Frankreich: Die Gesellschaft ist tief gespalten. Und die Gelbwesten sind immer noch da

Frankreich ist nicht nur irgendein Nachbar Deutschlands. Es ist mit Deutschland zusammen so etwas wie der Kern der Europäischen Union. Oder sollte es sein. Es ist einer der wichtigsten Handelspartner Deutschlands und was in diesem Land passiert, sollte die Deutschen mehr als nur ein wenig interessieren. Aber das sind alles eher rational-kognitive Argumente. Auf der mentalen Ebene kann man an dem (Nicht-)Verhältnis der beiden Länder Grundprobleme der europäischen (Nicht-)Identität studieren. Die hat vielfältige Ursachen. Eine andere Kultur, Geschichte, vor allem die Sprachbarriere haben sicher ihre Bedeutung.

Sich die Medien und die über sie transportierten Bilder von dem jeweils Anderen spielen eine immer noch nicht zu unterschätzende Rolle. Und wenn man sich die Berichterstattung über Frankreich in den vergangenen Monaten anschaut, dann wird man einerseits zur Kenntnis nehmen dürfen, dass dort sehr wohl über diese merkwürdigen Gelbwesten berichtet wurde – aber das Adjektiv „merkwürdig“ soll zugleich andeuten, dass es in den meisten Berichten über die Proteste und die Reaktionen darauf eine ganz offensichtliche Distanz gibt, ein markantes Nicht-Verstehen, wie man das machen kann, was immer noch an den Samstagen in vielen französischen Städten passiert.

Ob nun bewusst oder unbewusst spiegelt sich darin auch die Bandbreite des kopfschüttelnden deutschen Beobachters des Ausbruchs von Zorn und Auflehnung bis hin zu einer salonmäßigen Ablehnung der gerade nicht klar ideologisch ausgerichteten, sondern mehr als „verunreinigten“, zwischen den klassischen linken und rechten Lagern der Vergangenheit oszillierenden Gelbwesten-Träger. Nicht umsonst nehmen die antisemitsichen Ausfälle eines Teils der Protestierenden mehr Platz ein in den deutschen Medien als deren ebenfalls vorhandene Einforderung klassischer Umverteilungskomponenten wie der Vermögenssteuer.

Dabei mangelt es nicht an Einordnungsversuchen: »Paris und weite Teile Frankreichs befinden sich im Ausnahmezustand. Doch die Protestbewegung der «Gelbwesten» kam nicht aus heiterem Himmel. Ihr sind eine verschärfte Spaltung des in Frankreich tendenziell starken Klassensystems, zahlreiche andere Protestbewegungen und das Ende der französischen Parteienordnung und vielleicht sogar eine fundamentale Veränderung der französischen Demokratie vorausgegangen. Dieses Zusammenspiel erklärt auch, warum die Proteste weder eindeutig als rechts noch links einzuordnen sind«, so Johanna Bussemer im Dezember 2018 in ihrem Beitrag Wenn das Klassensystem implodiert. Die «Gelbwesten-Proteste» in Frankreich kommen nicht von ungefähr aus einer dezidiert linken Position. Und schon bei ihr ein Thema, das den klassischen Linken unangenehm im Magen liegt: die homophoben und rassistischen Äußerungen einiger der Protagonisten dieser chaotischen Bewegung von unten. Entstanden aus den von vielen Intellektuellen eher weniger verständlichen Protesten gegen die Höhe der Spritpreise und die überall erfahrbaren Verteuerungen der alltäglichen Lebensführung.

