Soll der deutsche Spargel jetzt zu Fischstäbchen verarbeitet werden? Was die Änderung des Seefischereigesetzes damit zu tun hat, günstige Erntehelfer noch günstiger importieren zu können

Am 23. Februar 2021 wurde hier in dem Beitrag Bald werden sie wieder kommen sollen. Die Saisonarbeiter. Und erneut will man sie möglichst billig haben berichtet: »Die Grünen im Bundestag stemmen sich gegen Pläne von Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner, die sozialversicherungsfreie Beschäftigung für Saisonarbeiter wie im vergangenen Jahr wieder auf 115 Tage auszuweiten. „Wir kritisieren scharf, dass die Bundesregierung erneut versucht, die Sozialversicherungen auf Kosten der systemrelevanten Arbeitskräfte in der Landwirtschaft zu umgehen“, so der agrarpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Friedrich Ostendorff. Das wurde dann in diesem Beitrag am 13. März 2021 aufgegriffen: Go East – auch mit Hilfe einer Nicht-Sozialversicherung hier. Die Erntehelfer aus dem Osten und was das mit einer Modernisierung der Betriebsräte (nicht) zu tun hat. Dort konnte dann als „Erfolg“ vermeldet werden: Es werden nicht 115 Tage, sondern „nur“ 102 Tage. Das Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung konnte unter der Überschrift Bundeslandwirtschaftsministerin erreicht Ausweitung der kurzfristigen Beschäftigung den Landwirten die Erfolgsmeldung kabeln: »Von März bis Ende Oktober 2021 können landwirtschaftliche Betriebe ihre ausländischen Saisonarbeitskräfte 102 statt 70 Tage (bzw. vier statt drei Monate) sozialversicherungsfrei beschäftigen.« 

»Die Maßnahme ist einerseits ein Beitrag zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit heimischen Lebensmitteln«, so das Bundesspargelministerium. Und „andererseits“? Na ja, das richtet sich an die Landwirte, die nun Sicherheit bekommen, dass sie vier Monate lang keine Sozialabgaben für die Arbeit der osteuropäischen Erntehelfer zahlen müssen. 

Im Beitrag vom 13, März 2021 findet man dann diesen Hinweis: »Das Bundeskabinett hat sich wie dargestellt geeinigt und nach Ostern muss sich der Bundestag damit beschäftigen. Man kann und muss davon ausgehen, dass die Koalitionsfraktionen das Ansinnen durchwinken werden. Der Beschluss bedeutet faktisch, dass osteuropäischen Erntehelfer auch dieses Jahr länger als normalerweise ohne reguläre Krankenversicherung arbeiten dürfen.«

Wo ist das Problem?

»Bei dieser sogenannten „kurzfristigen Beschäftigung“ müssen Arbeiter laut der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) beispielsweise im Fall einer Corona-Erkrankung die Behandlungskosten mitunter selbst zahlen. Dabei bekommen sie meist nur den gesetzlichen Mindestlohn von 9,50 Euro die Stunde – oft minus Abzügen für Unterkunft und Verpflegung. Zudem würden der deutschen Sozialversicherung hohe Summen an Beiträgen verloren gehen«, so Jost Maurin in seinem Artikel Erntehelfer schlecht versichert – mit Blick auf das vergangene erste Corona-Jahr kann man hier ergänzen: 60 Prozent der Ende Juni 2020 registrierten rund 97.000 ausländischen Aushilfskräfte in der deutschen Landwirtschaft hatten laut Bundesagentur für Arbeit eine sozialversicherungsfreie Beschäftigung. Nun wird der eine oder andere einwenden, dass doch die Arbeitgeberseite eine „Kompensation“ durch private Krankenversicherungen in Aussicht gestellt haben. Der Bauernverband dagegen begrüßte den Kabinettsbeschluss, dem der Bundestag noch zustimmen muss: „Es ist in der Praxis üblich, dass für versicherungsfrei beschäftigte ausländische Saisonkräfte ein private Krankenversicherung abgeschlossen wird.“

