Das Versprechen eines Aufstiegs durch Bildung in der „Bildungsrepublik“ Deutschland, die nackten Zahlen und einige grundsätzliche Anfragen

»Vor genau zehn Jahren, am 22. Oktober 2018*, verkündeten die Regierungschefs von Bund und Ländern auf ihrem Dresdener Bildungsgipfel ein durchaus anspruchsvolles bildungspolitisches Programm. Sie gaben dem damals von ihnen vereinbarten Maßnahmenpaket, das bis 2015 umgesetzt werden sollte, die Überschrift „Aufstieg durch Bildung“ … Die Erzählung vom „Aufstieg durch Bildung“, die seit mehr als fünfzig Jahren die deutsche Bildungspolitik prägt (schon 1963 gab die SPD dem kulturpolitischen Forum ihres Hamburger Deutschlandtreffens diesen Titel), begleitete den durchaus erfolgreichen Weg der Bildungsexpansion: Immer mehr junge Menschen nahmen an weiterführender Bildung teil, die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss ging deutlich zurück, die Zahl der jungen Menschen mit mittlerem Schulabschluss stieg. Ebenso die Zahl derer, die eine Studienberechtigung und dann auch einen Hochschulabschluss erwarben.« (Klemm/Anbuhl 2018: 1; *2018 steht im Original-Text, die Verfasser meinen natürlich das Jahr 2008)

Auch im Bundestag ist das, was vor zehn Jahren in Dresden inszeniert worden ist, ein Thema. In einer Kleinen Anfrage der Bundestagsfraktion der Grünen (Bundestags-Drs. 19/4078 vom 31.08.2018, Antwort der Bundesregierung auf Drs. 19/4563 vom 25.09.2018) wurden die damaligen Ziele wieder in Erinnerung gerufen: »Nichts weniger als eine „Bildungsrepublik“ wurde von der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und den Ministerpräsidenten der Länder auf dem Dresdner Bildungsgipfel im Oktober 2008 ausgerufen. Auf diesem wurde beschlossen, dass die Quote an Schulabgängern ohne Schulabschluss bis zum Jahr 2015 von 8 auf 4 Prozent halbiert werden sollte, gleiches wurde für die Quote an jungen Erwachsenen ohne Berufsausbildung vereinbart – auch hier sollte die Quote von 17 auf 8,5 Prozent gesenkt werden. Die Kindertagesbetreuung von unter Dreijährigen sollte auf 35 Prozent ausgebaut und auch die Weiterbildungsquote sowie die Studienanfängerquote sollte erhöht werden – auf 40 Prozent eines Altersjahrgangs. Erhöht werden sollten zudem auch die Ausgaben für Bildung und Forschung – auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.« Man kann zumindest eines erkennen: Es wurden nicht nur warme Worte in den Dresdner Himmel geblasen, sondern offensichtlich handfeste und auch messbare Ziele.

Das zehnjährige Jubiläum wird nun genutzt, um eine kritische Bestandsaufnahme im interessierten Publikum zu verbreiten. Dazu schreibt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB): »Vor genau zehn Jahren verkündeten die Regierungschefs von Bund und Ländern auf ihrem Dresdener Bildungsgipfel das Programm „Aufstieg durch Bildung“. Davon wurde vieles erfolgreich umgesetzt, eine banale Tatsache jedoch vergessen: Wer aufsteigt, schafft das Tal nicht ab. Das deutsche Bildungssystem lässt noch immer zu viele Menschen zurück, so der Tenor einer Studie von DGB und Bildungsforscher Klaus Klemm.« Es handelt sich um diese Studie:

➔ Klaus Klemm und Matthias Anbuhl (2018): Der Dresdener Bildungsgipfel: von unten betrachtet. Expertise zur sozialen Spaltung im Bildungssystem, Berlin: DGB, Oktober 2018

In dieser Expertise wird der Blick au die einzelnen Stufen des Bildungssystems geworfen – von der Kindertagesbetreuung über die Grund- und weiterführenden Schulen, dann die Berufsbildung und die Berufsbildungsabschlüsse bis in den Bereich der Weiterbildung.

