Am 19. Dezember 2016 wurden bei einem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt zwölf Menschen getötet und etwa 70 weitere teilweise schwer verletzt. Das Attentat von Anis Amri auf dem Berliner Breitscheidplatz war der bislang schwerste islamistische Anschlag in Deutschland. Verletzte, Hinterbliebene und Rettungskräfte kämpfen noch heute mit den Folgen.
Als eine Folge des Attentats wurde nicht nur Stück für Stück erfahrbar, welche vielfältigen Probleme in den einzelnen Sicherheitsapparaten den Alltag bestimmen, so dass man letztendlich nicht das verhindert hat, was man hätte verhindern können. Wieder einmal wurden wir konfrontiert mit dieser weit verbreiteten Mischung aus Nicht-Zuständigkeiten und Nicht-Verantwortung. Und von anderer interessierter Seite wurde dieser Anschlag ausgeschlachtet als ein weiterer Mosaikstein in der Rhetorik der Gefahren, die mit angeblich „den“ Flüchtlingen verbunden sind. Zuweilen kann man sich mit Blick auf dieses extreme Lager nicht des Eindrucks erwehren, dass es hier eine Art „klammheimliche Freude“ an jedem neuen Anschlag gibt, weil man dann die Ängste und Bedrohungsszenarien weiter mit Stoff befüllen kann.
Aber was ist eigentlich mit den Opfern und ihren Hinterbliebenen? Und den Beteiligten, die geholfen haben an diesem Tag? Wer hat sich eigentlich um die und wie gekümmert? Man könnte naiv annehmen, dass ihnen die volle Fürsorge der Gesellschaft und der Politik sicher ist, allein schon deshalb, weil jeder von uns ja zufälligerweise auch in diese Situation hätte kommen können. Um die wird sich „der“ Staat sicher mitfühlend und aufmerksam gekümmert haben. Könnte man denken. Ist aber nicht so. Ganz im Gegenteil.
Da ist eine Menge schief gelaufen beim Umgang mit den Betroffenen des Anschlags. Am 1. Dezember 2017 wurden die vielfältigen Frustrationen in einem Offenen Brief von Angehörigen der Opfer des Terroranschlags an die Bundeskanzlerin der breiteren Öffentlichkeit bekannt: Eine Frage des Respekts, so ist das überschrieben worden: »Ein Jahr nach dem Anschlag am Breitscheidplatz werfen Angehörige aller zwölf Todesopfer der Regierung Versagen vor.« Daraus nur einige Auszüge:
»Wir nehmen in den Monaten seit dem Anschlag vielfältige Missstände wahr und haben uns nun entschieden, uns mit diesem Brief direkt an Sie, Frau Bundeskanzlerin, zu wenden. Die Missstände betreffen sowohl die mangelhafte Anti-Terror-Arbeit in Deutschland als auch den Umgang mit uns als Opfer und Hinterbliebene.«
Die Bundeskanzlerin als Adressat des offenen Briefes wird auch persönlich angesprochen – und das mit einem sehr kritischen und verletzten Ton:
»In Bezug auf den Umgang mit uns Hinterbliebenen müssen wir zur Kenntnis nehmen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie uns auch fast ein Jahr nach dem Anschlag weder persönlich noch schriftlich kondoliert haben. Wir sind der Auffassung, dass Sie damit Ihrem Amt nicht gerecht werden. Der Anschlag galt nicht den unmittelbar betroffenen Opfern direkt, sondern der Bundesrepublik Deutschland. Es ist eine Frage des Respekts, des Anstands und eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass Sie als Regierungschefin im Namen der Bundesregierung unseren Familien gegenüber den Verlust eines Familienangehörigen durch einen terroristischen Akt anerkennen.«
Und dann ein Vorwurf, über den man mal nachdenken sollte vor dem Hintergrund, dass man selbst betroffen gewesen wäre:
»So haben Sie schon am Tag unmittelbar nach dem Anschlag in der Gedächtniskirche einen Trauergottesdienst mit anderen Vertretern hoher politischer Ämter begangen. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir Betroffenen noch gar nichts von unserem Schicksal. Das dem Bundesministerium des Innern nachgeordnete BKA hatte eine Informationssperre zum Verbleib der Opfer verhängt und sich 72 Stunden Zeit für die Identifikation der Opfer gelassen. Während also der Trauergottesdienst stattfand, haben wir Hinterbliebenen verzweifelt nach unseren Angehörigen gesucht und dabei sämtliche Krankenhäuser in Berlin persönlich aufgesucht oder telefonisch kontaktiert.«
