskarte in berufsbiografische Abbiegeprozesse, beispielsweise in das Taxigewerbe oder in die Gastronomie. Aber schaut man heutzutage in die Berichterstattung der Medien, dann wird man immer öfter mit dem Gegenteil einer Überschussproduktion an Lehrkräfte konfrontiert – mit Lehrermangel.

Hier nur einige wenige Beispiele, wobei ganz bewusst nicht mit der Mangellage in Berlin begonnen wird: »Wegen des Lehrermangels unterrichten an Baden-Württembergs Schulen immer mehr Menschen, die dafür nicht die entsprechende Ausbildung haben«, kann man diesem Artikel entnehmen: Immer mehr Lehrer ohne entsprechende Ausbildung im Südwesten. Oder aus Nordrhein-Westfalen: Bezirksregierung Münster will gegen Lehrermangel vorgehen: Im »Regierungsbezirk sind zur Zeit 320 Lehrerstellen unbesetzt. Es fehlen den Schulen vor allem Sonderpädagogen für die Inklusion von Kindern mit Behinderung, aber auch an Grundschulen herrscht Notstand.« Und aus dem Ruhrgebiet erreichen uns solche Meldungen: »An einigen Schulen in Duisburg liegt die sogenannte Personalausstattungsquote bei unter 80 Prozent. Das heißt, dass mehr als 20 Prozent der vorgesehenen Stellen unbesetzt geblieben sind«, berichtet Tim Harpers unter der Überschrift Lehrermangel in Duisburg: An den meisten Schulen fehlen Lehrer. Und auch mit „Bewältigungsversuchen“, die einem auch aus anderen Bereichen bekannt vorkommen, wird man konfrontiert: Lehrermangel: Tullner sucht jetzt Erzieher als “pädagogische Mitarbeiter” an Grundschulen

Der quantitative Mangel ist das eine – wobei man hier zumindest anmerken muss, dass der Begriff „Lehrermangel“ mehr verwischt als offenlegt, denn es ist wie immer ein spezifischer Mangel, beispielsweise im Bereich der Sonderpädagogik, der Grundschullehrkräfte, der Lehrer an berufsbildenden Schulen oder bestimmter Lehrer an den Gymnasien. Wobei gerade dort auch viele Studienabsolventen nicht vermisst werden, weil sie die „falsche“ Fächerkombination haben, für die es schlichtweg kein Bedarf gibt.

Aber gerade angesichts dessen, was wir über die Bedeutung der Lehrkräfte für (nicht) gelingende Bildungsprozesse wissen, sollte und darf es nicht nur um reine Quantitäten gehen (eine vergleichbare Problematik stellt sich ja auch in anderen Berufsfeldern, beispielsweise der Pflege). Das verweist zum einen darauf, bei der Ausbildung der zukünftigen Lehrer genauer hinzuschauen, aber auch das, was die, die im Schulsystem gelandet sind, an Rahmenbedingungen und Ausformungen der täglichen Arbeit vorfinden.

Nun kann man sowieso keine verallgemeinernden Aussagen machen, vor allem nicht in einem derart föderalisierten System wie dem Schulwesen mit teilweise erheblichen Varianzen bereits zwischen den Bundesländern. Deshalb hier ein Beispiel aus einem Hotspot des Lehrermangels und der zahlreichen Quereinsteiger, die man in offensichtlicher Verzweiflung, den Laden am Laufen zu halten, rekrutiert: Berlin. »Berliner Lehramtsstudierende beklagen nicht nur die schlechten Studienbedingungen. Sie kritisieren auch die Praxisferne des Studiums«, so Anja Kühne in ihrem Artikel Zu volle Kurse, zu wenig Professoren. Hier geht es um Probleme, die sich aus dem hohen Tempo des Senats beim Aufbau von Studienplätzen ergeben. Ziel ist eine Verdopplung auf 2.000 Absolventen pro Jahr. Also Probleme, die aus dem Lösungsversuch eines anderen Problems, dem Lehrermangel, resultieren. Um welche Größenordnung es hier geht kann man am Beispiel der FU Berlin aufzeigen. Von dort wird berichtet: „Im Jahr 2014 hatten wir noch 89 Plätze für Grundschulpädagogik im ersten Semester. Jetzt sind es 385.“

Und natürlich ist es erst einmal lobenswert, wenn man was tut und mehr Lehrer ausbilden möchte – aber das muss auch umgesetzt werden: So habe sich die Zahl der Professuren inzwischen verdoppelt, die Zahl der Studierenden aber vervierfacht, heißt es bei der HU Berlin.

