Umsorgung. Nicht nur ein schönes Wort. Wie ein kleines Pflegeheim in Dänemark auf die Filmbühne und in den Blätterwald gekommen ist

»Das Thema Demenz etabliert sich in der internationalen Kinowelt. Gleich zwei große Dramen drehen sich aktuell um die „Krankheit des Vergessens“: „The Father“ mit Anthony Hopkins und „Supernova“ mit Stanley Tucci und Colin Firth«, berichtet Thomas Hommel in seinem Artikel unter der aufmerksamkeitsheischenden Überschrift Wie ein kleines Heim die Pflege bei Demenz revolutioniert. Dabei ist das, was die da machen, das Gegenteil von Revolution. Aber zuerst ein Blick auf den Sachverhalt: »Einen … anrührenden Film über Demenz, aber einen mit realen Menschen hat die dänische Journalistin und Dokumentarfilm-Regisseurin Louise Detlefsen fürs Kino gedreht. „Mitgefühl. Pflege neu denken“ läuft in den deutschen Filmtheatern an. »Im Mittelpunkt steht das Pflegeheim Dagmarsminde in der Nähe von Gilleleje in Dänemark. Zwölf Senioren leben in dem Heim in einer Art Wohngemeinschaft zusammen. Sie sind um die 90 Jahre alt und alle mehr oder weniger schwer an Demenz erkrankt.«

»Betreut werden sie nach einer Behandlungsmethode, die die Begründerin – die Krankenschwester May Bjerre Eiby – „Umsorgung“ nennt.« Dieser Begriff könnte »mit Blick auf eine würde- und liebevolle Pflege im Alter kaum einleuchtender sein: Berührung, Zuwendung, Gespräch, Gesang, Erleben in der Natur.«

May Bjerre Eiby hat das Konzept gespeist aus eigenen Erfahrungen entwickelt: »Auch ihr Vater erkrankte an Demenz und kam in das Heim, in dem sie als 17-Jährige gearbeitet hatte. Alles dort sei „grau“ gewesen. Es habe nach Urin gerochen. Und obwohl er stark war, sei der Vater nach kurzer Zeit im Heim an „schwerer Vernachlässigung“ gestorben. Also kaufte Eiby eine alte Tischlerei und machte 2016 daraus Dagmarsminde: Ein Heim mit Holzfußböden, feinem alten Porzellan, frischen Blumen, Pflanzen, einem weißen Klavier, Ledersofas, vielen Bildern, einer Katze und einem Hund. Im Garten gibt es Hühner, Ziegen und Kaninchen, die quasi Mit-Therapeuten sind. Denn die Heimbewohner helfen, Eier zu sammeln und die Tiere zu füttern.«

Hier wurde und wird immer wieder vor allem über Finanzierung, explodierenden Eigenanteile der Pflegebedürftigen, Stellenschlüssel usw. berichtet. Vor diesem Hintergrund ist das hier eine interessante Information: »Dagmarsminde wird als freies Pflegeheim betrieben. Die Pflege wird wie in allen kommunalen Heimen Dänemarks von der öffentlichen Hand bezahlt, sodass sich auch Menschen mit einer Durchschnittsrente einen Aufenthalt leisten können.«

Pflegegrade gibt es nicht. Jeder mit Bedarf kann kommen. Die Wartelisten jedoch sind lang. »Wenn möglich, geht es raus an die frische Luft, Wiesen beschnuppern und Bäume umarmen. Ein Hausarzt sorgt als fester Ansprechpartner fürs Pflegeteam für die medizinische Betreuung.«

»Im Heim Dagmarsminde wird außerdem versucht, auf den Einsatz von Medikamenten zur Ruhigstellung der Bewohner und Bewohnerinnen zu verzichten. Ängstliche oder aggressive Stimmungen, die bei Demenz häufiger auftreten, sollen stattdessen aufgefangen werden: durch Einfühlsamkeit und Beschäftigung. In vielen anderen Pflegeheimen ist es hingegen üblich, Menschen mit Demenz Präparate zu verabreichen, die zur Gruppe der Psychopharmaka gehören, das gilt auch für Deutschland«, so Irene Habich in ihrem Bericht Besser pflegen bei Demenz: Heime gehen neue Wege. »Im Heim Dagmarsminde wird außerdem versucht, auf den Einsatz von Medikamenten zur Ruhigstellung der Bewohner und Bewohnerinnen zu verzichten. Ängstliche oder aggressive Stimmungen, die bei Demenz häufiger auftreten, sollen stattdessen aufgefangen werden: durch Einfühlsamkeit und Beschäftigung.«