Dass die Betriebe für einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz der versicherungsfrei beschäftigten Saisonkräfte durch private Erntehelferversicherungen sorgen, wie die Arbeitsgemeinschaft der gärtnerischen Arbeitgeberverbände argumentiert, ist aber nur – aufgepasst – eine Empfehlung, der nicht alle folgen und oft deckt die private Versicherung auch nicht alles ab. So werden gerade die Kosten durch eine mögliche Corona-Infektion und eine damit verbundene Behandlung von vornherein in vielen Verträgen ausgeschlossen. 

Das Argument mit der anderweitigen Absicherung der Erntehelfer wird auch vom Bundeslandwirtschaftsministerium aktiv aufgegriffen, wenn in der entsprechenden Pressemitteilung geschrieben wird: »Um sicherzustellen, dass kurzfristig Beschäftigte auch tatsächlich über eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall verfügen, soll für diese Beschäftigten eine Meldepflicht des Arbeitgebers zur Art der krankenversicherungsrechtlichen Absicherung des Arbeitnehmers eingeführt werden. Als privat krankenversichert soll ein kurzfristig Beschäftigter auch gelten, wenn er über seinen Arbeitgeber für die Zeit der Beschäftigung über eine private Gruppenversicherung abgesichert ist und dadurch die notwendige Versorgung im Krankheitsfall gewährleistet ist.« 

Und es wird sogar eine zweite „Schutzvorschrift“ seitens des Bundesbauernministeriums kolportiert: »Zudem soll der Arbeitgeber zukünftig bei der Anmeldung einer kurzfristigen Beschäftigung bei der Minijobzentrale eine automatisierte Rückmeldung über Vorversicherungszeiten der Beschäftigten erhalten. So kann er beurteilen, ob die Zeitgrenzen für die kurzfristige Beschäftigung eingehalten wurden bzw. wann diese überschritten sind. Das schafft die notwendige Rechtssicherheit für die Arbeitgeber.« Das würde (angeblich) verhindern, dass Arbeiter bei mehreren Betrieben solche Jobs länger als erlaubt ausüben.

Bereits am 31.03.2021 wurde hier allerdings Wasser in den Landwein gegossen: Wie immer muss man das Kleingedruckte zur Kenntnis nehmen: Diese beiden Meldepflichten gelten aber erst ab Januar 2022, so eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums. Wie praktisch, dann ist der deutsche Spargel des Jahres 2021 aber sowas von gegessen und die Erntehelfer wieder zurück in Polen oder Rumänien – oder Georgien, denn das ist wie bereits beschrieben das neue Land der Beschaffungsverheißung.

Dazu: »Die Spargelernte war jahrelang eine Co-Produktion polnischer und rumänischer Helfer. Doch viele von ihnen wollen nicht mehr auf deutschen Feldern schuften. Arbeitskräfte aus Georgien sollen einspringen«, berichtet Ulrich Crüwell in seinem Artikel Erntehilfe kommt diesmal aus Georgien. Darin wird Jürgen Jakobs zitiert, der Verbandsvorsitzende der ostdeutschen Spargelbauer: „Wir sind für Rumänen keine attraktiven Arbeitgeber mehr. Die Georgier dagegen, die in den kommenden Tagen ins Flugzeug nach Deutschland steigen, sind da anspruchsloser: Sie bezahlen ihre Flüge selber.“