Am Ende der Expertise (S. 16) wird unter der Überschrift „Allen Versprechungen zum Trotz: Das Bildungs- und Ausbildungssystem Deutschlands lässt zu viele Menschen zurück“ diese Bilanzierung präsentiert: »Ein Rückblick auf die in dieser Expertise zusammengetragenen Befunde zur Chancenverteilung auf dem Weg von den Kindertagesstätten bis zur Weiterbildung zeigt: Bereits in der frühkindlichen Bildung wird die Ungleichheit zwischen Kindern aus unterschiedlichen sozialen Lebenslagen angebahnt, das setzt sich in den Grundschulen – wenn auch abgeschwächt – … fort und wird dann beim Zugang zu den unterschiedlichen Bildungswegen der weiterführenden Schulen verstärkt. Infolge davon finden sich starke Disparitäten bei den Chancen, dem Zugang zu Bildung und Berufsbildung in den beruflichen Bildungswegen des dualen Berufsbildungssystems sowie der Hochschulen … Damit zeigt der Blick auf die Bildungsbiographien der Verlierer der vergangenen Jahre, dass Deutschlands Kindertagesstätten, seine Schulen und sein Berufsbildungs- sowie Weiterbildungssystem die Spaltung in der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer nicht abbauen, sondern verfestigen.«

Eine ausführlich Zusammenfassung der Studie mit den Befunden aus den einzelnen Stufen des Bildungssystems hat Silke Fokken unter der Überschrift Das leere Versprechen vom Aufstieg durch Bildung veröffentlicht: »Die Bilanz fällt ernüchternd aus. Kinder, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen oder aus Familien mit Migrationshintergrund stammen, haben immer noch deutlich schlechtere Chancen im deutschen Bildungssystem als andere. Das ist das Ergebnis einer Analyse des Bildungsforschers Klaus Klemm im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).« Aus ihrer Zusammenfassung einige Aspekte:

➔ Krippe: »Nur 33, 6 Prozent der Kinder unter drei Jahren hatten im Jahr 2017/18 in Deutschland einen Krippenplatz. Beim Bildungsgipfel hatte man dagegen eine Quote von 35 Prozent versprochen – Ziel klar verfehlt. Ob ein Kleinkind in der Kita betreut wird oder nicht, hängt zudem stark davon ob, in welcher Familie es aufwächst. Bei Familien, in denen der Hauptschulabschluss der höchste ist, haben 16,4 Prozent der unter Dreijährigen einen Krippenplatz: Ist der höchste Abschluss dagegen die (Fach-)Hochschulreife, liegt die Quote bei 37,7 Prozent. Und liegt die Betreuungsquote bei Kindern mit Migrationshintergrund nur bei 20 Prozent, ist sie bei Familien ohne Migrationshintergrund mit 40 Prozent doppelt so hoch. Die Unterschiede zeigten, dass genau die Kinder nur zu geringen Teilen frühkindliche Förderung erhielten, die diese für ihren weiteren Bildungs- und Lebensweg besonders stark benötigten, sagt Klemm … Die Gründe seien vielfältig. Teils hätten sie mit unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen von Betreuung zu tun. „Aber wenn Kita-Plätze ohnehin knapp sind, hat ein Akademikerpaar oft auch die größere Kompetenz, sich einen zu sichern, als die zugewanderte Frau aus Afghanistan.“«

➔ Grundschule: »Wenn Kinder nicht nach Leistung sortiert und auf getrennte Schulen geschickt werden, gilt dies als förderlich, um Chancengerechtigkeit herzustellen – so wie dies bundesweit an den Grundschulen der Fall ist. Davon abgewichen werde allerdings durch zwei Entwicklungen, sagt Klemm. Erstens: die soziale Entmischung von Wohngebieten, die sich in der Schülerschaft spiegele. „Angesichts steigender Miet- und Immobilienpreise wird sich das noch weiter aussortieren, sodass Kinder aus sozial starken und sozial schwachen Familien noch öfter unter sich bleiben“, sagt Klemm. Um Chancengerechtigkeit zu fördern, sei gerade dies kontraproduktiv. Zweitens: die mangelnde Inklusion eines Teils der Schüler. Bundesweit werden der Studie zufolge 4,3 Prozent aller Schüler noch in separierenden Förderschulen unterrichtet. In Mecklenburg-Vorpommern liege diese Quote sogar bei 6,0 Prozent.«

