Da hat man gerade erst einen Beitrag zu den Tiefen und Untiefen des mehr als unübersichtlichen Bildungssystems in Deutschland veröffentlicht – vgl. dazu Das Versprechen eines Aufstiegs durch Bildung in der „Bildungsrepublik“ Deutschland, die nackten Zahlen und einige grundsätzliche Anfragen vom 22. Oktober 2018 – und schon folgen solche Schlagzeilen: Sozial benachteiligte Schüler holen auf, erfährt man von der Süddeutschen Zeitung. Die FAZ greift zu einer Überschrift, die wie ein Platzhalter für bildungspolitische Debatten vieler zurückliegender Jahre wirkt: Soziale Herkunft entscheidet über Chancen in der Schule. Und nur auf den ersten Blick skurril erscheint dann so eine Überschrift, die Simone Schmollack in der taz verwendet: Postleitzahl entscheidet über Zukunft.
Der wie immer konzertierte Ausstoß der Medien geht zurück auf die Veröffentlichung von Ergebnissen des OECD-Berichts „PISA Chancengleichheit: Barrierenabbau für Soziale Mobilität“. »In Deutschland ist der soziale Hintergrund wichtiger als in vielen anderen OECD-Ländern. Um soziale Mobilität und Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen zu erreichen, sind einige Politikanpassungen nötig«, wird uns aus der OECD-Dependance in Berlin zugerufen.
Grundlage der ganzen Berichterstattung ist diese Studie der OECD:
➔ OECD (2018): Equity in Education. Breaking Down Barriers to Social Mobility, Paris 2018
Zum Hintergrund berichtet Matthias Kohlmaier: »Alle drei Jahre erscheint eine neue Pisa-Studie. Die Zwischenzeit nutzt die verantwortliche OECD aber nicht nur für die kommende Erhebung, sondern wertet auch die Daten der letzten Untersuchung anhand spezieller Fragestellungen neu aus. So wurde zum Beispiel vor einigen Monaten in einer Sonderauswertung die Situation von Schülern mit Migrationshintergrund analysiert. Eine neue Studie der Pisa-Daten von 2015 beschäftigt sich nun mit dem Thema „Chancengleichheit in der Bildung: Abbau von Hindernissen für soziale Mobilität“. Sie behandelt damit eines der zentralen Probleme nicht nur der deutschen, sondern aller Schulen weltweit: Wie lässt sich Bildungserfolg von der sozialen Herkunft entkoppeln? Oder etwas plakativer: Warum hängen gute Noten noch immer von der Postleitzahl ab?«
Da sind sie wieder, die Postleitzahlen. Wie muss man das verstehen? Simone Schmollack erläutert das an diesem Beispiel: Ein Kind, bei dem im Klassenbuch unter „Adresse“ die Postleitzahl 10437 verzeichnet ist, hat größere Chancen, Chemiker, Musiklehrer oder Wirtschaftsprüfer zu werden, als ein Kind, bei dem 28237 steht. 10437 steht für Berlin-Prenzlauer Berg, Hotspot Helmholtzplatz. Dort wohnen hauptsächlich Akademiker mit gut bezahlten Jobs in geräumigen Altbauwohnungen, die den Bewohnern in der Regel gehören. In Gröpelingen mit der Postleitzahl 28237 sieht es anders aus: Der Bremer Stadtteil gilt als sozialer Brennpunkt mit einer Arbeitslosenquote von über 26 Prozent. Die mehrheitlich migrantischen Großfamilien leben in viel zu kleinen Wohnungen, die Polizei ist oft im Einsatz vor Ort.
