Die Erwerbsarbeitszeit und ihre gesetzliche Entgrenzung: Klassenkampf in Österreich – und in Deutschland (nicht nur) die FDP?

Es ist sicher keine Übertreibung, wenn man die Arbeitszeitfrage als eine der wichtigsten und naturgemäß umstrittensten Fragen bei der Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern hervorhebt. Das entspringt dem niemals auflösbaren, sondern nur auf dem Wege des Kompromisses modellierbaren Dilemmas, dass die einen möglichst ungehindert und unbegrenzt auf die Arbeitskraft zugreifen und diese nach den jeweiligen betrieblichen Anforderungen nutzen möchten, während die anderen ein großes Interesse daran haben, dass sich die Erwerbsarbeit in einem geregelten Rahmen bewegt und dass dieser Planbarkeit sowie eine Synchronisierung mit dem privaten Leben (das aber auch die notwendigen Zeiten der Regeneration und Erhaltung der Arbeitskraft, die man auf dem Erwerbsarbeitsmarkt verkaufen muss, beinhaltet) ermöglicht. Und eine gleichsam dritte Seite in diesem Geflecht hat das berechtigte Schutzinteresse der Arbeitnehmer angesichts der auf vielen Teilarbeitsmärkten gegebenen Asymmetrie der Machtverhältnisse vor Augen, um die Arbeitnehmer mit Schutzregelungen vor einer Überausbeutung durch die Arbeitgeber, aber angesichts der zuweilen anzutreffenden Nicht-Wahrnehmung der eigenen Verletzbarkeit auch vor Selbstausbeutung zu bewahren, wozu dann beispielsweise Arbeitszeitgesetze und damit zusammenhängende Regelungen dienen (sollen). 

Nun gibt es nicht nur in Deutschland ein Arbeitszeitgesetz (und eine Debatte über Veränderungen an den dort normierten Regelungen), sondern auch in Österreich. Und die sind den Deutschen einen Schritt voraus. Was dann zu solchen Schlagzeilen führt: Die Arbeiterkammer sieht einen „unglaublichen Eingriff in Freizeit und Gesundheit“, die Gewerkschaft beklagt „Lohnraub“, kann man diesem Artikel entnehmen: Arbeitnehmervertreter empört über Zwölfstundentag. Oder wie wäre es hiermit: Kern sieht „Klassenkampf von oben“. Ein Artikel, der auch deshalb interessant ist, weil die Gegenseite die Klassenkampf-Keule in die andere Richtung schwingt: »Von Klassenkampf spricht die Sozialministerin Beate Hartinger-Klein (FPÖ). Die Gewerkschaft würde beim Thema Arbeitszeitflexibilisierung und 12-Stunden-Tag Verunsicherung betreiben, etwa mit dem aus ihrer Sicht unrichtigen Vorwurf des Lohnraubs.«

Um was geht es hier genau? Offensichtlich nicht um marginale Änderungen an einem Regelungswerk, folgt man dem öffentlichen Aufschrei von der Arbeitnehmerseite: „Der Entwurf verblüfft darin, wie radikal er ist“, so der Arbeiterkammer-Chef Christoph Klein. Die Anhebung der Höchstarbeitszseit sei „ein unglaublicher Eingriff in die Freizeit, die Gesundheit, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. „Der Zwölfstundentag wird plötzlich zum Normalfall“, sagt Klein. „Der Arbeitgeber kann jederzeit verlangen: Heute bleibst du zwölf Stunden da, in dieser Woche brauchen wir dich sechzig Stunden.“ Dass, wie die Koalitionsparteien argumentieren, der Arbeitnehmer die Überstunden ja einfach ablehnen könne, weist Klein zurück: „Das trauen sich die meisten nicht“, und zwar aus guten Gründen: „Wer ablehnt, riskiert die fristlose Entlassung.“ Und: „Ein Raubzug gegen die Gesundheit und Geldbörsen“ der Arbeitnehmer habe begonnen, so der neue österreichische Gewerkschaftschef Wolfgang Katzian (vgl. dazu auch ÖGB kritisiert 12-Stunden-Tag als „Raubzug“ gegen Arbeitnehmer). Und es bleibt nicht nur bei einer semantischen Kritik: Der ÖGB-Chef machte klar, dass die Regierung mit dem Zwölfstundentag eine rote Linie überschritten habe. Maßnahmen bis hin zum Streik sind daher möglich.

