Die abschlagsfreie „Rente mit 63“ für einige Jahrgänge läuft. „Die Leute rennen uns die Bude ein“. Die einen sehen schwarz, die anderen freuen sich und wollen mehr davon

»Das war mal ein sozialpolitisches Aufreger-Thema: die „Rente mit 63“. Dieses der SPD zugeschriebene Projekt wurde am Anfang der letzten Großen Koalition im Jahr 2014 zusammen mit der von der Union gepushten und ebenfalls umstrittenen „Mütterrente“ gesetzgeberisch ins Leben gerufen. Aus den Reihen der Wirtschaft hat man aus allen Rohren geschossen gegen die Eröffnung der Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen bereits mit 63 eine abschlagsfreie Altersrente in Anspruch nehmen zu können, denn man befürchtete nicht ohne Grund, dass zahlreiche Arbeitnehmer davon Gebrauch machen werden und darunter vor allem Facharbeiter und andere qualifizierte Arbeitskräfte, die (noch) in den Genuss ordentlicher Renten kommen. Nicht ohne Grund ist die „Rente mit 63“ vor allem seitens der großen und einflussreichen Industriegewerkschaften in den damaligen Koalitionsvertrag bugsiert worden.« Mit diesen Worten begann der Beitrag Rückblick: Die kurzfristige Option einer abschlagsfreien „Rente mit 63“ wurde von Hunderttausenden in Anspruch genommen, der hier am 5. März 2018 veröffentlicht wurde.

Und mehr als ein Jahr später wird man mit solchen Botschaften versorgt: Run auf Rente ab 63: „Die Leute rennen uns die Bude ein“: Ostdeutsche drängt es in Vorruhestand. Mehr als 40 Prozent aller Rentner gingen 63-jährig und ohne Abschläge in Rente – viel mehr als in Westdeutschland, berichtet Hendrik Munsberg in seinem Artikel. Das hat dann sofort diejenigen aktiviert, die immer schon gegen diese zeitlich befristete Sonderregelung Sturm gelaufen sind. Die teure Rente mit 63 Jahren, so macht Dorothea Siems schon in der Überschrift deutlich, was sie von dieser Entwicklung hält. Nichts.

»Die Rente mit 63 erfreut sich außerordentlich großer Beliebtheit. Als die große Koalition 2014 die abschlagsfreie Frührente für besonders langjährig Versicherte beschloss, hatte die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mit 200.000 Anträgen pro Jahr kalkuliert. Tatsächlich jedoch war die Nachfrage von Beginn an viel größer. Und so fallen auch die Kosten deutlich höher aus als vom Ministerium prognostiziert … Laut Berechnungen des Münchner Ifo-Instituts sind durch die Rente mit 63 allein zwischen 2014 und 2016 direkte Mehrausgaben der Rentenversicherung von 6,5 Milliarden Euro entstanden. Die Bundesregierung hatte in ihrem Gesetzentwurf nur mit fünf Milliarden Euro gerechnet. Werden die Ausfälle an Steuern und Sozialbeiträgen hinzugerechnet, liegen die Gesamtkosten laut Studie in dem Zeitraum sogar bei 12,5 Milliarden Euro. „In den kommenden Jahren ist mit weiter steigenden Kosten zu rechnen, wenn die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge die abschlagsfreie vorzeitige Rente in Anspruch nehmen können“, sagt Ifo-Forscher Mathias Dolls.« Siems bezieht sich hier auf Ausführungen aus dem ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, die man diesem Working Paper entnehmen kann:

➔ Mathias Dolls and Carla Krolage (2019): The Effects of Early Retirement Incentives on Retirement Decisions. ifo Working Paper No. 291, Munich: ifo Institute – Leibniz Institute for Economic Research at the University of Munich, 2019

Zurück zu den neuesten Zahlen: »Seit die Regelung im Sommer 2014 in Kraft trat, haben bereits 1,2 Millionen Menschen die abschlagsfreie Frührente beantragt. Allein im vergangenen Jahr gingen rund 251.000 Beschäftigte aufs Altenteil. Rund 30 Prozent aller Neuzugänge in die Altersrente entfielen nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung 2018 auf die Rente mit 63«, so Siems in ihrem Artikel.

Und Hendrik Munsberg berichtet mit leicht abweichenden Werten in seinem Artikel: »Bundesweit erhielten 2018 rund 244 000 Versicherte – und damit deutlich mehr als erwartet – erstmals dieses umstrittene Ruhegeld, das vor fünf Jahren auf Betreiben der SPD von der großen Koalition eingeführt worden war. Bezogen auf insgesamt 784 000 Neurentner bedeutete das 2018 einen Anteil von 31 Prozent. Besonders stark war der Zulauf zur abschlagsfreien Rente ab 63 in Ostdeutschland, hier lag der Anteil bei 42 Prozent, während er im Westdeutschland mit 28,5 Prozent ein deutlich geringeres Niveau erreichte. Der Chef der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland, Jork Beßler, sagte der dpa: „Die Leute rennen uns die Bude ein.“« Wie kommt es zu der anteilig deutlich größeren Inanspruchnahme der „Rente mit 63“ in Ostdeutschland? »DRV-Bund-Sprecher Sprecher Dirk von der Heide erklärte dazu, die Arbeitnehmer in den ostdeutschen Ländern seien im Durchschnitt länger versicherungspflichtig beschäftigt als ihre Kollegen in Westdeutschland. Der Anteil derjenigen, die 45 Versicherungsjahre haben und damit die Voraussetzungen für die abschlagsfreie Rente ab 63 erfüllten, sei damit entsprechend höher.«

