Österreich: Altbekanntes. Weniger Geld und mehr Druck für Arbeitslose an und unter der Armutsgrenze

Man kennt das seit vielen vielen Jahren in Deutschland. In einer wellenförmigen Bewegung wird immer wieder ein bewusst-unbewusstes Narrativ aufgerufen: Viele Arbeitslose sind schlichtweg selbst schuld an ihrer Situation, weil sie sich „drücken“, weil sie sich eingerichtet haben in den „großzügigen“ Transferzahlungen, weil es ihnen „zu gut“ gehen würde. Die Individualisierung, Personalisierung und Moralisierung von Arbeitslosigkeit hat sich seit den 1990er Jahren flächendeckend durchgesetzt und ist in vielen Köpfen tief verankert. Und man instrumentalisiert dann gerne das Reden vom „Missbrauch“ und der Verweigerung des Zumutbaren in den Situationen, in denen man Leistungen kürzen will. Was man ja irgendwie rechtfertigen muss.

In Österreich läuft derzeit eine vergleichbare Welle ab. »Die ÖVP drängt in der Regierung auf eine „Reform“ des Arbeitslosengeldes. Jobsuchende sollen noch mehr unter Druck sein und jeden – noch so schlechten – Job annehmen müssen.« Das, was Patricia Huber in ihrem Artikel Weniger Geld und mehr Härte: Kurz will Arbeitslose noch mehr unter Druck setzen aus dem Alpenland berichtet, kommt uns in Deutschland mehr als bekannt vor.

Huber kritisiert: »Was die ÖVP will, ist mehr Härte und Strafen, um Jobsuchende in Billigjobs zu drängen. Damit bedienen Kurz und Co. die Interessen der Hotellerie- und Gastrobranche. Denn die freuen sich über niedrige Löhne.«

Bundeskanzler Kurz macht Stimmung gegen Arbeitssuchende und bezeichnet sie als jene, die „nur die Hand aufhalten“. „Wir arbeiten daran, dass wir Leute, die fit sind und gesund sind, in Beschäftigung bringen. Wenn jemand nicht bereit ist, einen Job anzunehmen, der ihm zur Verfügung steht, müssen ihm die Leistungen gekürzt werden“, wird der Kanzler zitiert. Nicht wenigen in Deutschland werden an dieser Stelle die Reden des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) im Ohr klingen.

Nun interessieren Hinweise auf bereits Vorhandenes leider kaum, die Übernahme solcher stammtischtauglichen Parolen läuft meistens ohne Korrektur im Sinne eines Realitätschecks ab. Denn auch in Österreich gilt ein ganzer Blumenstrauß an Sanktionen und die Daumenschrauben werden längst angelegt: »Schon heute wird Arbeitslosen das Arbeitslosengeld gestrichen, wenn sie mehrmals eine passende Arbeitsstelle ablehnen. Wer zum Beispiel eine überregionale Vermittlung im Tourismus ablehnt, wird vom AMS bestraft – und bekommt für sechs bis acht Wochen kein Arbeitslosengeld. Wenn man den vereinbarten AMS-Termin verpasst, kann das Arbeitslosengeld bis zum nächsten Termin gesperrt werden. Wer ein Kursangebot ablehnt, bekommt das Arbeitslosengeld oder die Notstandshilfe für sechs Wochen gesperrt. Passiert das öfter, behält das AMS die Zuwendungen für acht Wochen ein. Bei gänzlicher Arbeitsunwilligkeit wird das Arbeitslosengeld gestrichen«, so Patricia Huber.

➔ Huber bietet die aus diesen Debatten auch bis uns in Deutschland immer wieder bekannte Gegenargumentation an, um was es in Wirklichkeit bei solchen Vorstößen geht: »Normalerweise sind Arbeitgeber bei Fachkräftemangel gezwungen, mit besseren Arbeitsbedingungen um Beschäftigte zu buhlen. Die Hoteliers im Westen Österreichs könnten den niederösterreichischen Köchen ein schönes Zimmer, eine 4-Tage Woche und einen gratis Schipass anbieten – dann wären die Jobs dort wohl gefragter. Aber die Regierung setzt lieber auf Schikane: Beschäftigte sollen gezwungen werden, auch die schlechtesten Arbeitsangebote anzunehmen. Hotels haben von Schwarz-Blau zwar eine Mehrwertsteuersenkung von 13% auf 10% im Wert von 120 Mio. Euro bekommen und gekürzte Ruhezeiten für Beschäftigte. Das hat aber ausschließlich die Gewinne für Hotelbesitzer erhöht. An die Beschäftigten wird davon gar nichts weitergegeben. Jetzt wollen Kurz und Kocher dafür sorgen, dass dem Tourismus und der Gastronomie unbegrenzt billige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, weil sie sonst ihr Arbeitslosengeld verlieren.«