Starker Tobak, der uns hier von der organisierten Arbeitnehmerseite serviert wird. Was genau beabsichtigt die regierende ÖVP-FPÖ-Koalition, bei den arbeitszeitgesetzlichen Grundlagen zu verändern? Über die folgenden Eckpunkte wird berichtet:

Höchstarbeitszeit: Die gesetzliche tägliche Arbeitszeithöchstgrenze wird von zehn auf zwölf Stunden angehoben. Die wöchentliche Höchstgrenze wird von 50 auf 60 Stunden angehoben.
Normalarbeitszeit: An der Normalarbeitszeit von acht Stunden soll sich nichts ändern, die durchschnittliche Wochenarbeitszeit darf wie bisher 48 Stunden nicht überschreiten.
Überstunden: Vereinbarte Überstunden (elfte und zwölfte Stunde) sind laut dem Entwurf „zumindest mit den gesetzlichen Überstundenzuschlägen zu vergüten“, außer es gibt in den jeweiligen Kollektivverträgen bessere Regelungen. Sofern ein Kollektivvertrag oder eine Betriebsvereinbarung einen Zeitausgleich vorsieht, ist auch das zulässig. Darüber hinaus soll es ein Ablehnungsrecht für die elfte und zwölfte Stunde bei „überwiegend persönlichen Interessen“ für jeden Arbeitnehmer geben (zum Beispiel Kinderbetreuungspflichten).
Ruhezeit: Im Tourismus ist eine Verkürzung der täglichen Ruhezeit von elf auf maximal acht Stunden für alle Betriebe mit geteilten Diensten vorgesehen. Geplant sind zudem Ausnahmemöglichkeiten von der Wochenend- und Feiertagsruhe durch Betriebs- oder schriftliche Einzelvereinbarungen. Allerdings darf es maximal vier Ausnahmen pro Jahr geben.
Nicht-Anwendung des Arbeitszeitgesetzes: Ausgeweitet wird der Ausnahmekatalog des Arbeitszeitgesetzes. Neben leitenden Angestellten sollen auch „sonstige Personen mit selbstständiger Entscheidungsbefugnis“ sowie „Arbeitskräfte, die Familienangehörige sind“, von den Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes ausgenommen werden.

Und offensichtlich hat man es eilig: Das Gesetz wollen ÖVP und FPÖ offenbar rasch durch den Nationalrat bringen. Die Regelungen sollen bereits Anfang Juli vom Parlament abgesegnet werden und am 1. Januar 2019 in Kraft treten. Und das ohne die sonst übliche Begutachtungsfrist, bei der die Öffentlichkeit die Möglichkeit hat, zum Gesetzesentwurf Stellung zu nehmen und auf mögliche Änderungen im Entwurf zu drängen. Man wird abwarten müssen, wie sich das in Österreich weiter entwickelt.

Und in Deutschland? Da war doch was. Genau. In dem Beitrag Ins Uferlose oder nur eine Anerkennung der Realitäten? Nicht nur die FDP will eine „Flexibilisierung“ des Arbeitszeitgesetzes vom 29. März 2018 wurde die aktuelle Debatte bei uns zusammengefasst. Auch hier gibt es einen starken Druck aus den Reihen der Arbeitgeber, das deutsche Arbeitszeitgesetz zu „flexibilisieren“, wie das immer so beschönigend formuliert wird. Und die bekommen Unterstützung aus den Reihen der Wissenschaft, beispielsweise von der Mehrheitsfraktion des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, umgangssprachlich auch euphemistisch als die „fünf Wirtschaftsweisen“ tituliert:

Die haben sich mit ihrem jüngsten Jahresgutachten 2017/18, das im November 2017 veröffentlicht wurde, in der Arbeitszeitdebatte an die Front geworfen zugunsten der Arbeitgeberforderungen:
»Im Zuge einer Reform des Arbeitszeitgesetzes könnte eine Anpassung von einer Tageshöchstzeit auf eine Wochenhöchstzeit helfen, die Arbeitszeit flexibler auf die Wochentage zu verteilen. Zudem dürfte es sinnvoll sein, bei kollektiven Regelungen Abweichungen von der Mindestruhezeit von elf Stunden zuzulassen, um die Flexibilität von Arbeitszeit und -ort zu fördern. Forderungen nach einer weiteren Verkürzung der Arbeitszeit erscheinen mit Blick auf den im Zuge des demografischen Wandels voraussichtlich zunehmenden Fachkräfteengpass unzeitgemäß.«

Und eine neue, diesmal parlamentarische Runde der Auseinandersetzung wurde mit einem Antrag der oppositionellen FDP eröffnet: Konkret geht es um den Entwurf der FDP-Fraktion für ein „Gesetz zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes“ (Drucksache 19/1174 vom 13.03.2018).

Dort findet man die folgende Zielsetzung des Gesetzentwurfs: »Im Arbeitszeitgesetz werden neue Abweichungsmöglichkeiten per Tarifvertrag oder durch eine auf Grund eines Tarifvertrags getroffene Betriebs- oder Dienstvereinbarung geschaffen. Unter Einhaltung der Vorgaben der EU-Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) werden so neue Freiräume für die Einteilung der Arbeitszeit geschaffen.« Der Gesetzentwurf der FDP ist überaus schlank ausgestaltet, er besteht aus nur einem Artikel, der sich auf eine Änderung des § 7 ArbZG, wo „abweichende Regelungen“ normiert sind, bezieht. Dazu muss man wissen: Abweichende Regelungen von den grundsätzlichen Vorgaben die tägliche Arbeitszeit betreffend können auch heute schon nach diesem Paragrafen getroffen werden auf der Basis eines Tarifvertrags oder auf Grund eines Tarifvertrags in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung. Und in diesen Paragrafen soll nun im Absatz 1 eine neue Nummer b eingefügt werden, die es den Akteueren erlaubt, „anstelle einer werktäglichen Höchstarbeitszeit eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von durchschnittlich 48 Stunden festzulegen“. Diese Formulierung wäre ein gesetzliches Passepartout, mit dem man nicht hinsichtlich der wöchentlichen Höchstarbeitszeit, aber bei der täglich zulässigen Arbeitsstunden maximale Freiheitsgrade bekommen würde. Es geht also nicht um eine Ausdehnung der gesetzlich zulässigen wöchentlichen Maximalarbeitszeit auf 50 oder 60 Stunden, was sicher manche Arbeitgeber auch gerne hätten. Den Vorwurf kann man dem Entwurf der FDP nicht machen. Es geht um ein Schleifen der täglichen Arbeitszeitvorschriften.

Das nun hat die Linken und die Grünen nicht ruhen lassen und auch die haben sich mit eigenen, von dem Ansatz der FDP mehr als abweichenden Anträgen zu Wort gemeldet: „Mehr Arbeitszeitsouveränität für Beschäftigte schaffen“, so ist der Antrag der Linken überschrieben (Drucksache 19/2522 vom 05.06.2018) und „Beschäftigten mehr Zeitsouveränität ermöglichen“ heißt es bei den Grünen (Drucksache 19/2511 vom 05.06.2018).

Zu dem Vorstoß der FDP und den abweichenden Anträgen der beiden anderen Parteien wird es eine Öffentliche Anhörung im Bundestag geben, am 25. Juni 2018. Das Thema wird also auch in Deutschland weiter auf der Tagesordnung bleiben, wenn auch derzeit nicht in der Intensität wie in Österreich. Aber das kann ja noch kommen.