Das geht noch weiter:
»Überhaupt stand uns nach dem Anschlag anfangs nur die allgemeine Meldestelle für Vermisste der Berliner Polizei zur Verfügung. Hier wurden keinerlei Auskünfte erteilt und Rückrufe versprochen, die aber nicht erfolgten. Erst nach massiven Beschwerden über die fehlende Kommunikation und über 36 Stunden nach dem Anschlag wurden den Familien Beamte vom LKA Berlin als persönliche Ansprechpartner zugeordnet. Die LKA-Beamten konnten aber aufgrund der Informationssperre des BKA über weitere 36 Stunden keinerlei Auskünfte über unsere Angehörigen geben. Während einige Beamte sich nach Kräften um uns bemühten und zum Beispiel Notfallseelsorger vermittelten, ließen es andere an Empathie deutlich fehlen. Es kam sogar zu Zurechtweisungen.« Da kann das hier nicht mehr verwundern: »In der Folge hat sich in den ersten Tagen und Wochen tatsächlich niemand von offizieller Seite um uns gekümmert.«
Es dauerte »fast drei Monate bis die Bundesregierung Herrn Ministerpräsident a.D. Kurt Beck zum Beauftragten für die Opfer und Hinterbliebenen des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 ernannte. Seit seiner Benennung setzten sich Kurt Beck und ein Team von Mitarbeitern sowohl für uns Hinterbliebene als auch für die Verletzten des Anschlags ein.«
»Der blutige Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt vor einem Jahr hat bei den Hinterbliebenen der Opfer tiefe Spuren hinterlassen. Im F.A.Z.-Interview wirft der Opferbeauftragte Kurt Beck der Bundesregierung vor, sie im Stich gelassen zu haben«, kann man diesem Artikel entnehmen: „Auch von Merkel wäre ein Treffen mit den Angehörigen erwartet worden“. Zu diesem Thema auch eine Hintergrundsendung des Deutschlandfunks vom 18. Dezember 2017: Ein Jahr nach dem Attentat am Berliner Breitscheidplatz: Versäumnisse und Traumata.
Aber noch einmal zurück zum Offenen Brief an die Bundeskanzlerin:
Auch wenn man selbstverständlich den Verlust eines Menschen nicht in Geld aufwiegen kann, so besteht doch ein auch finanzieller Unterstützungsbedarf:
»Unsere Erwartung ist, dass der Staat für die Familien der Hinterbliebenen „in die Schuhe der Opfer steigt“ und zumindest die finanziellen Lücken schließt, die der Anschlag reißt.«
Und dann schildern die Betroffenen die Tiefen bzw. Untiefen des bestehenden Instrumentariums für eine finanzielle Entschädigung. Man muss den folgenden Ausflug in die Niederungen des Versuchs einer rechtlichen Abbildung einfach mal auf sich wirken lassen:
»Es gibt nach aktuellem Rechtsstand für uns drei in Summe unzulängliche Entschädigungsquellen:
(1) Zunächst gab es für Hinterbliebene einer terroristischen Straftat die … einmalige sogenannte Härteleistung des Deutschen Bundestages, allerdings in niedriger Höhe.
(2) Darüber hinaus gibt es Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Im Rahmen des OEG werden Bestattungskosten übernommen, die nicht mehr als die Kosten der billigst möglichen Bestattung decken. Etwaige Rentenansprüche nach OEG werden darüber hinaus mit erarbeiteten Rentenansprüchen verrechnet. Die Sätze sind so gering, dass auch auf sehr niedrigem Rentenniveau kein Anspruch verbleibt.
(3) Zuletzt stehen Mittel der Verkehrsopferhilfe (VOH) zur Verfügung. Nach dem Verkehrsopfer-Hilfegesetz leistet die VOH nur Entschädigungen nach einem begrenzten Katalog für unmittelbare Schäden. Durch den Anschlag verursachte Verdienstausfälle von Selbstständigen und andere indirekte Folgekosten des Anschlags werden nicht berücksichtigt und damit auch nicht erstattet.