Übrigens hat die Bundeserntehelferministerin Julia Klöckner (CDU) in den Tagen vor der Verabschiedung der Frist-Erweiterungsregelung aktiv versucht, die Öffentlichkeit dahingehend zu vernebeln, als dass die falsche Behauptung platziert wurde, die Regelungen gelten ab sofort und nicht erst ab dem kommenden Jahr, wie hier bereits am 31.03.2021 dargelegt. Jost Maurin hat das Vorgehen der Ministerin in seinem Artikel Klöckner führt Medien in die Irre seziert und auf den Punkt gebracht: »Die CDU-Politikerin suggeriert, dass in der Coronawelle eine Krankenversicherung für die Arbeiter garantiert sei. Mehrere Medien fallen darauf herein.« Beispiel: »Die Nachrichtenagentur AFP schrieb, „gleichzeitig“ mit der 102-Tage-Reglung „werde eine Meldepflicht zur Art der krankenversicherungsrechtlichen Absicherung eingeführt“. Die Agentur hat diesen Fehler trotz mehrerer Hinweise bis heute nicht korrigiert.« Angesichts der Bedeutung der Lieferantenfunktion der Nachrichtenagenturen in der Nachrichtenwelt ist das auch ein erhebliches Qualitätsproblem.

Und was hat das alles nun mit dem Seefischereigesetz zu tun? Mit dem „Omnibus“ durch die parlamentarische Hintertür

Man stand nun wie bereits erwähnt vor der Aufgabe, die Erweiterung der Frist möglichst schnell durch das Parlament zu schleusen. Wenn man eine gesetzliche Regelung schnell umsetzen will bzw. muss, dann bedient man sich einer dafür vorgesehenen Gesetzgebungstechnik: Man baut die Änderung in ein ganz anderes Gesetz ein, das gerade vor der Verabschiedung steht. Das wird dann als „Omnibusverfahren“ bezeichnet. Das spart Zeit und im Idealfall auch die öffentliche Debatte. Meist werden Gesetze mit dem Omnibusverfahren durchgedrückt, wenn die Zeit knapp wird und man größere Gesetzesänderungspakete nicht mehr in Einzelgesetze aufschnüren will. Auf diese Art und Weise können auch Gesetzesänderungen durchgeführt werden, welche in einer Einzelentscheidung durchfallen würden, im Paket aber angenommen werden, damit das Paket an Entscheidungen „durchkommt“.

Also hat man gesucht und das „Seefischereigesetz“ gefunden – die dort geplanten und schon weit vorangeschrittenen Änderungen fungieren als Omnibus für die Erntehelfer-Regelung.

Der „Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes“ (Bundestags-Drucksache 19/26840 vom 19.02.2021) lag schon vor. Am 21.04.2021, kurz vor der Abstimmung im Deutschen Bundestag, die auf den Abend des 22.04.2021 terminiert wurde, kam dann diese Drucksache heraus:

➞ Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss), Bundestags-Drucksache 19/28840 vom 21.04.2021

Schaut man in dieses Dokument auf die erste Seite, dann enthält die Problembeschreibung keinen einzigen Hinweis, dass von diesem Gesetzgebungsprozess auch die Erntehelfer betroffen sind:

Das ursprünglich nur auf das Seefischereigesetz bezogenen Gesetz wurde zwischenzeitlich um einen weiteren Artikel ergänzt – und der ist so überschrieben: „Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch“. Das SGB IV hat nun wirklich nichts auf hoher See zu suchen. Genau hier findet man die 102-Tage-Erweiterung die Erntehelfer betreffend „versteckt“ (in einem neu eingefügten §132 SGB IV):

»Vom 1. März 2021 bis einschließlich 31. Oktober 2021 gilt § 8 Absatz 1 Nummer 2 mit der Maßgabe, dass die Beschäftigung innerhalb eines Kalenderjahres auf längstens vier Monate oder 102 Arbeitstage nach ihrer Eigenart begrenzt zu sein pflegt oder im Voraus vertraglich begrenzt ist, es sei denn, dass die Beschäftigung berufsmäßig ausgeübt wird und ihr Entgelt 450 Euro im Monat übersteigt.«1