Und damit nicht genug: »Der OECD-Bildungsexperte Andreas Schleicher findet, Deutschlands Bildungspolitiker und Lehrer sollten sich einiges für 2019 vornehmen. Es gebe diverse Missstände«, kann man diesem Artikel entnehmen: „Lehrer wie Fließbandarbeiter behandelt“. »Der Chef der Pisa-Studie, Andreas Schleicher, hat den Umgang mit Lehrern hierzulande scharf kritisiert – aber auch die Lehrer selbst. „In Deutschland ist der Schulbetrieb wie eine Fabrikhalle organisiert“, sagte der Bildungsdirektor von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)«, was nicht einer gewissen Pikanterie entbehrt, denn die OECD ist ja die Wirtschaftsorganisation der Industrieländer und damit eigentlich ein Aushängeschild für die wirtschaftliche Organisation von allem Möglichen.

In Deutschland sei der Lehrerberuf im internationalen Vergleich finanziell attraktiv, aber intellektuell zu unattraktiv. Das ist seiner Meinung nach so, weil das Prinzip gelte: „Mach deine Klassentür zu und zieh den Lehrplan nach Vorschrift durch – Hauptsache, die Eltern beschweren sich nicht.“ Und er gibt Ratschläge, die bei den einen sicher sauer aufstoßen und  bei anderen Kopfschütteln auslösen werden angesichts der praktischen Umsetzbarkeit: »Schleicher forderte außerdem mehr Teamarbeit von Lehrkräften. „Es muss Schluss mit dem Einzelkämpfertum in den Klassenräumen sein.“ Lehrkräfte sollten viel mehr gemeinsam Unterricht vorbereiten und auf Plattformen gezielt Unterrichtskonzepte austauschen. Andere Länder seien da viel weiter – bis hin zum regelmäßigen gegenseitigen Unterrichtsbesuch … Er forderte: Die Zahl der Unterrichtsstunden des einzelnen Lehrers sollte verringert werden, damit es mehr Raum gebe, auch anderes als ganz normalen Unterricht zu machen.«

Und das in Zeiten, in der viele Schulen Mühe haben, die Unterrichtsversorgung überhaupt sicherzustellen – weil es massiv an Lehrern fehlt.

Nun kann man gerade gegenüber Schleicher eine Menge Vorbehalte haben und auf die ambivalente Rolle der OECD hinweisen.

Deshalb sei hier die Aufmerksamkeit auf einen anderen Beitrag, gleichsam „von unten“ geschrieben, aber mit dem Blick „von oben“ auf grundsätzliche Systemfragen, gelenkt: Arbeiter einer Bildungsindustrie, so hat Nils Björn Schulz, Lehrer am Robert-Havemann-Gymnasium in Berlin, seinen Artikel überschrieben.

»Große Klassen und eine neue Kultur des Lernens industrialisieren den Lehrerberuf. Fließbandarbeit am Schreibtisch bestimmt den Berufsalltag«, so eine der Kernthesen des Verfassers. »Die fortschreitende Digitalisierung, die Test- und Evaluationseuphorie und die Kompetenzorientierung der Neuen Lernkultur … haben innerhalb von knapp fünfzehn Jahren ein ganzes Berufsfeld industrialisiert und die Schule in eine Lernfabrik verwandelt. Das Produktionsziel: höhere Abiturientenquoten bei gleichzeitiger Absenkung des Anspruchsniveaus.«

Und auch bei ihm taucht es wieder auf, das Spannungsfeld von Qualität und Quantität und die immer wieder beklagte Reduktion auf Nur-noch-Quantität, wenn auch semantisch kaschiert:

»Die Niveauabsenkung wird vor allem durch das ständige Gerede über Qualität und Qualitätsmanagment kaschiert. Aber für die unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer ist sowieso eine ganz andere Kategorie zentral: die Quantität. Es ist die schiere Quantität an Klassenarbeiten, Noten, Tests, Evaluationen, Methodentrainings – und die Lautstärke in den Klassenräumen, die erschöpft. An Gymnasien sitzen bis zu 30 Schülerinnen und Schüler in einem Klassenraum, in Berlin sind es sogar bis zu 32.«

Man habe die Raum- und Zeitstruktur der Disziplinargesellschaft beibehalten. Aber: »Klassenräume und Stundenrhythmen gehören einem Typus an, den Michel Foucault als Einschließungsmilieu bezeichnete. Nur lassen sich Kinder und vor allem pubertierende Jugendliche so nicht mehr disziplinieren.«

»Aufgrund überbordenden Gebrauchs digitaler Medien völlig dezentriert, können sich viele in den vorgegebenen Strukturen nicht mehr konzentrieren. Die täglichen Mediennutzungszeiten Pubertierender variieren je nach Studie zwischen fünf und sieben Stunden. Es ist laut geworden in den spätmodernen Lernfabriken.
Gerade die kooperativen Lernformen, die auf die Dezentrierung reagieren und sie zugleich verstärken, werden schon in der Grundschule eingeübt und lassen je nach Lerngruppe in den Räumen den Lärmpegel bis auf 80 Dezibel ansteigen. Anderen Berufsgruppen wird da Gehörschutz verordnet.«