➔ Wechsel aufs Gymnasium: »In Deutschland kann dabei der Studie zufolge von Chancengerechtigkeit keine Rede sein: „In allen Bundesländern ist der Übergang ans Gymnasium in hohem Maße von der sozialen Herkunft bestimmt.“ Im Schnitt habe ein Kind aus einer Akademikerfamilie bei gleicher kognitiver Fähigkeit und gleicher Lesekompetenz eine 3,81-mal größere Chance auf eine Gymnasialempfehlung als ein Kind aus einer Facharbeiterfamilie. Diese „schichtspezifische Ungleichbehandlung“ trage dazu bei, dass sich die Ungleichheit bei 15-Jährigen fortsetze: 55 Prozent der Kinder aus einer Familie der „oberen Dienstklasse“ besuchen demnach das Gymnasium, aber nur 24,4 Prozent der Kinder aus Arbeiterfamilien. Immerhin sei der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund deutlich gestiegen, sagt Klemm.«

➔ Hochschulen: »Die hohe soziale Selektivität setzt sich der Studie zufolge fort, wenn es darum geht, wer ein Studium aufnimmt – und wer nicht. Aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil einen akademischen Abschluss hat, studieren 79 Prozent der Kinder. Aus Familien, in denen beide Elternteile keinen beruflichen Abschluss haben, dagegen nur 12 Prozent.«

➔ Ohne Schulabschluss: »Der Anteil der Jugendlichen, die das Schulsystem in Deutschland ohne Abschluss verlassen, ist zuletzt wieder gestiegen: von 5,9 (2016) auf 6,5 Prozent (2017). Wer aber nicht mindestens einen Hauptschulabschluss besitze, habe kaum eine Chance auf einen Ausbildungsplatz, heißt es in der Studie. So bleiben 1,45 Millionen junge Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren in Deutschland ohne Berufsausbildung. Die Quote stieg den Angaben zufolge von 13,9 (2016) auf 15 Prozent im Jahr 2017.«

Und das liebe Geld? » Auf dem Dresdener Bildungsgipfel wurde versprochen, 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung einzusetzen. 2015, dem Zieljahr, in dem diese Verabredung erreicht sein sollte, waren dies jedoch gerade einmal 9,1 Prozent. Es fehlten 27,1 Milliarden Euro.«

Nun kann man natürlich in eine Detailkritik der einzelnen Zahlen einsteigen, die alle für sich natürlich interpretationsbedürftig sind. Das würde den Rahmen hier sprengen. Nur beispielhaft zwei differenzierte und damit auch kritische Anmerkungen zum dem Beispiel „Ohne Schulabschluss“:

