Mit Blick auf die Einkommen kann für Deutschland von einer doppelten Polarisierung gesprochen werde: Zum einen ist die Gruppe der mittleren Einkommen geschrumpft, weil der Anteil der Haushalte unter der Armutsgrenze deutlich und der über der statistischen Reichtumsgrenze etwas zugenommen hat. Zum zweiten haben sich Armut und Reichtum verfestigt. Das lässt sich daran ablesen, dass mehr Haushalte über mindestens fünf Jahre hinweg einkommensarm beziehungsweise einkommensreich sind, wobei die Tendenz bei armen Haushalten erneut deutlich ausgeprägter ist. Zudem zeigen sich wesentliche Unterschiede nach Geschlecht und Region: Dauerhafte Armut kommt in Ostdeutschland etwa sechs Mal so häufig vor wie in den alten Bundesländern. Etwa zwei Drittel der Wohlhabenden sind männlich, insgesamt leben 95 Prozent der Einkommensreichen in den alten Bundesländern. So beginnt der Artikel Einkommen in Deutschland: Verfestigung an den Rändern. Und darin findet man auch dieses wichtige Zitat: „Nicht nur geht die Einkommensschere auf, auch die Lebenswelten von Armen, Mittelschicht und Reichen fallen immer weiter auseinander.“ Das stammt von Dorothee Spannagel. Und die hat den Verteilungsbericht 2018 des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) erarbeitet:
➔ Dorothee Spannagel (2018): Dauerhafte Armut und verfestigter Reichtum. WSI Verteilungsbericht 2018. WSI Report Nr.43, Düsseldorf, November 2018
Was Spannagel hier anspricht, kann man auch so formulieren: »Das Gefühl, von der Gesellschaft abgekoppelt zu sein, tritt nicht schlagartig mit dem Abrutschen in Hartz IV ein – es entwickelt sich erst mit der Zeit und wird mit jedem Monat größer. Ähnliches gilt im Prinzip auch für Reiche, nur ohne Leidensdruck: Wer dauerhaft zur wirtschaftlichen Elite gehört, koppelt sich oft von der Mittelschicht ab. Die Wohnungsnot in Großstädten etwa erscheint allenfalls als abstraktes Problem, wenn man sich überall Miete oder Kauf leisten kann … Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist also nicht allein entscheidend, wie viele Menschen arm oder reich sind – sondern auch, ob sie es dauerhaft sind oder nicht.« So Florian Diekmann in seinem Beitrag Wer in Deutschland dauerhaft arm bleibt, in dem er die Ergebnisse des WSI-Verteilungsberichts 2018 aufbereitet: »Armut ist ein Gift, das langsam wirkt – und lange. Und wer erst einmal arm ist, wird von der Gesellschaft regelrecht abgekoppelt. Eine Studie zeigt: Die Zahl der Abgehängten ist gestiegen. Die der Reichen allerdings auch.«
Einige Aspekte des WSI-Verteilungsbericht werden so formuliert: »Im Langzeitvergleich seit den 1990er Jahren zeigt sich nach Spannagels Analyse vor allem bei der Armut ein markanter, weitgehend kontinuierlicher Anstieg: Waren damals rund 11 Prozent aller Menschen in Deutschland einkommensarm, stieg die Quote bis auf knapp 16,8 Prozent im aktuellsten Jahr 2015 … In den letzten Jahren ging der Anstieg vor allem auf Flüchtlinge zurück, die Armutsquote unter in Deutschland Geborenen blieb stabil. Allerdings ergibt sich auch unter ihnen eine höhere Armutsbelastung als in den 1990er Jahren. Der Anteil der Bevölkerung in einkommensreichen Haushalten variiert über die Jahre etwas stärker, der langfristige Trend ist aber ebenfalls klar aufsteigend: Von 5,59 Prozent Anfang und gut sechs Prozent Ende der 1990er Jahre erreichte die Quote der Einkommensreichen ihren bisherigen Höchststand von fast 8,3 Prozent im Jahr 2014. 2015 lag sie bei 7,46 Prozent.«
Anders ausgedrückt: Lebten Anfang der 1990er Jahre noch 3,1 Prozent der Bevölkerung in dauerhafter Armut, sind es laut aktuellsten Zahlen schon 5,4 Prozent – eine Steigerung um 74 Prozent.