1 Diese befristete Verlängerung auf 102 Tage wird als § 132 neu am Ende des SGB IV verankert. Er bezieht sich auf „Geringfügige Beschäftigung und geringfügige selbständige Tätigkeit“, die an sich im § 8 des SGB IV geregelt sind, dort findet man auch die 70-Tage-Regelung einer „kurzzeitigen Beschäftigung“. Dazu muss man wissen: Minijobs sind geringfügige Beschäftigungen und unterteilen sich in zwei Arten: a) 450-Euro-Minijobs sind geringfügig entlohnte Beschäftigungen. Wichtig ist, dass der Minijobber regelmäßig nicht mehr als 450 Euro im Monat verdient. b) Kurzfristige Beschäftigungen: Hier ist entscheidend, dass der Minijobber im Laufe eines Kalenderjahres nicht mehr als drei Monate oder insgesamt 70 Arbeitstage (die für 2021 auf 102 Tage verlängert werden) arbeitet. Er oder sie arbeitet hier nicht regelmäßig, sondern nur gelegentlich – die Höhe des Verdienstes spielt hier keine Rolle. Hier spielt also die normalerweise mit Minijobs verbundene 450 Euro-Grenze keine Rolle.

Auch die Regelung, dass die Meldepflicht irgendeinen Krankenversicherungsschutz betreffend erst ab dem kommenden Jahr gelten wird, was seitens der Ministerin Klöckner vertuscht werden sollte, findet man nun in dem, was mittlerweile auch beschlossen wurde, dokumentiert.

Auf der Seite 8 der Drucksache findet man dann eine Darstellung den „Beratungsverlauf und Beratungsergebnisse im federführenden Ausschuss“ betreffend:

Die CDU/CSU-Fraktion erklärt darin: »Was die 115-Tage-Regelung bzw. 102-Tage-Regelung für Saisonarbeitskräfte angehe, sollten sich alle Fraktionen nochmals in Erinnerung rufen, dass die bisherige Regelung vom Gesetzgeber 2020 pandemiebedingt auf den Weg gebracht worden sei, um eine unnötige Fluktuation bei den Saisonarbeitskräften zu vermeiden. Dass es jetzt 102 und nicht mehr 115 Tage sein sollen, sei das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den Fraktionen der CDU/CSU und SPD. Die diesem Kompromiss kritisch gegenüberstehende Fraktion der FDP werde sicherlich, wenn sie irgendwann einmal wieder in Regierungsverantwortung käme, auch lernen, dass es manchmal ohne Kompromisse in einer Koalition nicht gehe. Es sei am Ende ein vernünftiger Weg gefunden worden. Mit dem Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD werde zudem die Meldepflicht betreffend der Krankenversicherung ab dem 1. Januar 2022 festgeschrieben, d. h., dass der Krankenversicherungsschutz vom Arbeitgeber nochmals besser als bisher dokumentiert werden müsse. Vor diesem Hintergrund werde in der Sache erfolgreich nach vorne gekommen. Die von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geäußerte Kritik zu den Saisonarbeitskräften sei weder neu noch zutreffend. Dieses Instrument heiße nicht umsonst kurzfristige Beschäftigung, weil sie eben nur auf Kurzfristigkeit angelegt sei … im Wesentlichen sei die geltende Regelung darauf ausgerichtet, dass die Sozialversicherungspflicht der ausländischen Saisonarbeitskraft im Herkunftsland vorhanden sei. Es gehe um Ferienjobs bzw. um kurzfristige Beschäftigung, weswegen hier auf die Sozialversicherungspflicht verzichtet werden könne.«

