In den vergangenen Tagen gab es mal wieder das Aufflackern einer Arbeitszeitdiskussion zu beobachten, wie sie auch in der Vergangenheit von den meisten Akteuren eher reflexhaft geführt wurde: Gemeint ist die Debatte über ein Rückkehrrecht von Teilzeit arbeitenden Beschäftigten in Vollzeit. Dazu der Beitrag Arbeitszeit: Recht auf Teilzeit zwischen Wunsch und Notwendigkeit, von einer Teilzeitfalle und dem Recht, da wieder rauszukommen vom 4. Januar 2017. Während die eine Seite sofort das Bürokratiemonster vor der Unternehmenstür beschwört, fordern und befürworten die anderen gesetzliche Regelungen, die den Arbeitnehmern verbindliche Ansprüche eröffnen. Nun kann man darüber streiten, ob das, was das Bundesarbeitsministerium gemäß der Vereinbarungen im Koalitionsvertrag aus dem Dezember 2013 (noch) plant, wirklich eine deutliche Verbesserung bringen wird in dem überaus komplexen Beziehungsgeflecht von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Man wird sicher auch mit an anderer Stelle kritisierten Konsequenzen leben müssen, wie beispielsweise einem Anstieg der befristeten Jobs, wenn es ein Rückkehrrecht in Vollzeit durch eine befristete Teilzeit-Regelung geben wird. Und nicht vergessen werden sollte, dass das alles an den Millionen Beschäftigten vorbei geht, die in Unternehmen mit bis zu 15 Beschäftigten arbeiten.
Aber man sollte in Erwägung ziehen, dass die eigentlich brisanten Arbeitszeitfragen ein anderes Gesetz als das Teilzeit- und Befristungsgesetz betreffen. Gemeint sind die Regelungen im Arbeitszeitgesetz. Dort sind beispielsweise die täglichen bzw. wöchentlichen Höchstarbeitszeiten geregelt oder die Mindestruhezeiten, die zwischen zwei Arbeitseinsätzen verlangt werden. In diesem Gesetz ist auch eine grundsätzliche Sonn- und Feiertagsruhe normiert: »Arbeitnehmer dürfen an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen von 0 bis 24 Uhr nicht beschäftigt werden«, heißt es im § 9 ArbZG.
Nun wissen wir alle, dass es in der Wirklichkeit sehr wohl Arbeitnehmer gibt, die an Sonn- und Feiertagen arbeiten (müssen). Und schon sind wir mittendrin in dem niemals vollständig auflösbaren Spannungsfeld von Schutzinteressen auf der Beschäftigtenseite und den wirtschaftlichen Interessen auf der Arbeitgeberseite. Man kann sogar eine sich selbst beschleunigenden scheinbare Widersprüchlichkeit konstatieren: Gerade weil man eine grundsätzliche Sonn- und Feiertagsruhe gesetzlich normiert hat (für die Mehrheit der Arbeitnehmer), an die sich die „normalen“ Arbeitgeber zu halten haben, ist auf der anderen Seite ein enormer Bedarf an Arbeitnehmern entstanden, die für deren Freizeitbeschäftigung arbeiten müssen und damit natürlich auch an den an sich freien Tagen bzw. zu Zeiten, wo die meisten anderen Menschen eben nicht mehr arbeiten.
Die Regelungen im Arbeitszeitgesetz sorgen für zahlreiche Konflikte, das war schon in der Vergangenheit so, nur dass sie da oftmals nicht an die Oberfläche gekommen sind, weil schlichtweg keiner Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz kontrolliert hat. Das ist mit dem Mindestlohngesetz (MiLoG) anders geworden, denn dort wird ein Mindeststundenlohn definiert, was zwingend voraussetzt, dass man die geleisteten Arbeitsstunden nachvollziehen muss, um berechnen zu können, ob der gesetzlich zustehende Mindestlohn auch wirklich gezahlt wurde.