➔ Auf dem Dresdner Bildungsgipfel wurde das Ziel formuliert, dass die Quote an Schulabgängern ohne Schulabschluss bis zum Jahr 2015 von 8 auf 4 Prozent halbiert werden sollte. Das ist dann auch in vielen Bundesländern, die für die Schulpolitik zuständig sind, als Zielvorgabe übernommen worden. Das Ziel klingt ehrenwert und die Absicht angesichts der Auswirkungen eines nicht vorhandenen Schulabschlusses vor allem hinsichtlich der daraus folgenden (Nicht-)Positionierung auf dem Arbeitsmarkt ist es auch. Aber wie immer muss man aufpassen, was bei der Umsetzung quantitativer Zielvorgaben herauskommen kann, wenn man an den Systemen, in denen das passiert, nichts oder nur wenig geändert werden. Eine beispielhafte Antwort vieler Lehrkräfte bei der Diskussion dieses Ziels war immer wieder: Wenn die Politik eine Halbierung will, dann bekommt sie die. Dann werden wir eben die durchwinken, die bislang an der Notenmauer aufgelaufen sind. Oder die aus welchen Gründen auch immer kaum am Unterricht teilgenommen haben. Man reagiert im System auf diese Vorgabe, in dem man die Anforderungen zum Erreichen eines Schulabschlusses absenkt. So erreicht man formal eine Zielerfüllung, allerdings hat die ihren Preis, wenn sie denn dadurch hergestellt wird, dass man Schüler, die früher am Abschluss gescheitert wären, nun durchkommen lässt. Aber ändert das was an dem, was die Kinder und Jugendlichen (nicht) mitbringen für ihren weiteren Weg beispielsweise in eine Ausbildung? Spätestens an der Grenze zur nächsten Stufe bzw. an deren Anfang schlagen die weiterhin vorhandenen, nunmehr lediglich mit einem Zertifikat bemäntelten Probleme wieder voll durch, was dann dazu führt, dass man die betroffenen Jugendlichen anderweitig aussortiert, weil man dem Abschlusszeugnis nicht traut.
Das Ziel, so lobenswert es auf den ersten Blick daherkommt, macht nur dann Sinn, wenn man von bestimmten Annahmen ausgeht. Dass sich im bestehenden System der Beschulung etwas ändert, was den Schülern oder ein Teil von ihnen, die bislang gescheitert sind, nunmehr das Erfolgserlebnis ermöglicht, den Abschluss doch noch zu erwerben, in dem sie doch die Anforderungen erfüllen können. Das wäre die eigentliche qualitativ sinnvolle Zieldimension. Was aber, wenn das wie angedeutet, unterlaufen wird innerhalb des Systems, in dem man gerade nichts ändert, außer die Betroffenen „durchzusinken“ und einen scheinbaren Erfolg zu kreieren? Oder was, wenn sich die Lehrkräfte wirklich bemühen, mit neuen Konzepten und Methoden und Angeboten die zu erreichen, die bislang durch die Löcher des bestehenden Systems gefallen sind – aber bei einem Teil der Jugendlichen dennoch scheitern (müssen), weil bei denen in dem Moment schlichtweg kein Resonanzboden für irgendwelche Lerneffekte vorhanden ist? Was gerade nicht heißt, dass dieser Resonanzboden nicht vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt da wäre bzw. ist, wo man wesentlich effektiver intervenieren könnte?

➔ In der Expertise von Klaus Klemm wird unter dem Punkte „Ohne Schulabschluss“ mit diesen Folgen argumentiert: »So bleiben 1,45 Millionen junge Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren in Deutschland ohne Berufsausbildung. Die Quote stieg den Angaben zufolge von 13,9 (2016) auf 15 Prozent im Jahr 2017.« Da nun muss man anmerken, dass es sich nicht nur um junge Menschen handelt, die keinen Schulabschluss haben. Darf man daran erinnern, dass noch vor wenigen Jahren auch viele Schüler mit einem Hauptschulabschluss an der Übergangsschwelle von der Schule in eine Berufsausbildung scheiterten (und das auch heute noch der Fall ist, vor allem in bestimmten Regionen)? Denn das hat auch was zu tun mit den Angebots-Nachfrage-Verhältnissen auf dem „Ausbildungsmarkt“ 8der in Wirklichkeit kein richtiger Markt ist). In Zeiten, als es „zu viele“ junge Menschen gab, konnten sich die Arbeitgeber ihre Auszubildenden aussuchen und „natürlich“ haben sie selektiert anhand der Abschlüsse, der Noten, persönlicher Merkmale der Bewerber. Da sind viele, die formal einen Schulabschluss haben, durch das Schüttelsieb gefallen. Und heute bekommen bestimmte Schüler, die noch vor einigen Jahren an die „sicherheitsverglaste“ Wand der Selektion gelaufen wären, aufgrund des Mangels an irgendwelchen Bewerbern überhaupt einen Ausbildungsplatz. Das waren und sind eben auch Folgen des Zusammenspiels von Faktoren, die auf einer höheren als der rein individuellen Ebene des Schülers liegen und die zu einem bestimmten Zeitpunkt hemmend-exkludierend, zu einem anderen Zeitpunkt aber chanceneröffnend wirken können. Die Frage des Wohnortes von „gleichen“ Schülern, was den Zugang zu einer Berufsausbildung angeht, hat bekanntlich eine ganz eigene  Wirkkraft. Diese Argumentation soll nichts entschuldigen oder gar verteidigen, aber eine einseitige Reduktion auf quantitativ messbare formale Kriterien hilft uns nicht wirklich weiter.

