Über den (Nicht-)Zugang zur Erwerbsminderungsrente

Die Erwerbsminderungsrente (EM-Rente) wird als Versicherungsleistung der gesetzlichen Rentenversicherung ausgezahlt, wenn Versicherte wegen Krankheit oder einer Beeinträchtigung unter den allgemeinen Bedingungen des Arbeitsmarktes nicht mehr in der Lage sind, mindestens sechs Stunden täglich zu arbeiten. Beträgt die Arbeitsfähigkeit weniger als drei Stunden am Tag, wird eine volle Erwerbsminderungsrente gezahlt. Beim Erreichen der Regelaltersgrenze wird diese Rente in eine Altersrente in gleicher Höhe umgewandelt.

Die Erwerbsminderungsrente steht unter anderem deshalb in der Kritik, weil ihre Höhe oftmals nicht ausreicht, den einmal erreichten Lebensstandard zu erhalten. Nicht selten müssen Versicherte zudem ergänzende Grundsicherungsleistungen beziehen und sind von Armut bedroht.

So beginnt die Anfrage „Die Erwerbsminderungsrente“ der Bundestagsfraktion der Grünen aus dem vergangenen Jahr, die auf Bundestags-Drucksache 19/1208 vom 19.03.2018 von der Bundesregierung beantwortet wurde. Darin findet man zahlreiche Informationen zu dieser besonderen Form der Alterssicherung. Fast 20 % der jährlichen Rentenzugänge entfallen auf Erwerbsminderungsrenten. Wir sprechen hier über 180.000 Menschen – pro Jahr. Insgesamt wurden 2017 Erwerbsminderungsrenten an mehr als 1,8 Millionen Menschen ausgezahlt.

Und wenn in diesem Land über Altersarmut im engeren Sinne gesprochen wird, dann darf von fast allen Seiten der Hinweis auf die prekäre Lage vieler Erwerbsminderungsrentner nicht fehlen, die oftmals nur auf sehr mickrige Rentenzahlbeträge kommen (können), zum anderen fehlen vielen von ihnen andere Einkommensquellen. In diesem Kontext überraschen dann solche Meldungen nicht: Immer mehr Erwerbsminderungsrentner sind auf Sozialhilfe angewiesen: »Die Zahl der Betroffenen hat sich von 102.578 im Jahr 2010 auf 196.466 im Jahr 2017 fast verdoppelt … Der Anteil der Erwerbsminderungsrentner, die zusätzlich Grundsicherung benötigen, stieg in dem Zeitraum damit von 9,5 auf 15,2 Prozent.«

Nun mag der eine oder andere einwenden, dass das Problem doch längst erkannt wurde und die Bundesregierung sowohl in der letzten Legislaturperiode wie auch in der laufenden Verbesserungen für die Erwerbsminderungsrentner auf den Weg gebracht hat. Das ist richtig, aber auch hier muss man genau formulieren: Verbesserungen für die jeweils zukünftigen Erwerbsminderungsrentner, die Bestandsrentner blieben und bleiben außen vor. Vgl. dazu aus der Berichterstattung in diesem Blog beispielsweise den Beitrag Stabilisierung und Verbesserung der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung: Ein Gesetzentwurf und seine Untiefen am Beispiel der Erwerbsminderungsrente vom 3. September 2018.

Nun beziehen sich die bisherigen Ausführungen auf den Tatbestand, dass man Bezieher einer Erwerbsminderungsrentenleistung geworden ist. Aber der Zugang zu dieser Leistung ist keineswegs klar und eindeutig geregelt – bereits am 26. September 2018 wurde hier in dem Beitrag Die erneut amputierte Reform der Erwerbsminderungsrente und Erkenntnisse über den (Nicht-)Zugang zu dieser Leistung ausgeführt: Für viele beginnt mit dem Antrag auf Erwerbsminderungsrente ein langwieriger bürokratischer und medizinischer Begutachtungsprozess – Ablehnungsbescheide, Widersprüche, neue ärztliche Untersuchungen und Klagen vor dem Sozialgericht inklusive. »Aktuell werden nur etwa 40 Prozent der beantragten Erwerbsminderungsrenten bewilligt. Jede zweite Erwerbsminderungsrente ist befristet. Das heißt, die Arbeitsfähigkeit wird zu einem späteren Zeitpunkt erneut überprüft. Das durchschnittliche Zugangsalter liegt bei 52 Jahren. Interessant ist der folgende Befund: Die Zahl der Bewilligungen schwankt regional stark. Dabei wird in der Studie auf ein durchaus erkennbares Muster hingewiesen: »Wo der Altersdurchschnitt der Bevölkerung hoch, die Arbeitslosigkeit ausgeprägt und die Zahl der Älteren im Job niedrig ist, bekommt ein größerer Teil der Rentenversicherten eine Erwerbsminderungsrente. Auf 1000 Versicherte kommen in Schwerin über sieben Erwerbsminderungsrenten, in Stuttgart nicht einmal drei.« Das ist natürlich eine erhebliche Streubreite.«