Auf diesen Zusammenhang wurde bereits in dem Beitrag (Schein-)Welten des gesetzlichen Mindestlohns nach seiner Geburt vom 22. April 2015 hingewiesen. Dort wurde berichtet von einer vom bayerischen Hotel- und Gaststättenverband organisierten Demonstration von 5.000 Gastwirten in München „gegen Bürokratismus und Dokumentationswahn“ als Folge des gesetzlichen Mindestlohnes. Schaut man sich den Sachverhalt genauer an, dann versteht man sehr schnell, dass der eigentlichen Gegenstand des Protestes weniger bis gar nicht der zu zahlende Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro pro Stunde ist, sondern das Arbeitszeitgesetz, wobei die Verstöße gegen dieses Gesetz in der Vergangenheit oftmals und in der Regel kaschiert werden konnten, nunmehr aber durch die Stundendokumentation der beschäftigten Arbeitnehmer offensichtlich werden, wenn es denn mal eine Kontrolle geben sollte.
Es geht den Hoteliers und Wirten vielmehr um die Pflicht, die geleistete Arbeitszeit minutiös Woche für Woche aufzulisten und gleichzeitig um die Arbeitszeitgrenzen nach dem schon viel länger geltenden Arbeitszeitgesetz, das maximal zehn Stunden Arbeit pro Tag festschreibt. „Wenn ich eine Hochzeit habe“, so ein Wirt aus Freyung am Rande der Demo, „dann dauert die doch oft zwölf oder gar 14 Stunden – oder auch nicht. Ich müsste dafür also auf Verdacht neue Leute verpflichten, die nach zehn Stunden den Service übernehmen“, zitiert Franz Kotteder in seinem Artikel 5000 Wirte demonstrieren gegen ausufernde Bürokratie. Ganz offensichtlich ist es so, dass das Mindestlohngesetz mit der aus ihm resultierenden Verpflichtung, die Arbeitszeiten er Beschäftigten zu dokumentieren, vor allem deshalb als Problem wahrgenommen wird, weil dadurch gleichsam offensichtlich wird, dass man gegen das Arbeitszeitgesetz verstößt.
Auf der anderen Seite wird aber auch erkennbar, dass es durchaus eine Diskrepanz geben kann zwischen dem, was das Arbeitszeitgesetz als Schutzvorschrift für die Arbeitnehmer normiert und der Nicht-Wahrnehmung als Schutzvorschrift auf Seiten der Beschäftigten selbst, die nicht immer nur gezwungen werden, also gegen ihren Willen formal gegen die gesetzlichen Bestimmungen verstoßen. Nehmen wir als ein Beispiel die zeitliche Obergrenze der täglichen Arbeit. So ist die Obergrenze von acht, max. zehn Stunden sicherlich eine sinnvolle Norm, mit der verhindert werden soll, dass es zu einer übermäßigen Inanspruchnahme des Arbeitnehmers kommt – übrigens, wie wir aus der Forschung gesichert wissen, mit erheblichen Gesundheitsgefährdungen wie auch Produktivitätseinbußen jenseits der zehn Stunden Arbeit. Aber dahinter steht immer irgendwie die Vorstellung, ein Arbeitnehmer hat einen Arbeitsplatz und auf dem muss er oder sie geschützt werden. In so einem Kontext macht das auch alles Sinn. Aber was ist mit denen, die nicht regelmäßig, sondern hin und wieder einer zusätzlichen Nebentätigkeit in der Gastronomie nachgehen und bei denen dann – beispielsweise im Zusammenhang mit einer Feierlichkeit – tatsächlich mal mehr als zehn Stunden anfallen, was aber aus Sicht der Betroffenen „kein Problem“ sei, da sie das nicht täglich machen (müssen), sondern eben als Zuverdienst?