Bundeskanzler Kurz hat schon vor über einem Jahr begonnen, eine gute Absicherung für Arbeitslose in Frage zu stellen – mitten in der Corona-Krise mit damals knapp 500.000 Arbeitslosen: „Es muss nach wie vor attraktiv sein, arbeiten zu gehen, gerade in niedrig qualifizierten Bereichen“ – von den Erntehelfern bis zu gewissen Jobs im Tourismus.

»Im Juli 2021 hat Arbeitsminister Kocher das AMS in einem Schreiben aufgefordert, dass auch Arbeitslose aus anderen Branchen in „touristische Berufe“ vermittelt werden müssen, sobald diese „nicht mehr dem sogenannten Berufs- und Einkommensschutz unterliegen.“ 100 Tage, also etwas mehr als drei Monate, unterliegen Arbeitslose einem Berufsschutz. Das heißt, sie müssen keine Arbeit annehmen, die nicht dem bisherigen Beruf entspricht. Findet man in den ersten 100 Tagen allerdings keine Arbeit im bisherigen Beruf, gibt es keinen Berufsschutz mehr. Auch mit dem Übertritt in die Notstandshilfe fällt der Berufsschutz weg. Ähnlich ist das mit dem Schutz des Einkommens-Niveaus: In den ersten 120 Tagen hat man noch Anspruch auf einen Arbeitsplatz, bei dem man 80 Prozent des Letzteinkommens verdient, dann bis zur Notstandshilfe auf 75 Prozent des letzten Verdienstes. Fällt man in die Notstandshilfe, besteht gar kein „Entgeltschutz“ mehr. Beim Anfahrtsweg sind es zwei Stunden pro Tag für den Hin- und Rückweg, für einen wirklich gut passenden Job aber auch 3 Stunden – also eineinhalb Stunden für die Anreise und noch einmal eineinhalb Stunden für die Abreise.«

Dass wir an dieser Stelle nicht mit einer Idee Tage vom Himmel gefallenen neuen Debatte in Österreich konfrontiert werden, ist in der Vergangenheit auch in diesem Blog immer wieder angesprochen worden, so beispielsweise in dem Beitrag Sanktionen gegen Arbeitslose sind nicht nur in Deutschland ein Thema. Ein Blick nach Frankreich, wo gerade die Sanktionen verschärft werden. Und nach Österreich vom 10. November 2019 und speziell zur Rolle des damaligen und heutigen Bundeskanzlers der Beitrag Österreich auf der Hartz IV-Rutsche: Aus der befürchteten wird eine reale schiefe Ebene und die Beruhigungspillen werden wieder eingesammelt vom 6. Januar 2018.

Das über den Terminus „Zumutbarkeit“ laufende Schleifen dessen, was es auch in Deutschland mal als Berufs- und Qualifikations- und Einkommensschutz gegeben hat, begann hier schon vor den Hartz-Gesetzen. Da war Deutschland, wie bei vielen anderen Abbaumaßnahmen, „Vorreiter“.

Für die historisch interessierten Leser an der langen deutschen Traditionslinie empfehle ich diese Analyse vom Ende der 1990er Jahre, also Jahre vor dem, was dann mit den „Hartz-Reformen“ an weiteren Verschärfungen gekommen ist:
➔ Sell, S. (1998): Entwicklung und Reform des Arbeitsförderungsgesetzes als Anpassung des Sozialrechts an neue Erwerbsformen? Zur Zumutbarkeit von Arbeit und Eigenverantwortung der Arbeitnehmer, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Heft 3, S. 532-549

Der Arbeitsmarkt ist immer auch gekennzeichnet von dem Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage – und zur aktuellen Lage in Österreich schreibt Huber: »In Österreich gibt es derzeit (Stand September 2021) 114.000 offene Stellen, aber 347.000 Menschen sind auf Arbeitssuche. Für zwei von drei Arbeitssuchende gibt es nach wie vor keinen Arbeitsplatz. Am Anfang des Lockdowns haben viele von ihnen die Kündigung bekommen – trotz Wirtschaftshilfen und Kurzarbeit. Jetzt suchen Handel, Hotellerie und Gastro das Personal, das sie vor einem Jahr vor die Tür gesetzt haben. Doch mittlerweile haben sich viele der Gekündigten anders orientiert oder suchen nach einem besseren Arbeitsplatz.« Das ist eine Beschreibung, die auch in Deutschland zutreffend ist, wie die vielen neueren Berichte über einen Arbeitskräftemangel in den genannten Branchen nahelegen.