Die Anspruchsgrundlagen der drei Entschädigungsquellen sind sehr komplex und für uns oftmals kaum zu durchschauen. Für jede mögliche Unterstützung ist es erforderlich, umfassende Anträge auszufüllen, zum Teil mit identischen Fragestellungen in den Formularen. Erst dann wird beschieden, ob ein Anspruch besteht. Ansprüche bestehen dann jedoch oftmals nicht, oder nur in sehr geringem Umfang. Das ist sehr frustrierend und führt zu extrem belastenden Situationen.«
Und warum auch eine finanzielle Unterstützung so wichtig wäre, kann man der Perspektive der Betroffenen entnehmen:
»So stehen viele von uns seit dem Anschlag vor ungelösten finanziellen Herausforderungen. Wer kommt für den Beitrag des Verstorbenen für die Finanzierung einer Hypothek auf? Wie gelangt jemand, der seine Wohnung wegen des Anschlags aus finanziellen Gründen aufgeben musste ohne externe Hilfe an eine neue Unterkunft, wenn als regelmäßiges Einkommen nur kaum nennenswerte und unter Vorbehalt gezahlte Renten dem Vermieter nachgewiesen werden können? Was sollen Eltern tun, die psychisch nicht stabil genug für ihre bisherigen Vollzeitstellen sind, die aber aus finanziellen Gründen voll arbeiten müssten? Wie sollen Alleinerziehende den Alltag mit ihren Kindern gestalten, wenn sie zu mehr als 100% arbeiten müssen, um den Verdienstausfall des verstorbenen Elternteils zu kompensieren? Wer kommt für dauerhafte psychische Schäden auf, die bis hin zur Berufsunfähigkeit führen?«
Und so sind wir ganz tief in den eben auch sozialpolitischen Dimensionen des Themas gelandet.
Und das geht nun weiter: Angehörige von Amri-Opfern beklagen Schikane bei Rente: »Eineinhalb Jahre nach dem Terroranschlag am Breitscheidplatz sind die Hinterbliebenen enttäuscht: Renten fallen gering aus – oder werden gleich abgelehnt.« Und in dem Artikel Wenig Geld, viel Bürokratie: Breitscheidplatz-Opfer fühlen sich im Stich gelassen finden wir dieses Bespiel:
»Andreas Schwartz hat es nun schriftlich. 141 Euro zahlt der deutsche Staat ihm jeden Monat. So lange, wie seine gesundheitliche Einschränkung besteht. Andreas Schwartz war am 19. Dezember 2016 auf dem Breitscheidplatz. Er ist ein Opfer des Terroranschlags auf diesem Platz in der Mitte Berlins. Schwartz geriet unter den Lastwagen und verletzte sich schwer. Dass er zu Schaden kam, hat der deutsche Staat anerkannt und trotzdem: „Ich fühle mich verschaukelt. Dieser Betrag ist zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel“, sagt Andreas Schwartz. Andreas Schwartz ist Ende 40. Er war selbst Lastwagenfahrer bis zu jenem Tag im Dezember 2016. Bei dem Anschlag wurde an der Wirbelsäule verletzt, so schwer, dass er nicht mehr viel tun kann … Der psychische Schaden, den Andreas Schwartz erlitt, wird gewürdigt. „Psychoreaktive Schädigung“ steht im Bescheid, der Schweregrad beträgt 30 Prozent. Eine Erwerbsminderung wurde nicht anerkannt.«
So wie Andreas Schwartz haben auch andere Opfer und Angehörige der Toten vom Breitscheidplatz in den vergangenen Monaten Rentenbescheide erhalten. 189 Anträge sind beim Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales gestellt worden. Mittlerweile sind 129 Bescheide rausgegangen. Viele empfänden das als „lächerlich und peinlich“, so wird die Sprecherin der Gruppe, Astrid Passin, zitiert. Sie selbst hat ebenfalls 141 Euro Monatsrente zugesprochen bekommen. In anderen Fällen sei trotz diagnostizierter psychischer Störung der Rentenantrag abgelehnt worden, weil der nötige Grad der Schädigung nicht erreicht sei. Das Verfahren – statt eines automatischen Rentenanspruchs eine psychische Schädigung nachweisen zu müssen – sei entwürdigend.