Faktisch ist die Situation in der Realität doch so, dass in nicht wenigen Branchen tagtäglich gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen wird und das nicht selten auch mit Zustimmung der Betroffenen. Das ist vor dem Hintergrund der gesetzlichen Bestimmungen, die einzuhalten sind, ein Problem. Nun könnte man auf die Idee kommen, dann eben die Bestimmungen der Teil-Realität anzupassen, was aus den Reihen der Arbeitgeberverbände auch schon seit längerem gefordert wird (immer unter dem schöner klingenden Stichwort von der „Flexibilisierung“), was aber – ob gewollt oder ungewollt – dazu führen kann, dass auch diejenigen in den Sog geraten, für die die Schutzbestimmungen mehr als sinnvoll sind.
Das Bundesarbeitsministerium (BMAS) hat nun nach einem „Dialogprozess“ im November 2016 das Weißbuch Arbeiten 4.0 veröffentlicht. Darin enthalten sind acht Gestaltungsbereiche, für die Lösungsansätze vorgeschlagen werden, einer davon ist überschrieben mit „Arbeitszeit: Flexibel, aber selbstbestimmt“. Das hört sich gut und irgendwie nach einem erfolgreich durchgeschlagenen gordischen Knoten an. Aber das eine sind wohlfeil daherkommende Worte, das andere der reale Gehalt. Und das BMAS steht vor dem gleichen Problem, das schon angedeutet wurde – etwas zu verändern, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) skizziert ihre Vorstellungen das Arbeitszeitthema in dem Interview „Die digitale Revolution kommt schneller, als vielen klar ist“ so:
»… wir müssen neuen Spielraum zwischen Flexibilität und Sicherheit ermöglichen. Ein Beispiel: Ich möchte, dass Arbeitnehmer stärker selbst bestimmen können, wann sie arbeiten. Diese Woche werde ich einen Gesetzentwurf ans Kanzleramt schicken, der ein Erörterungsrecht über die Lage der Arbeitszeiten beinhaltet. Ein Arbeitnehmer soll mit seinem Arbeitgeber darüber verhandeln können, morgens eine halbe Stunde später zu kommen, um das Kind ohne Hetze in die Kita zu bringen. Der Arbeitgeber soll das nur ablehnen können, wenn er gut begründet, warum die betrieblichen Abläufe das nicht erlauben. Für mich ist das ein Beitrag, um Arbeitnehmern Stress zu nehmen, der zwischen Familien- und Arbeitszeit entsteht.«
Dann wird sie darauf angesprochen, dass man doch auch über eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes und des Arbeitsschutzes nachdenke:
»Wir wollen Experimentierräume, für zwei Jahre, wissenschaftlich begleitet, auf der Basis eines Tarifvertrags. Unter diesen Bedingungen sollen Arbeitgeber und Gewerkschaften zum Beispiel verabreden können, bei der Arbeitszeit über die gesetzlichen Regeln hinauszugehen. Mir geht es nicht darum, den 8-Stunden-Tag abzuschaffen. Aber ich möchte mehr Bewegung reinbringen.«
Die Ministerin versucht, hier mehrere Fliegen mit einer Klappe zu erwischen – sie will eine Abweichung vom bestehenden Recht ermöglichen, die aber nur auf dem Weg einer Vereinbarung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften und das dann auch nur in tarifgebundenen Unternehmen.
An dieser Stelle setzt dann auch die Kritik des Arbeitsmarktexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft, Oliver Stettes, an, der sich in dem Interview IW-Experte zur geplanten Reform des Arbeitszeitgesetzes: „Die Politik sollte mutiger sein“ so äußert:
»Alle Unternehmen, auch die kleinen ohne Betriebsrat, müssen ausprobieren dürfen. Die Politik sollte da mutiger sein – und nur eingreifen, wenn sich eine Entwicklung anbahnt, die aus dem Ruder zu laufen droht. Kurzum: Das Weißbuch ist kein großer Durchbruch.«
Das Problem für Politik und Gesetzgeber: Wo soll man die Grenzen denn ziehen? Gerade branchenbezogen gibt es immer im Einzelfall durchaus nachvollziehbare Aspekte, die im Ergebnis aber zu einer erheblichen Zunahme der Beschäftigung zu Zeiten führen würde, die bislang noch teilweise oder ganz blockiert waren, wie beispielsweise die Sonntagsarbeit.