Bussemer versucht eine ebenfalls „klassische“ soziologische Einordnung der Quellen des Protests: »Gleich mehrere Risse gehen durch das Land: Einmal zwischen dem ärmeren Süden und dem reicheren Norden (wobei es auch im Norden massive Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit gibt) – der Norden zählt sich eher zum (Deutschland-nahen) Zentraleuropa, während der Süden identitär im Mittelmeerraum verhaftet ist. Weiterhin sind Europa und die EU in Frankreich weitaus umstrittener als in Deutschland. Letztendlich wird sich die Zukunft Europas wohl in diesem Land in seiner Mitte entscheiden. Am größten ist jedoch der Riss zwischen der jetzt auf die Barrikaden gehenden Bevölkerung und den Eliten, die sie regieren.«

Einige werden sich an entsprechende Debatten aus früheren Jahren erinnern, beispielsweise an die über das „Frankreich der zwei Geschwindigkeiten“, also dem tiefen Graben zwischen dem städtischen, um Paris oszillierenden und dem beschaulich-ländlichen Land. Und wieder betritt sie die Bühne – die Spaltung der französischen Gesellschaft. Dazu gibt es nun eine neue Umfrage-Studie, über die in diesem Artikel von Michaela Wiegel berichtet wird: So denken die Franzosen über ihr Land. Die Studie wurde vom Institut Montaigne veröffentlicht:

➔ Bernard Sananes et al. (2019): Faces of France. The Barometer of Territories 2019, Paris, February 2019

Und die Ergebnisse scheinen nicht wirklich zu passen zu dem, was aus Frankreich berichtet wird, denn die Franzosen sind zu 73 Prozent „glücklich“, 33 Prozent von ihnen sogar „sehr glücklich“. 66 Prozent sind davon überzeugt, dass es sich bei ihnen gut leben lasse. 67 Prozent geben an, dass sie die richtige Balance zwischen Arbeit und Freizeit gefunden haben. Allerdings – das kennen wir auch as Deutschland – gibt es eine ganz erhebliche Diskrepanz zwischen dem, wie man sich selbst und seine Familie einsortiert und wie man auf die Gesellschaft blickt. Da sind die Befunde desaströs, wie Wiegel berichtet:

»78 Prozent empfinden die gesellschaftliche Ordnung als „ungerecht“. 43 Prozent haben den Eindruck, dass ihre persönliche Lage sich verschlechtert hat, bei den Rentnern sind es sogar 60 Prozent. Fast die Hälfte (49 Prozent) gibt an, am Ende des Monats kein Geld mehr auf dem Konto zu haben.«

Die Studie, für die das Meinungsforschungsinstitut Elabe 10.100 Franzosen aus allen Landesteilen befragte, legt ein „zerstückeltes Frankreich“ („Une France en morceaux“) offen.

Aus der Gruppe derjenigen, die „auf der Kippe“ stehen, speist sich größtenteils die „Gelbwesten“-Protestbewegung. Die Studie zeigt auf, dass die Bruchlinien nicht so wie vom einflussreichen Geographen Christophe Guilluy behauptet zwischen Stadt und Land, Metropole und Peripherie, verlaufen. „Die Geographie ist viel weniger entscheidend als die soziale Frage“, so wird der Direktor des Institut Montaigne, Laurent Bigorgne, zitiert. Und auch hier tauchen sie wieder auf, die „politökonomischen“ Einordnungsversuche:

»Frankreich erlebe trotz eines Systems der steuerlichen Umverteilung eine ähnliche Polarisierung des Arbeitsmarktes wie die Vereinigten Staaten. Ein Teil der Franzosen zählten zu den Abgehängten, die vom internationalen Wettbewerb nicht profitierten und deren Lebenssituation sich verschlechtere. „Dieses Phänomen nährt die große Unzufriedenheit im Land“, sagt Bigorgne. Hinzu komme, dass die wechselnden Regierungen es nicht vermocht hätten, die Steuer- und Abgabenlast zu senken. „Die Steuern lasten überproportional auf der Mittelschicht“, sagt Bigorgne. Dies führe dazu, dass die Steuern inzwischen von jedem dritten Franzosen (36 Prozent) grundsätzlich in Frage gestellt werden.«