Die besonderen Verhältnisse in Ostdeutschland sind schon länger beschrieben worden: »Die Möglichkeit eines vorzeitigen Renteneintritts wird vor allem in Ostdeutschland rege in Anspruch genommen. Nur eine Minderheit aller Neurentner verbleibt tatsächlich bis zum „normalen“ Rentenalter im Erwerbsleben, was mit Blick auf die demographisch bedingte Arbeitskräfteknappheit nicht unproblematisch ist. Die naheliegende Erklärung für die höhere Inanspruchnahme der „Rente ab 63“ in Ostdeutschland sind die ostspezifischen Erwerbsbiographien: Frühzeitiger Start ins Erwerbsleben und höhere Rentenansprüche der Frauen«, so beispielsweise Joachim Ragnitz im vergangenen Jahr:

➔ Joachim Ragnitz (2018): Die Regelaltersgrenze – nicht die Regel, in: ifo Dresden berichtet, Heft 6/2018, S. 16-17

Interessant ist ein Blick auf die Zeitreihe der Rentenzugänge seit dem Jahr 2012, denn ab diesem Jahr wurde – korrespondierend mit der stufenweise Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre – eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte eingeführt, die dann 2014 von der GroKo in die abschlagsfreie „Rente mit 63“ (für einige Jahrgänge) transformiert wurde (➞ ab 2014 konnte man nach mindestens 45 Jahren Renteneinzahlung mit 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen. Inzwischen sind es 63 Jahre und acht Monate, da die Regelaltersgrenze seither stieg – auf aktuell 65 Jahre und acht Monate. Alle nach 1964 Geborenen werden nach der bestehenden Rechtslage erst wieder frühestens mit 65 in Rente gehen dürfen):

Schaut man sich die Medienberichterstattung zu diesem Thema an, dann überwiegen die kritischen und ablehnenden Artikel. Immer wieder wird auf den „Aderlass“ für die Unternehmen hingewiesen und dass angeblich „die Falschen“ von dieser befristeten Sonderregelung profitieren würden. Dazu nur als ein Beispiel die Ausführungen von Dorothea Siems: »Wie schon frühere Studien zeigten, stellt auch die aktuelle Ifo-Untersuchung fest, dass es vor allem die gut abgesicherten männlichen Facharbeiter sind, die von der Regelung profitieren … Die Ökonomen monieren, dass die subventionierte Frührente die Nachhaltigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung schwäche. „Sie stellt eine mit hohen Kosten verbundene Umverteilungsmaßnahme von Beitragszahlern und Beziehern kleinerer Renten zu Rentnern mit vergleichsweise hohen Einkommen dar.“«

Aber es gibt auch eine ganz andere Sichtweise auf die vielgescholtene „Rente mit 63“ – nicht überraschend wird die beispielsweise von der IG Metall vertreten, die 2014 diese Regelung über die SPD in den Koalitionsvertrag hat einbringen können: Danke, Rente ab 63!, so ist ein Artikel dazu überschrieben. Deren Argumentation geht so:

»Die IG Metall hat die Rente ab 63 von Anfang an unterstützt. Das Gesetz korrigiert die Ungerechtigkeit, dass am Ende eines langen Erwerbslebens die Lebensleistung durch Rentenkürzungen entwertet wird. Und es entspricht der Lebensrealität vieler Arbeitnehmer, die froh sind, wenn sie überhaupt 45 Jahre körperlich durchhalten.«

»Von 2014 bis 2018 haben über 1,13 Millionen Menschen die Rente ab 63 in Anspruch genommen („Altersrente für besonders langjährig Versicherte“). Davon waren fast 42 Prozent Frauen. Das widerspricht der häufig gehörten Kritik, die Rente ab 63 sei ein Frühverrentungsprogramm für männliche Facharbeiter mit überdurchschnittlich hohem Einkommen. Die durchschnittliche Höhe der Rente ab 63 lag 2018 bei 1277 Euro im Monat. Das ist weniger als die sogenannte Standardrente, die ein Durchschnittsverdiener nach 45 Beitragsjahren erhält.«

Dazu ein Blick auf die Rentenzugänge des Jahres 2018 und die durchschnittlichen Rentenzahlbeträge, wie sie von der Deutschen Rentenversicherung ausgewiesen werden:

Zurück zur IG Metall: »Durch die Rente ab 63 haben weit mehr als eine Million Menschen eine Anerkennung ihrer Lebensleistung erfahren – durch einen sozial abgesicherten, flexiblen Übergang in die Rente. Besonders für Menschen, die körperlich hart arbeiten, ist die Rente ab 63 wichtig. Viele von ihnen könnten gar nicht länger arbeiten. Ohne die Rente ab 63 müssten sie Rentenabschläge hinnehmen. Das wäre doppelt ungerecht. Früher Berufsstart, viele Jahre harte Arbeit, nicht selten im Schichtbetrieb, senken die Lebenserwartung und verringern die Zeit des Rentenbezugs.«

Aber die Gewerkschaft sieht auch Defizite hinsichtlich der Ausgestaltung der Regelung: »Die Rente ab 63 ist eine zeitlich befristete Regelung. Mit 63 können nur wenige Jahrgänge in Rente gehen. Ab dem Jahrgang 1953 steigt die Altersgrenze mit jedem Jahrgang um zwei Monate an … Ab dem Jahrgang 1964 ist die abschlagsfreie vorzeitige Rente erst mit 65 Jahren möglich. Für viele Menschen fehlen passgenaue Übergangsoptionen vom Beruf in den Ruhestand. Die IG Metall fordert daher einen dauerhaften Rentenzugang ohne Abschläge mit 63 Jahren für alle Generationen.«