Dazu ein Beispiel: In seinem Artikel „Mehr Planbarkeit für Internethändler. Die Logistik in Stoßzeiten reibt sich am strengen deutschen Arbeitszeitrecht“ (Print-Ausgabe der FAZ vom 04.01.2017) beschreibt Matthias Dombert, der in einer Anwaltskanzlei tätig ist, das betriebswirtschaftliche Problem, dass die Online-Händler mit der grundsätzlich geltenden Sonntagsruhe haben, denn gerade an den Wochenenden wird viel bestellt und das rund um die Uhr und die Kunden wollen ihre Lieferungen so schnell wie möglich. Da wirkt das Arbeitszeitgesetz wie eine Bremse:
»Sonntagsarbeit ist in Deutschland grundsätzlich tabu. Nach wie vor gilt die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass durch Verkaufsbeschränkungen wie Ladenschlusszeiten und das Verbot der Sonntagsarbeit „der Rhythmus des öffentlichen Lebens und der Freizeit beeinflusst“ und Arbeitnehmern möglichst weitgehend der arbeitsfreie Abend und die arbeitsfreie Nacht sowie ein zusammenhängendes freies Wochenende gesichert werden sollen. Nicht für alle Bereiche aber gilt die Norm. Dort, wo Menschen auch am Sonntag arbeiten müssen, damit unser Zusammenleben und die Versorgung funktioniert, sind Ausnahmen vorgesehen. Solche fehlen jedoch für Logistikunternehmen, insbesondere für die verkaufsstarken Wochen zum Jahresende. Sie sind auf eine Behördenerlaubnis in jedem Einzelfall angewiesen.«
Wir ahnen schon, worauf das hinausläuft – eine großzügige Freistellung der Logistik-Unternehmen von der Sonntagsruhe. Wobei sich dem einen oder anderen vielleicht nicht sofort erschließen will, dass die Logistik-Unternehmen zu denen gehören, »wo Menschen auch am Sonntag arbeiten müssen, damit unser Zusammenleben und die Versorgung funktioniert«, für die es dann ja auch im bestehenden Recht Befreiungen vom Arbeitsverbot gibt. Will man uns ernsthaft auf die Nase binden, die Abwicklung einer Amazon & Co.-Bestellung auch am Sonntag ist zwingend notwendig, damit unser Zusammenleben und die Versorgung in Deutschland funktioniert?
Auf der anderen Seite bewegt man sich nicht im luftleeren Raum und recht unverhohlen kann ja auch mal gedroht werden: »Ohne Klarstellung haben die betroffenen Unternehmen nicht viel Handlungsspielraum: Sie können in das osteuropäische Ausland ausweichen …«
Auch solche Beispiele sollten einen skeptisch stimmen: Rainer Dulger, der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, wird in dem Artikel Flexibilisierung 4.0 mit den Worten zitiert, es müsse »einfach möglich sein, dass ein Mitarbeiter nachmittags um vier heimgeht, das Kind aus der Kita abholt, abends um 21 Uhr ins Bett bringt und sich dann nochmal zwei Stunden an die Arbeit setzt«. In vielen Branchen sind derart flexible Arbeitszeiten längst Alltag, vor allem in der schönen neuen Welt der freiberuflichen Kreativen. Und der Arbeitgeber-Präsident geht weiter: Er könne sich eine gesetzliche Regelung vorstellen, die eine »tarifliche Öffnungsklausel vorsieht«, nach der statt des Achtstundentages eine »Wochenarbeitszeit von x Stunden« vereinbart werden kann.
Wo fängt man an, wo hört man auf?