Drei Monate dauern die Protestaktionen der Gelbwesten nun schon an. Trotz aller Vorhersagen sind die Gelbwesten noch nicht abgestorben. Das hat Auswirkungen. Und wieder einmal scheint es die Kleinen zu treffen, wenn man dem Bericht von Ralf Klingsieck folgt: Umsatzschwund durch Proteste. Französische Gewerbetreibende wollen nicht für Gelbwesten bluten. »Schwerwiegende Folgen haben die Aktionen auch für die Wirtschaft. Die Verluste werden allein für das vierte Quartal 2018 auf 2 bis 2,5 Milliarden Euro geschätzt. Besonders leiden der Einzelhandel, das Handwerk und die Gastronomie, weil Läden, Werkstätten, Restaurants und Hotels durch radikale und gewaltbereite Demonstranten oder durch Rowdys, die sich unter die Gelbwesten mischten, angegriffen, beschädigt oder nicht selten sogar geplündert wurden. Außerdem haben die Straßenblockaden, die Sonnabend-Demonstationen in Paris und anderen Städten sowie das dabei um sich greifende Gefühl der Unsicherheit dazu geführt, dass viele Kunden oder Touristen wegblieben. Durch das fehlende Geschäft an den Sonnabenden, dem gewöhnlich wichtigsten Einkaufstag der Woche, ist in vielen Läden der Umsatz um 50 bis 60 Prozent gesunken.«

Der Gesamtschaden für die Gewerbetreibenden wird nach drei Monaten bereits auf vier Milliarden Euro geschätzt.

»Landesweit haben schon 4.900 Unternehmen mit 72.000 Beschäftigten bei den Behörden Kurzarbeit beantragt. Die Regierung hat als Beihilfe für die betroffenen Arbeitnehmer eine erste Rate von 38 Millionen Euro bereitgestellt. Den Firmeninhabern will man entgegenkommen, indem die Zahlung von Steuern und Sozialabgaben für einige Monate gestundet wird. Allerdings hat diese Nachricht offensichtlich noch nicht alle Finanzämter erreicht, denn vielerorts werden bei Zahlungsverzug nach wie vor Mahnbriefe verschickt und ein fünfprozentiger Säumnisaufschlag berechnet.«

»In Toulouse haben schon 51 kleine Unternehmen Konkurs angemeldet, in Montpellier sind es 28. Die große Welle wird in zwei bis drei Monaten erwartet, wenn bei denen, die um jeden Preis durchhalten wollen, die Reserven aufgebraucht sind.«

Da ist er, zusätzlicher Nachschub für die Gruppe derjenigen, die auf der Kippe stehen (oder schon darüber hinaus sind), neben den, die aus anderen Gründen zunehmend exkludiert werden.

Und die Gelbwesten-Bewegung selbst? Zu dieser Frage hat Dieter Rucht vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) ein Working Paper veröffentlicht:

➔ Dieter Rucht (2019): Die Gelbwestenbewegung. Stand und Perspektiven. ipb working paper 1/2019, Berlin: Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb), Februar 2019

Seine Einschätzung liest sich so: »Seit drei Monaten steht Frankreich im Bann der Gelbwestenbewegung. Der Beitrag beschreibt zunächst deren soziales Profil, Forderungen und Aktionsrepertoire. In einer stärker analytischen Perspektive widmet er sich dann den Ursachen, Auslösern und Verstärkern der Bewegung und diskutiert schließlich die Perspektiven. Die Leitthese lautet, dass die Bewegung, obgleich doch ohne direkten Vorläufer in der Geschichte Frankreichs, ein Produkt der spezifischen sozioökonomischen, politischen und kulturellen Gegebenheiten des Landes ist und deshalb auch kaum in anderen Ländern Fuß fassen wird. In ihrer jetzigen Form werden sich die Gelbwesten nicht halten können. Die Bewegung wird entweder in der Routine der Wiederholung versanden oder aber aufgrund einer Reihe interner Streitfragen (links oder rechts; friedlich oder militant; Bewegung oder Partei; moderate Reformen oder grundlegende politische Umwälzung) auseinander brechen.«

Foto: © Stefan Sell