Und was sagen die Sozialdemokraten zu der ganzen Angelegenheit? Für die SPD wird berichtet: »… es sei bekannt, dass hinsichtlich des Inhaltes des Änderungsantrages der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zu den Saisonarbeitskräften der Berichterstatter der Fraktion der SPD nicht „ganz glücklich“ sei.« So kann man eigentlich vorhandene grundsätzliche Bedenken auch ausdrücken. Lesen wir weiter: »Es sei vom Grundsatz her richtig, dass jede und jeder, der hier arbeite, sozialversicherungspflichtig geschützt ist. Der von der Fraktion der CDU/CSU angeführte Begriff der Ferienarbeit im Kontext von Saisonarbeit sei nicht zielführend. Bei Saisonarbeitskräften aus z. B. Rumänien oder Bulgarien müsse berücksichtigt werden, dass deren Versicherungssysteme zu schwach bzw. nicht in der Lage seien, das abzubilden, was das hiesige Versicherungssystem darstelle. Deswegen sei das System der sozialversicherungspflichtigen Saisonarbeit ein Fehler. Genauso wie jüngst die Schlacht- bzw. Arbeitsbedingungen auf die großen Betreiber von Schlachthöfen zurückgefallen seien, werde zwangsläufig das bisherige System der Saisonarbeit auf die hiesigen Obst- und Gemüsebauern zurückfallen. Es bestehe die Gefahr, dass im Rahmen einer Skandalisierung dann auf ehrenwerte Landwirte mit dem Finger gezeigt werde.«

CDU/CSU, SPD und AfD haben den Änderungen zugestimmt

Nicht nur die Unionsparteien und – mit den dargestellten „Bauchschmerzen“ – auch die SPD haben den Änderungen zugestimmt, sondern sie bekamen Schützenhilfe von der derzeit größten Oppositionspartei im Deutschen Bundestag, der AfD. Aus deren Fraktion wird berichtet: »Die mit dem Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vorgenommenen Änderungen zu Maßnahmen, die den Krankenversicherungsschutz von kurzfristig Beschäftigten verbesserten und die Lage auf dem Saisonarbeitsmarkt durch eine zeitlich begrenzte Ausweitung der zulässigen Dauer in der kurzfristigen Beschäftigung optimierten, trage die Fraktion der AfD sehr gerne mit.« Na klar, es geht hier ja „nur“ um „Fremdarbeiter“.

Und die FDP hat nicht zugestimmt – aber:

Die FDP hat sich dem Änderungsantrag der GroKo-Parteien verweigert. Haben die Liberalen ihr Herz für Saisonarbeiter aus dem Osten entdeckt? Nicht wirklich. Man muss genauer hinschauen, was aus der Fraktion der FDP berichtet wird: »In Bezug auf die Saisonarbeitskräfte hätten sich die Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf eine Ausweitung der Dauer der kurzfristigen Beschäftigung auf 102 Tage verständigt, was für die Fraktion der FDP nicht nachvollziehbar sei. Das wirke ein bisschen wie die im Bundestag in der Beratung befindlichen Änderungen am bestehenden Infektionsschutzgesetz, wo sich die Fraktionen der CDU und SPD auf eine Inzidenz von 165 geeinigt hätten, ob Schulen schließen müssen oder wieder öffnen dürften. Es handele sich in beiden Fällen um einen gegriffenen Wert. Die Fraktion der FDP halte 115 Tage bei der Dauer der kurzfristigen Beschäftigung für angemessen. Es dürfe eine Branche, der es ohnehin schon schlecht gehe, nicht zusätzlich von Seiten der Politik mit einem pauschalen Misstrauen sowie mit Auflagen, die ihnen das Leben noch schwerer machten, überzogen werden.« Anders ausgedrückt: Die FDP wollte es noch länger haben für die Bauern.

Die inhaltlich begründeten Einwände sowohl aus der Fraktion DIE LINKE wie auch aus der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kann man in der Drucksache nachlesen, sie wurden überstimmt von dieser ganz eigenen Mehrheit aus CDU/CSU, SPD und AfD.