Einen Stein ins Wasser werfen und die Wellen wirken lassen: Der Vorstoß gegen den „Zuverdienst“ für Arbeitslose in Österreich

Ein Teil der aktuellen Debatte in Österreich über „mehr Druck“ auf Arbeitslose wurde ausgelöst vom Chef des AMS – AMS steht für „Arbeitsmarktservice“ und ist das österreichische Pendant zur Bundesagentur für Arbeit in Deutschland -, Johannes Kopf. Der hatte sich in einem Interview dafür ausgesprochen, die Zuverdienstmöglichkeiten für Arbeitslose einzuschränken. Derzeit ist ein Zuverdienst von 475 Euro im Monat erlaubt, also unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze. Seitens der Unternehmen wird immer wieder argumentiert, dass Arbeitslose mit einem geringfügigen Nebenjob ihr Auskommen fänden und daher weniger bereit seien, einen vermittelten Job anzunehmen. Offensichtlich hat diese Sicht auf die Welt den AMS-Chef überzeugen können (nur als Anmerkung: Auch in Deutschland gibt es eine vergleichbare Debatte, die läuft hier unter dem Schlagwort von der „Geringfügigkeitsfalle“). Um wie viele Arbeitslose geht es hier eigentlich? Die Zuverdienstmöglichkeit nutzen viele Menschen: Laut Zahlen des Arbeitsmarktservice sind es etwas mehr als zehn Prozent der arbeitslos gemeldeten Personen. Das sind etwa 43.000 Menschen.

Und jetzt wieder einmal eine „Reform“? Bei der geht es nicht nur um den geringfügigen Zuverdienst für Arbeitslose, sondern um mehr

Wie dem auch sei, der Bundeskanzler Kurz schickt seinen Arbeitsminister an die Front, wo sich „ideologische Gräben“ auftun, berichtet Julia Beirer in ihrem Artikel Kocher startet Diskussionsprozess über Reform des Arbeitslosengeldes: »Konkrete Aussagen hat Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) beim Startschuss zum „Reformdialog der Arbeitslosenversicherung neu“ … tunlichst vermieden. Wichtig sei ihm ein evidenzbasierter und ideologiefreier Diskurs und dass es eine große Differenz zwischen Menschen gebe, die hunderte Bewerbungen schreiben, und Personen, die Vollzeit arbeiten könnten, dies aber nicht machen, weil das System nicht die entsprechenden Anreize biete. Diese sollen nun in einem mehrwöchigen Diskussionsprozess gefunden werden.«

Man wird abwarten müssen, in welche Richtung sich das entwickeln wird.

Aber wie geht es eigentlich denen, über die hier gesprochen wird? Arbeitslose und ihr Leben an der Armutsgrenze

Zu der Frage, wie es den Arbeitslosen (vor allem materiell) geht, wurden passenderweise diese Tage die Ergebnisse einer neuen Studie vorgestellt: Leben an der Armutsgrenze: Arbeitslose in Österreich, so ist der Bericht des SORA-Instituts dazu überschrieben. Und auch der bezieht sich auf die beschriebene aktuelle Debatte in Österreich:

»Arbeitslose, die „lieber das Arbeitslosengeld nehmen“, die es sich in der „sozialen Hängematte bequem gemacht“ hätten, die nicht gewillt seien, „sich wieder eingliedern zu lassen“. Der Tonfall gegenüber Arbeitslosen verschärfte sich im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs zuletzt deutlich. SORA hat im Auftrag des sozialliberalen Momentum Instituts eine Studie durchgeführt. Dafür wurden 1.844 Menschen im Alter von 15 bis 64 Jahren im Zeitraum Mai bis Juli 2021 befragt. 1.215 Interviewpartner*innen waren zum Befragungszeitpunkt arbeitslos, davon 332 langzeitarbeitslos.«