Um es an dieser Stelle nochmals hervorzuheben: es geht bei diesen Zahlen nicht um die von Einkommensarmut insgesamt betroffenen Menschen, sondern um den Teilaspekt der verfestigten Armut über mehrere Jahre hinweg. Die Entwicklung der jeweils in einem Jahr im Querschnitt erhobenen Werte der Armutsgefährdungsquote in der Bevölkerung insgesamt stellt sich so dar:
Besonders problematisch ist nach der WSI-Analyse, »dass sich parallel zu den Anstiegen sowohl die Einkommensarmut als auch der Einkommensreichtum verfestigt haben. Dabei war die Entwicklung bei armen Haushalten erneut deutlich stärker als bei reichen. Das zeigt der Vergleich von drei 5-Jahres-Zeiträumen. So hatten 3,1 Prozent der Bevölkerung zwischen 1991 und 1995 in jedem dieser Jahre nur ein Einkommen unter der Armutsgrenze zur Verfügung. Dagegen waren es im Zeitraum von 2001 bis 2005 bereits knapp 5,2 Prozent, die sich auch über fünf Jahre nicht aus der Armut lösen konnten. Trotz guter wirtschaftlicher Entwicklung stieg der Anteil in den fünf Jahren von 2011 bis 2015 noch einmal leicht auf nunmehr 5,4 Prozent. Knapp die Hälfte davon, 2,4 Prozent, haben nicht einmal 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung. Das entspricht fast zwei Millionen Menschen, die dauerhaft in so genannter „strenger Armut“ leben müssen. In Ostdeutschland ist die Quote der dauerhaft Armen mit knapp 6,4 Prozent Anteil an der dortigen Bevölkerung noch einmal spürbar höher als im bundesweiten Durchschnitt.
Es wird auch berichtet von einer massiven Ungleichverteilung zwischen den Regionen: »95 Prozent der dauerhaft Einkommensreichen in der Bundesrepublik leben in West-, nur fünf Prozent in Ostdeutschland. Hingegen leben knapp 62 Prozent der dauerhaft Armen leben in den neuen Ländern, obwohl dort nur ein Fünftel der Gesamtbevölkerung ansässig ist.« Der Ost-West-Vergleich ist aufschlussreich, wie auch Florian Diekmann hervorhebt: »Während die verfestigte Armut in Westdeutschland in den Neunzigerjahren deutlich anstieg, stagnierte sie seit der Jahrtausendwende nahezu bei knapp unter 5,5 Prozent – ähnlich wie in Gesamtdeutschland. In Ostdeutschland hingegen, wo die verfestigte Armut noch 2001 unter dem Westniveau lag, hat sie seitdem deutlich zugenommen und liegt nun mit 6,4 Prozent darüber.«
Und die Geschlechterdimension darf auch nicht fehlen: » Etwa drei Viertel der dauerhaft Einkommensreichen sind Männer. Unter den dauerhaft Armen stellen dagegen Frauen die Mehrheit.«
Und weiter: »Erwerbstätigkeit in Vollzeit schützt … klar vor dauerhafter Armut. Selbständige, Angestellte und Beamte, die Vollzeit arbeiten, haben zugleich die höchsten Chancen auf dauerhaften Einkommensreichtum. Für Teilzeitbeschäftigte oder Menschen mit Minijobs bestehen hingegen kaum Aussichten auf ein hohes Einkommen. Dabei hat vor allem Teilzeit in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen.«
Und auch dieser Befund überrascht nicht: »Zwei Einkommen vs. eines: Alleinerziehende und Singles tragen das höchste Risiko, dauerhaft arm zu bleiben. Dagegen erzielen Doppelverdiener ohne Kinder am häufigsten dauerhaft hohe Einkommen: Knapp 55 Prozent der dauerhaft Einkommensreichen sind Paare ohne Nachwuchs im Haushalt.« Hier wird eine Polarisierung angesprochen, die hoch relevant ist für den zu erwartenden weiteren überdurchschnittlichen Anstieg der Altersarmut. Dabei ist es aufgrund der auch in diesem Blog immer wieder beschriebenen Mechanik der Rentenformel so, dass viele Menschen, die dann auch noch überwiegend oder gar ausschließlich auf Leistungen aus der Gesetzlichen Rentenversicherung angewiesen sind und sein werden, mit Micker-Renten abgespeist werden, während gleichzeitig die auch im Zitat erwähnte Gruppe der Doppelverdiener ohne Kinder zu den Gewinnern des deutschen Rentensystems gehören werden, denn beide werden sehr hohe Renten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung beziehen und zugleich werden diese Paare über weitere erhebliche Einkommenszuflüsse aus anderen Quellen verfügen können, beispielsweise aus der betrieblichen Altersvorsorge sowie aus der privaten Vorsorge und aus Immobilienbesitz.