Es geht also nicht nur um die beklagte Höhe der Leistungen, sondern auch um deren Charakter. Der aber ist systembedingt. Die Betroffenen sind an dieser Stelle in die Mechanik eines Systems geraten, das sich eben im wahrsten Sinne des Wortes auszeichnet durch eine Art bürokratische Perfektion (die letztendlich vor allem dem Zweck des Schutzes auf der Leistungs- und damit Kostenträgerseite dient durch eine enge Abgrenzung der Gruppe der Begünstigten sowie der Kontrolle, ob die nicht vielleicht „schummeln“):
»Nach dem Opferentschädigungsgesetz werden einkommensunabhängige Renten an hinterbliebene Ehe- und Lebenspartner, Waisen und in Ausnahmefällen Eltern gezahlt. Darüber hinaus gibt es einkommensabhängige Renten für Geschädigte zum Ausgleich beruflicher Nachteile, Bestattungs- und Sterbegeld, Kosten für Krankenbehandlung und Fürsorge. Alles muss jeweils nachgewiesen werden, bei gesundheitlichen Einschränkungen auch immer wieder.«
Vor diesem Hintergrund werden dann auch die Forderungen verständlich, die man bereits im vergangenen Jahr in dem Offenen Brief an die Bundeskanzlerin formuliert hat:
»Zum einen müssen – wie von Herrn Beck auch bereits öffentlich gefordert – die Härteleistungen signifikant aufgestockt werden. Zum anderen müssen Rentenansprüche ausgeweitet, aufgestockt und losgelöst von finanzieller Bedürftigkeit geleistet werden. Diese Leistungen sollten mit möglichst geringem bürokratischem Aufwand für die Betroffenen erbracht werden – im Übrigen nicht nur für Opfer und Hinterbliebene in Deutschland, sondern explizit auch für die vom Terror betroffenen ausländischen Gäste.«
Die Arbeit des von der Bundesregierung eingesetzten ehemaligen Opferbeauftragten der Bundesregierung, Kurt Beck, wurde nun schon mehrfach angesprochen. Die Ergebnisse wurden im November 2017 veröffentlicht:
Bundesbeauftragter für die Opfer und Hinterbliebenen des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz (2018): Abschlussbericht des Bundesbeauftragten für die Opfer und Hinterbliebenen des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz, Berlin: Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz, November 2017
Der Abschlussbericht enthält konkrete Lösungsvorschläge, insbesondere:
➞ Schaffung von zentralen Anlaufstellen für Opfer eines Terroranschlags auf Bundesebene, beispielsweise im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, und Landesebene;
➞ Schaffung einer Anlauf- und Betreuungsstelle im Falle eines Anschlags vor Ort;
➞ deutliche Erhöhung der Härteleistungen;
➞ zentrale behördliche Onlineplattformen mit Informationen für Betroffene;
➞ Ersatz materieller Schäden unabhängig davon, ob ein Kraftfahrzeug im Einsatz war, und eine schnellere Information der Angehörigen über den möglichen Tod, wenn eine Identifizierung unter Vorbehalt möglich ist.
Zu dem Thema Opferentschädigungsgesetz (OEG) findet man in den Empfehlungen nur diesen wenig konkreten Hinweis: »Auch die Höhe der Entschädigungssätze nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) sollte kritisch überprüft werden. Hier erscheint insbesondere die Pauschale für Bestattungen (aktuell: 1.778 Euro) als zu niedrig. Auch die Renten, Witwen/Witwer und Waisenzahlungen sind zu überprüfen.«
Und diesem Artikel kann man in die Zukunft blickend entnehmen: »Die Erkenntnisse des ehemaligen Opferbeauftragten Kurt Beck … sollen in eine anstehende Reform des Sozialen Entschädigungsrechts einfließen. So ist es jedenfalls vorgesehen. „Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales strebt die baldige Vorlage eines Referentenentwurfs an“, teilt eine Sprecherin mit. Ob auch bürokratischen Hürden beseitigt werden, sagt sie nicht.« Darauf wetten sollte man lieber nicht.