Zu den Befunden der Studie erfahren wir:

Leben an und unter der Armutsgrenze: »Arbeitslose Menschen in Österreich leben in prekären ökonomischen Verhältnissen. Seit sie ihren Job verloren haben, müssen 97 Prozent der Befragten mit unter 1.400 Euro netto im Monat auskommen. Rund neun von zehn Arbeitslosen erhalten nun weniger als 1.200 Euro monatlich. Finanziell besonders hart trifft es daher jene Menschen, die bereits vor ihrer Arbeitslosigkeit weniger verdient hatten: 63 Prozent der befragten Arbeitslosen verdienten im letzten Job weniger als 1.400 Euro netto pro Monat – die meisten, weil sie keinen Vollzeit-Job hatten. Für viele bedeutet das ein Leben an der Armutsgrenze, die für einen Ein-Personen-Haushalt bei 1.328 Euro liegt. Berücksichtigt man die unterschiedlichen Haushaltsformen, leben zwischen 51 Prozent und 66 Prozent aller Arbeitslosen in einem armutsgefährdeten Haushalt.«

Knapp die Hälfte kann sich Grundbedürfnisse nicht mehr leisten: »Mehr als die Hälfte aller Arbeitslosen (58 Prozent) braucht zusätzlich zum Arbeitslosengeld eigene Ersparnisse auf – sofern vorhanden. Andere sind wiederum auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Ein Viertel aller Arbeitslosen muss Freunde oder Familienmitglieder um Geld bitten.
Armut im Sinne finanzieller Deprivation liegt unter Arbeitslosen 3,5-mal so hoch wie unter abhängig Beschäftigten, d.h. 47 Prozent könnten sich vier von sieben Grundbedürfnisse nicht mehr leisten. Unerwartete Ausgaben sind für 75 Prozent der befragten Arbeitslosen existenzbedrohend. Vier von zehn Arbeitslosen können sich bei Bedarf keine neue Kleidung kaufen. Zwischen einem Viertel und einem Fünftel aller Arbeitslosen kann es sich nicht leisten, mehrmals die Woche Fleisch, Fisch oder eine entsprechende vegetarische Speise zu essen oder die gesamte Wohnung warm zu halten. 18 Prozent glauben nicht, dass sie die nächsten sechs Monate die Miete bezahlen werden können.«

3 von 4 Arbeitslose haben Arbeitslosigkeit nicht gewählt: »Arbeitslose sind an ihrer Situation nicht selbst schuld: Von 100 Arbeitslosen wurden nur 4 auf eigenen Wunsch im Zuge einer einvernehmlichen Kündigung arbeitslos. Nur 8 haben selbst gekündigt oder ihre selbständige Tätigkeit aufgegeben. Drei von vier Arbeitslosen wurden gekündigt oder aufgrund betrieblicher Umstände arbeitslos, auf die sie selbst keinerlei Einfluss haben.«

Sechs Bewerbungen, eine Einladung: »Fast alle (95 Prozent) arbeitslosen Menschen suchen aktiv nach Beschäftigung. 83 Prozent aller Arbeitslosen haben sich in den letzten vier Wochen für einen neuen Job beworben, diese verschickten im Schnitt sogar sechs Bewerbungen. Zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden sie durchschnittlich jedoch nur einmal pro Monat. Auf sechs Bewerbungen kommt also nur eine Einladung.«

Chancen auf Berufseinstieg sind ungleich verteilt: »Signifikant geringer sind die Chancen auf eine Bewerbungseinladung für Frauen, ältere Arbeitslose, Arbeitslose mit maximal Lehrabschluss. Auch die Dauer der Arbeitslosigkeit spielt eine Rolle: Bereits nach sechs Monaten müssen Arbeitslose im Schnitt 14 Bewerbungen versenden, um eine Einladung zu erhalten. Obwohl sich Langzeitarbeitslose genauso häufig bewerben, werden sie noch viel seltener zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. Das spiegelt sich auch in ihrer Selbstwahrnehmung wider: 8 von 10 Langzeitarbeitslosen schätzen ihre eigenen Einflussmöglichkeiten darauf, einen neuen Job zu finden, als gering ein.«

Wer die Studie im Original lesen möchte, wird hier fündig:

➔ Daniel Schönherr (2021): Zur Situation von Arbeitslosen in Österreich 2021, Wien: SORA Institut, August 2021

Foto: © Stefan Sell