»In vielen anderen Pflegeheimen ist es hingegen üblich, Menschen mit Demenz Präparate zu verabreichen, die zur Gruppe der Psychopharmaka gehören, das gilt auch für Deutschland. Im Pflege-Report 2017 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) wurde der Einsatz solcher Medikamente in Pflegeheimen dokumentiert. Etwa 42 Prozent der gesetzlich versicherten Heimbewohner und Heimbewohnerinnen mit Demenz werden dem Report zufolge Psychopharmarka verabreicht. In dem Bericht wird auch auf die möglichen negativen Folgen hingewiesen: So können die Medikamente nicht nur der Gesundheit schaden, sondern auch das Risiko für Stürze erhöhen. Außerdem sind Betroffene unter dem Einfluss von Medikamenten weniger ansprechbar, das Mitteilen ihrer Bedürfnisse wird erschwert. Ärzte stünden in der Pflicht, solche Medikamente „nur dann einzusetzen, wenn es nicht anders geht“ hatte der Vorsitzende des AOK-Bundesverbands bei der Vorstellung des Berichts kritisiert: Pflegeheimbetreibende müssten „ergänzend den Einsatz nicht-medikamentöser Versorgungsansätze fördern.“ In einer Befragung, deren Ergebnisse ebenfalls in dem Report veröffentlicht wurden, berichteten Pflegekräfte, dass zwar auch andere Ansätze wie Beschäftigung und Bewegungsförderung bei der Betreuung der Heimbewohner halfen. Mehr als die Hälfte der Pflegenden gab aber an, aufgrund von Zeitmangel häufig auf solche Angebote zu verzichten. Dabei könnten nicht-medikamentöse Ansätze sogar wirksamer als Psychopharmaka sein, wenn es darum geht, aggressives Verhalten bei dementiell Erkrankten zu verhindern. Das hat eine Metaanalyse von 163 Studien ergeben, die 2019 im Fachmagazin „Annals of Internal Medicine“ veröffentlicht wurde. Demnach ließen sich körperliche Aggressionen bei dementiell Erkrankten besser durch Aktivitäten im Freien verhindern, als durch die die Gabe von Antipsychotika.«

»Dagmarsminde, das einen solchen Ansatz verfolgt, ist nicht teurer als andere dänische Pflegeheime. „Wir sind kein Heim für Reiche“ betont May Bjerre Eiby in der Doku. Der Betreuerschlüssel in Dagmarsminde sehe etwa eine Pflegekraft pro fünf Bewohner vor.«

➔ Ein Interview mit May Bjerre Eiby hat die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht: „Man muss optimistisch aufs Leben schauen, auch wenn es dem Ende zugeht“. Auf die Frage, was das Besondere an ihrem Konzept sei, führt sie aus: »Das Wichtigste ist, dass man sich darin wie zu Hause fühlt. Nichts darin erinnert an ein Krankenhaus oder eine Institution. Es ist gemütlich, man kommt rein und läuft durch ein ganz normales Wohnzimmer mit ganz normalen Möbeln. Und dann sind wir eigentlich die meiste Zeit zusammen. Wir sind eine Gruppe und unternehmen in der Gruppe Sachen. Wir essen zusammen, machen zusammen Gymnastik, gehen zusammen an die frische Luft. Es hat etwas von einer Familie. Niemand soll das Gefühl haben, dass er allein in seinem Zimmer sein muss.« Und zur Frage nach der Größenordnung: »Wir haben insgesamt zwölf Plätze. Im Schnitt kommt eine Pflegekraft auf fünf Erkrankte. Es sind immer zwei bis drei Pflegekräfte anwesend.«

Irene Habich zitiert in ihrem Artikel Susanna Saxl-Reisen, Sprecherin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft: „Die Einrichtung in Dänemark ist ein Leuchtturmprojekt“. Pflegeheime die versuchen, neue Wege zu gehen, gebe es aber auch in Deutschland. Es gebe die Tendenz, in der Pflege mehr auf Wohngruppenkonzepte zu setzen, bei denen das Zusammenleben gefördert werden soll. »Ein Problem sei aber, dass viele Heime in Deutschland nicht nur versuchen wirtschaftlich, sondern gewinnorientiert zu arbeiten. Das gelinge mit einem „Ruhigstellen“ der Patienten vermutlich einfacher.«

Da wären wir dann fast schon wieder in der auch hier seit Jahren geführten Debatte über die Rahmenbedingungen der Langzeitpflege. Aber damit soll der Beitrag nicht enden:

»Was Saxl-Reisen am dänischen Ansatz so besonders findet, ist, dass dabei die Selbstbestimmung der Menschen im Vordergrund steht. Etwas, was sie sich bei modernen Konzepten der Pflege wünschen würde: „Es müsste endlich mehr Pflegeheime geben, bei denen die Angehörigen sich nicht mehr schlecht fühlen müssen, wenn sie einen dementiell erkrankten Menschen dort unterbringen. Es gibt schließlich genug Wissen um diesen Menschen in der Pflege ein gutes Leben zu ermöglichen. Das müsste nur endlich auch so umgesetzt werden.“«