In der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag unter der Überschrift „Details zur Erwerbsminderungsrente“ findet man einige interessante Informationen (vgl. Bundestags-Drucksache 19/9329 vom 11.04.2019):

So schreiben die Fragesteller am Anfang der Anfrage: »Der Zugang zu den Erwerbsminderungsrenten ist nur unter engen versicherungsrechtlichen und gesundheitlichen Voraussetzungen möglich, deren Vorliegen häufig strittig ist. Es kommt nach Kenntnis der Fragesteller zu langen rechtlichen Auseinandersetzungen, die sich teilweise über Jahre hinziehen. Die Dauer der Verfahren hat Einfluss auf die Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes und belastet die Betroffenen und deren Angehörige. Besonders problematisch ist dabei nach Ansicht der Fragesteller, dass sich ggf. eine Versorgungslücke ergibt, wenn das befristet geleistete Krankengeld und das Arbeitslosengeld I auslaufen, der Rechtsstreit über die Rente jedoch noch anhängig ist. Der Zugang zu den Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ist dann häufig aufgrund des Erwerbseinkommens des Ehepartners versperrt.«

Den Daten der Gesetzlichen Rentenversicherung kann man entnehmen, dass sich allein in den wenigen Jahren von 2014 bis 2018 die durchschnittliche Laufzeit der Versicherungsträger von 109 Tagen auf 129 Tagen erhöht hat.

Im vergangenen Jahr wurde eine Studie veröffentlicht, die sich explizit mit dem Zugangsgeschehen auseinandergesetzt hat:

➔ Patrizia Aurich-Beerheide, Martin Brussig und Manuela Schwarzkopf (2018): Zugangssteuerung in Erwerbsminderungsrenten. Study Nr. 377, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, September 2018

Dort kommen die Verfasser zu dieser Diagnose: »Das gegliederte System ist in rechtlicher, organisatorischer und in alltagspraktischer Hinsicht außerordentlich komplex. Es ist nicht frei von Fehlanreizen und Dysfunktionalitäten. Es wäre aber grob übertrieben, würde man das Vorgehen der Organisationen und ihr Zusammenwirken als im Grunde willkürlich charakterisieren.«

Aber hinsichtlich der naheliegenden Forderung nach einer deutlichen Beschleunigung der Verfahren, was ja auch in der Anfrage durchschimmert und mit Blick auf die Betroffenen nachvollziehbar ist, schütten die Studienautoren Wasser in den möglichen Wein:

»Das komplizierte System von „Schleifen, Rückverweisen und Querbezügen der Sozialversicherungsträger untereinander“ lässt sich nicht ohne Weiteres durch ein einfaches, schnelleres und gerechteres ersetzen. Zu unterschiedlich sind die Einzelfälle, zu verschieden die Ziele. Beispielsweise sind Reha-Maßnahmen und die anschließende Wiederaufnahme einer Beschäftigung aus Sicht der Rentenversicherung einer vorzeitigen Verrentung stets vorzuziehen – was die Betroffenen manchmal anders sehen.«

Bestehende und nur teilweise, aber niemals vollständig auflösbare Dilemmata werden in der Studie differenziert benannt. Beispiel: »Zwar seien lange Wartezeiten ärgerlich und aufwendige Untersuchungen teuer, aber Zeit- und Kostendruck würden am Ende die Qualität der Gutachten verschlechtern. Auch die Frage, ob besser externe oder interne medizinische Gutachter zum Einsatz kommen sollten, lasse sich nicht eindeutig beantworten. Bei der Rentenversicherung angestellte Ärzte dürften weniger Kommunikationsprobleme mit der Verwaltungsebene haben, sie können aber nicht gleichzeitig Spezialisten für sämtliche Krankheiten sein. Meinungsverschiedenheiten und mit ihnen die im aktuellen System vorgesehenen Schlichtungs- und Widerspruchsprozesse seien unvermeidlich.«