Eine Zusammenfassung der OECD-Ergebnisse liefert Silke Fokken in ihrem Artikel Deutschlands Schulen werden langsam besser. »Der Vater arbeitslos, die Mutter prekär beschäftigt, das Geld reicht knapp zum Leben, keiner der Verwandten hat Abitur. Bücher? Kaum vorhanden. Hat ein Kind aus so einer Familie die gleichen Chancen, in der Schule erfolgreich zu sein und zu studieren wie die Tochter oder der Sohn wohlsituierter Akademikereltern? Nein, und zwar in keiner Industrienation der Welt.« Und dann die erfreulich daherkommende Botschaft: Die Studie der OECD »belegt aber auch: Was die Chancengleichheit betrifft, gibt es erhebliche Unterschiede – und in vielen Ländern hat sich die Situation zum Positiven verändert.« Auch in Deutschland? Dazu kann man dem Bericht entnehmen: »Deutschland hat beim Thema Chancengleichheit „moderate Verbesserungen“ erzielt.« Wir wissen bekanntlich aber auch: Wo Licht ist, da fehlt der Schatten nicht: »Die Bundesrepublik gehört immer noch zu den OECD-Staaten, in denen der Schulerfolg eines Kindes deutlich enger vom sozioökonomischen Hintergrund abhängt als in vielen anderen Ländern, sagt Andreas Schleicher, OECD-Bildungsdirektor.«
Woran wird das festgemacht? Beispiel: »15-jährige Schüler aus sozial benachteiligten Familien erreichten beim Pisa-Test 2015 in den Naturwissenschaften im Schnitt 466 Punkte. Schüler aus sozial privilegierten Familien kamen auf 569 Punkte – eine Differenz von 103 Punkten. „Das entspricht rund drei Schuljahren“, sagt Schleicher. Zum Vergleich: In der OECD liegt der Unterschied im Schnitt bei 88 Punkten. In Estland sind es 69 Punkte. In einigen Ländern erzielen Schüler sogar unabhängig vom sozialen Hintergrund ganz ähnliche Leistungen.«
Aber man sieht bei der OECD auch den Silberstreif am Horizont – oder in den Worten von Andreas Schleicher: „Seit der ersten Pisa-Studie hat sich die Chancengerechtigkeit verbessert. Deutschland gehört zwar zu den Ländern, in denen es noch eine große Schere gibt, aber sie bewegt sich aufeinander zu“.
„Der soziale Kontext ist teilweise wichtiger für den Bildungserfolg als der individuelle“, behauptet der Bildungsexperte der OECD. Als Beleg dafür wird dieses Beispiel angeführt: »Kinder mit niedrigem sozioökonomischen Hintergrund besuchen der Studie zufolge oft Schulen, in denen die übrige Schülerschaft aus einem ähnlichen Umfeld stammt. Das Problem: Bleiben diese Kinder weitgehend unter sich, fallen ihre schulischen Leistungen in vielen Ländern schlechter aus, als wenn sie in eine Schule mit Kindern aus besser gestellten Familien gehen. In einer solchen Konstellation erreichen die Kinder aus sozial benachteiligten Familien in Deutschland bei Tests in Naturwissenschaften 122 Punkte mehr als Schüler mit dem gleichen Hintergrund an einer Schule mit niedrigem sozioökonomischem Standard.«
Es geht hier nicht nur um einige wenige Schüler, denn nach der Studie werden fast die Hälfte der Kinder mit erschwerten sozialen Bedingungen in Schulen geschickt, in denen sie auf andere benachteiligte Kinder stoßen.
Und dann wird der Finger auf eine klaffende strukturelle Wunde des Systems gelegt – in Deutschland sei eine „doppelte Benachteiligung“ zu erkennen: »Schulen, die überwiegend von Kindern mit niedrigem sozioökonomischen Umfeld besucht werden, sind laut Studie oft schlechter ausgestattet als andere – finanziell, materiell, personell. Auch Schulklima, allgemeine Motivation und Disziplin seien oft weniger gut.«
➔ Dieser Befund ist besonders desaströs vor dem Hintergrund von Erkenntnissen, wie sie beispielsweise in der im Januar 2018 veröffentlichten Studie Erfolgsfaktor Resilienz ausgebreitet wurden, bei der es um diese Fragen ging: Warum manche Jugendliche trotz schwieriger Startbedingungen in der Schule erfolgreich sind – und wie Schulerfolg auch bei allen anderen Schülern gefördert werden kann. »Die vorliegende Studie zeigt, dass auf Schulebene insbesondere zwei Faktoren diese positive Anpassungsleistung von Schülerinnen und Schülern nachhaltig befördern können: Dies sind zum einen eine gute soziale Mischung an der Schule und zum anderen ein positives Schulklima.«
Und auch der (Nicht-)Zugang zu den Hochschulen wird wieder einmal als Beleg aufgerufen: »Erwachsene mit Akademikereltern besuchten in Deutschland mit einer acht Mal höheren Wahrscheinlichkeit eine Hochschule als Erwachsene von Eltern mit einem niedrigeren Bildungslevel. Im OECD-Schnitt liegt die Wahrscheinlichkeit elf Mal höher – in Neuseeland nur drei Mal höher, in Kanada, Estland, Finnland und Schweden vier Mal höher.«
In den Neunzigern und Anfang der 2000er Jahre sei die Bildungsmobilität in Deutschland noch höher gewesen, sagt Schleicher. Bei jungen Menschen habe dies abgenommen.