Große Lerngruppen produzieren quantitativ mehr Arbeit als kleine. »Oberstufenklausuren mit 10 bis 15 Rechtschreib- und Grammatikfehlern pro Seite sind leider nicht die Ausnahme; und für einige Handschriften benötigt man Werkstattleuchten und Leselupen.«

Und wie es sich für ordentliche Fließbandarbeiter gehört, werden sie auch noch mit unrealistischen Vorgaben konfrontiert. Ein Beispiel:

»Aufgefordert, Lehrerarbeitszeiten transparent zu machen, veranschlagt der Berliner Senat 20 bis 25 Minuten Korrekturzeit für eine Oberstufenklausur inklusive der Beurteilung durch ein elektronisches Bewertungsraster. Dieses sogenannte Onlinegutachten hat für bestimmte Klausurformate zum Beispiel im Fach Deutsch zwölf Bewertungskriterien parat. Je nachdem benötigt man für die endgültige kriteriengeleitete Beurteilung einer einzigen Klausur über 50 Klicks.
Das ist Fließbandarbeit im digitalen Zeitalter: Erst korrigiert man die Klausur mit der Hand, dann klickt man sich durch die Onlineraster, druckt sie aus, unterschreibt und heftet sie an die Klausuren. Das Arbeitszimmer muss für solche Abläufe optimiert werden. Im Kreis läuft man so oder so – und die veranschlagte Arbeitszeit wird immer überschritten. Weil es nicht zu schaffen ist. Unter 45 Minuten kann man keine Deutsch- oder Philosophie-Klausur korrigieren, wenn man der Schülerarbeit einigermaßen gerecht werden möchte.«

Und ein zweites Beispiel verdeutlicht den Widerspruch zwischen dem vielleicht gut gemeinten Ansatz einer kompetenzorientierten Bewertung der Schüler und der tatsächlichen Umsetzung im Lehreralltag:

»Auch führt die Kompetenzorientierung dazu, dass mittlerweile gerade junge Lehrerinnen und Lehrer digital verwaltete Notenarsenale anlegen; denn die Kompetenzideologie fordert, dass ein Schüler differenziert nach unterschiedlichen Kompetenzen bewertet wird. Erteilt man einem Schüler oder einer Schülerin drei Mal pro Schulhalbjahr jeweils fünf oder sogar mehr Kompetenznoten für die Mitarbeit im Unterricht, so heißt das, dass ein Lehrer mit vollem Stundendeputat – in Berlin sind das 26 Unterrichtsstunden – im gesamten Schuljahr weit mehr als 5000 Noten gibt; unterrichtet er vor allem zweistündige Fächer, so erhöht sich die Zahl schnell auf 6000 bis 7000 Noten pro Schuljahr. Man muss sich solche Zahlen vor Augen führen, um die Absurdität der kompetenzorientierten Benotung zu erkennen.«

Und wenn auf solche Entwicklungen aufmerksam gemacht wird, dann erleben die bildungsindustriellen Fließbandarbeiter das, was andere Berufe zur Genüge am eigenen Leib erfahren haben:

»Lehrerinnen und Lehrer müssen ihr Zeitmanagment verbessern. Es ist die für neoliberale Gesellschaften typische Forderung an das erschöpfte Selbst: Wenn du deine Arbeit nicht schaffst, musst du deine Abläufe optimieren. Es liegt an dir! Der Zynismus geht mittlerweile so weit, dass Lehrerinnen und Lehrern von externen Evaluationsbehörden empfohlen wird, in ihrer Freizeit, die es ja kaum noch gibt, „Wohlfühlteams“ zu bilden oder Workshops zur „Work-Life-Balance“ zu buchen.«

Vor allem aber führt die neue Unterrichtstechnokratie dazu, dass Bildung nur noch unter dem Aspekt der Operationalisierung und Messbarkeit betrachtet wird.

Und man ahnt schon, was in diesem System passiert: »Da die Bildungsverwaltungen die Bedeutung von Orthographie- und Grammatikfehlern für die Gesamtnote einer Klausur immer weiter marginalisieren, schleicht sich sowieso schon bei manchem Lehrer eine resignative Laxheit ein. Man streicht gar nicht mehr alle Fehler an. Das spart Zeit! – führt aber dazu, dass viele Schülerinnen und Schüler die Fehlerhaftigkeit ihrer Klausuren gar nicht mehr erkennen. Und viele von ihnen werden später selbst Lehrerinnen und Lehrer.«

Dann schließt sich der Kreis.