Auch in der Expertise von Klemm taucht sie immer wieder auf: die Bildung(un)gerechtigkeit. Das nun ist wahrlich kein neues Thema, gerade nicht in Deutschland. Aber wir bewegen uns in einem höchst komplexen Gefelgt an unterschiedlichen Stellschrauben und Einflussfaktoren, die sich nicht selten der guten Absicht entziehen. Nur als ein Beispiel dazu der Beitrag Wer schafft es nach oben? von Martin Spiewak vom 8. Mai 2018: »Auf dem Weg … (nach oben) gilt es jedoch, viele Hürden zu überwinden: die Schwelle zum Gymnasium, jene zur Oberstufe und zum Abitur und dann den Übergang auf die Hochschule. Und über jede einzelne Hürde – das hat die Bildungsforschung vielfach gezeigt – stolpern Kinder aus weniger gebildeten Familien häufiger. Man spricht deshalb von einer „akkumulierten Ungleichheit“. Wobei die selektivste Schwelle gleich die erste ist. Der Bildungsforscher Martin Neugebauer von der FU Berlin hat das einmal anhand einer Kohorte aus Arbeiterhaushalten nachgezeichnet. „Am Ende der Grundschule“, sagt Neugebauer, „gehen die meisten Kinder verloren.“ Weil sie geringere Leistungen erbringen. Weil sie keine Eltern haben, die sie fördern. Weil ihnen Lehrer wenig zutrauen. Dass diese Selektion in Deutschland so früh ansetzt – nämlich in den meisten Bundesländern nach der vierten Klasse –, wirkt sich besonders nachhaltig aus. „Je früher man differenziert, desto unklarer sind die Prognosen“, sagt Neugebauer. Wer früh aussortiert, kann eben leicht danebenliegen.« Da ist sie wieder, die durchaus berechtigte Systemfrage. Und auch: »Die soziale Herkunft lässt sich nicht neutralisieren, ganz egal, wie die Umwege, Anschlüsse und Aufstiege bis zum Abitur auch aussehen. Und gleichgültig, welche Hebel und Stützen die Bildungspolitik einsetzt, um den Schwachen unter die Arme zu greifen – die Starken bedienen sich der Fördermöglichkeiten mit der größten Selbstverständlichkeit ebenso.« Und eine weitere Stärkung des Arguments, auf die Systeme (und die tatsächlichen Prozesse, die darin ablaufen) zu schauen: » Überdurchschnittliche Intelligenz und großer Fleiß helfen beim Bildungsaufstieg, doch notwendig sind sie nicht unbedingt – wenn man die richtigen Eltern hat. Man kann diese Ungerechtigkeit als Skandal brandmarken oder als normales Merkmal jeder Gesellschaft betrachten. Einen Bildungstrichter findet man nämlich in jedem Land der Welt. Auch die beschriebenen sozialen Mechanismen – Einfluss des Elternhauses, Streben nach Statuserhalt, Risikoaversion – wirken universell. „Es gelingt nur einigen Ländern überdurchschnittlich gut, die Herkunftsunterschiede auszugleichen“, sagt Karl Ulrich Mayer. Kanada und die Niederlande gehören zum Beispiel dazu sowie die meisten skandinavischen Länder.«

Aber er spricht auch einen wichtigen und Ungleichheit verstärkenden Einflussfaktor an, den man auf keinen Fall wegdiskutieren sollte und kann und gegen den es „die Systeme“ ziemlich schwer haben: »Vor einer Illusion sei jedoch gewarnt: Aus dem Trichter wird niemals ein Rohr. Bildungsungleichheit wird es immer geben … Als Schicksalskorrekturanstalten sind Kitas, Schulen und Universitäten nur bedingt tauglich. Dafür ist der Einfluss der Eltern einfach zu mächtig. Damit ist nicht die genetische Mitgift gemeint, auch wenn kein Zweifel daran besteht, dass Intelligenz auch genetische Ursachen hat und damit ebenso der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und Schichtzugehörigkeit. Genauso wichtig ist der kulturelle und soziale Grundstock, den die Eltern ihrem Kind mitgeben und damit Lernfreude und Denkvermögen mehr prägen, als es je ein Lehrer oder eine Lehrerin vermag.«