Gibt es in der neuen Studie auch Empfehlungen? Darüber berichtet beispielsweise Matthias Kohlmaier in seinem Artikel Sozial benachteiligte Schüler holen auf:
»Um die Unterschiede weiter zu verkleinern, fordert die OECD einen besseren Zugang für alle schon zur frühkindlichen Bildung. Kitas könnten eine gleichberechtigte Lernumgebung schaffen und Kindern helfen, soziale und emotionale Fähigkeiten zu erwerben.
Die größten Aufgaben sehen die Pisa-Forscher aber bei den Schulen und Schulpolitikern. Diese sollten …
➞ verhindern, dass fast ausschließlich sozial benachteiligte Schüler in einer Klasse oder Schule landen,
➞ zusätzliche Ressourcen bereitstellen, um Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern zu unterstützen,
➞ Eltern ermutigen, sich mehr in die Bildung ihrer Kinder einzubringen,
➞ eine bessere Kommunikation zwischen Lehrkräften und Eltern fördern,
➞ Lehrkräfte im Umgang mit heterogenen Schülerschaften fortbilden.«
Bezeichnend ist wieder einmal, wie die Ergebnisse der Studie und jeweils Teile der Empfehlungen in den deutschen Medien aufgegriffen werden. Eine nett formuliert sehr verkürzte Interpretation liefert Inga Michler in der Online-Ausgabe der Welt unter der Überschrift OECD fordert mehr Disziplin in Schulen. Simone Schmollack hingegen bilanziert in der taz ebenfalls mit einer gewissen Schlagseite: »Ausreichende frühkindliche Bildung, gemischte Klassen, längeres gemeinsames Lernen, Ganztagsschulen. All das sind keine neuen Vorschläge, sondern althergebrachte Ideen. Offenbar aber lassen sie sich leichter fordern, als sie umzusetzen sind.« Gleichfalls skeptisch die Kommentierung von Silke Fokken unter der Überschrift Chantal hat keine Lobby: »Das Bemerkenswerte an der neuen OECD-Studie: Sie bescheinigt einen Missstand, der seit Jahren bekannt ist. In Deutschland hängt der Schulerfolg stark vom Elternhaus ab. Der Wille, das zu ändern, fehlt.« Warum sie zu diesem Urteil kommt, begründet Fokken so:
»Es fehlt schlicht der Wille, für mehr Gerechtigkeit zu sorgen – in der Politik ebenso wie bei der Mehrheit der Wohlstands- und Bildungsbürger in dieser Gesellschaft. Sie könnten Druck ausüben, nachhaltige Veränderungen anschieben, tun es aber nicht – weil sie um Privilegien fürchten. „Müsste ich mir ein System ausdenken, dass soziale Unterschiede manifestiert und Privilegien innerhalb bestimmter Gesellschaftsschichten belässt, könnte das deutsche Schulsystem ein Vorbild sein“, sagt der Dortmunder Bildungsforscher Wilfried Bos.« Und was wären das für Maßnahmen, die zu mehr Gerechtigkeit führen könnten? Sie nennt zwei Beispiele: die Ganztagsschule und die Gemeinschaftsschule – und bei beiden enttäuscht die Umsetzung in der Praxis.
➞ Beispiel Ganztagsschule: »Vor mehr als zehn Jahren schob die damalige rot-grüne Bundesregierung ein umfangreiches Programm zum bundesweiten Ausbau von Ganztagsschulen an. Erklärtes Ziel: mehr Chancengleichheit. Aber bis heute sind die regionalen Unterschiede immens … Zudem ist die Qualität der Nachmittagsgestaltung oft fragwürdig. Viele Schulen setzen auf Billig-Lösungen. So wird zwar Betreuung für Kinder berufstätiger Eltern gewährt. Aber Chantal zum Beispiel bekommt mit den Minijobbern, die an ihrer Schule wechselweise arbeiten, längst nicht die Förderung, die sie bräuchte.«
➞ Beispiel Gemeinschaftsschule: »Viele Bundesländer setzen verstärkt auf Schulen, in denen Kinder deutlich länger zusammen lernen, und diese erleben großen Zulauf. Aber: Vom Gymnasium will man sich hierzulande trotzdem auf keinen Fall verabschieden. Widerstände gegen entsprechende Initiativen sind immens. Das Gymnasium dient einigen durchaus zur sozialen Abgrenzung und genießt zudem etliche Privilegien. Besser bezahlte Lehrer, wenige Herausforderungen etwa durch Inklusion oder Integration von Flüchtlingen – Letzteres überlässt man im Wesentlichen anderen Schulformen. Gerecht wäre, diese Schulen zumindest deutlich besser auszustatten, insbesondere in sozial benachteiligten Stadtteilen. Aber das passiert bundesweit viel zu wenig.«
Die Argumentation setzt voraus, dass Ganztagsschulen und Gemeinschaftsschulen – wenn sie denn „richtig“ umgesetzt werden würden – die Bildungsungerechtigkeit deutlich reduzieren könnten. Das kann man glauben, man kann aber auch eine generelle Skepsis an den Tag legen, ob das wirklich zu einem Durchbruch führen würde.
Und abschließend sei an dieser Stelle noch ein Aspekt in Erinnerung gerufen, der heute bei der Rezeption der Studienergebnisse eigentlich nirgendwo aufgetaucht ist: Die Daten stammen aus der international vergleichenden PISA-Untersuchung. Aber genau die wird immer wieder und immer noch von einigen grundsätzlich in Frage gestellt hinsichtlich des Anspruchs, mit dem die Wirtschaftsorganisation OECD darüber Bildungspolitik zu beeinflussen versucht. Hin und wieder tauchen auch aktuell kritische Anfragen an die PISA-Testerei in den Medien auf: Schüler nehmen die Pisa-Tests oft nicht ernst – das verzerrt die Ergebnisse, so beispielsweise Norbert Häring am 12. Oktober 2018. Ein nicht lösbares Dilemma kann auch darin bestehen, dass die Testwerte über die Jahre immer weniger vergleichbar werden, wenn sich „das System“ an die Anforderungen der Testverfahren und deren Logik anzupassen beginnen, um sich selbst besser positionieren zu können. Eine fundamentale Kritik am Ansatz der PISA-Tests bezieht sich darauf, dass hier nur ein sehr selektiver Ausschnitt vermessen wird, also „harte“ Fächer wie Mathematik beispielsweise. Bereiche wie Sport, Kunst, Musik oder Theater spielen gar keine Rolle und das kann man durchaus sehr kritisch sehen, wenn man dann ausgeht, dass diese Bereiche für die kindliche und jugendliche Persönlichkeitsentwicklung von erheblicher Bedeutung sein können. Auch Andreas Schleicher erkennt diese Schwachstelle: »Es stimmt, PISA deckt nur einen Teilbereich ab, was für Erfolg wichtig ist. Nicht nur kognitive, auch andere Leistungen gehören dazu – etwa Teamfähigkeit, Kreativität«, so wird er in diesem Interview zitiert: PISA-Test-Erfinder: Schulunterricht „wie in einer Fabrik“.