Es geht nicht nur um die „Erntehelfer“ für die Spargel- und Erdbeerernte

Es geht in der öffentlichen Debatte, wenn die überhaupt geführt wird, denn die Berichterstattung über das Thema ist doch insgesamt mehr als überschaubar, immer um die Bilder von „Erntehelfern“, die den deutschen Spargel oder die Erdbeeren einbringen. Die Anführungszeichen sind hier bewusst gesetzt worden, denn der Begriff hat – so eine durchaus bedenkenswerte Kritik – eher eine verniedlichende Wirkung: „Ich finde …, dass der Begriff Erntehelfer irreführend ist, weil die nicht so ein bisschen bei der Ernte mit anpacken, sondern in diesem sehr arbeitsintensiven Bereichen der Obst- und Gemüseproduktion Schwerstarbeit leisten und ohne sie gar nichts laufen würde.“ Mit diesem Hinweis wird Benjamin Luig zitiert, er koordiniert die Branchen Landwirtschaft und Bau beim DGB-Projekt Faire Mobilität und im Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen. Er bevorzugt die Bezeichnung Saisonarbeiter. Das findet man in diesem Interview mit ihm: »Das sind keine Ausnahmen«. Es überrascht jetzt sicher nicht, dass er gerade in Zeiten von Corona dafür plädiert, dass man „unbedingt eine Sozial-, eine Krankenversicherungspflicht für alle Beschäftigten“ haben sollte. »Wir hatten in den vergangenen Jahren in der Beratungsarbeit und bei der Gewerkschaft schon Fälle, bei denen Leute hier monatelang gearbeitet haben und aufgrund einer medizinischen Behandlung danach verschuldet wieder nach Hause gefahren sind.«

Und er verweist auch auf das Problem, dass selbst der gesetzliche Mindestlohn in unterschiedlichsten Varianten umgangen wird: Die Saisonarbeiter bekommen (auf dem Papier) den Mindestlohn, aber es gibt in den Betrieben in der Regel hohe Abzüge von den Löhnen. »Da gibt es legale Abzüge für Unterkunft und Verpflegung, deren Höhe klar definiert ist. Wir beobachten bei unseren Feldbesuchen und bei unseren Beratungen allerdings, dass es oftmals hohe illegale Abzüge gibt. Ein typischer Fall ist, dass viel zu hohe Mieten angesetzt werden, Quadratmeterpreise wie in einem Penthouse in Berlin. Und es gibt noch weitere Formen von illegalen Abzügen. Beispielsweise für die Arbeitskleidung oder für die Arbeitsmittel, die bei der Feldarbeit gebraucht werden. In anderen Fällen wird ein Teil der geleisteten Arbeitszeit, vor allem Überstunden, nicht abgerechnet. Oft werden Löhne erst unmittelbar vor der Abreise gezahlt. Erst dann bekommen die Saisonarbeiter*innen die Lohnzettel, auf denen ein erheblicher Teil der Arbeitszeit gar nicht registriert wird. Das sind keine Ausnahmen, sondern strukturelle Formen, den Anspruch auf Mindestlohn zu untergraben.« Benjamin Luig: »Wir hatten beispielsweise vorletzte Woche einen Fall in Nordrhein-Westfalen, wo ein Saisonarbeiter fünf Wochen lang Akkordarbeit geleistet hat, Vollzeit, 48 Stunden die Woche, und mit weniger als 1200 Euro nach Hause gegangen ist.« Er weist aber auch darauf hin: »Es sind nicht wenige Betriebe, auf denen wir solche Rechenkünste beobachtet haben. Viele andere Betriebe halten sich an den Mindestlohn und die Begrenzungen bei den erlaubten Abzügen.« Allerdings profitieren die an anderer Stelle, die das Thema dieses Beitrags wieder berührt, denn »für sie kommt die Saisonarbeit sehr günstig, da sie über das Modell „kurzfristige Beschäftigung“ die Kosten zur Sozialversicherung sparen.«

Man muss aber abschließend darauf hinweisen, dass das alles nicht nur die Saisonarbeiter auf den deutschen Feldern betrifft. Dazu ein Blick in diese Mitteilung des DGB Nordrhein-Westfalen vom 22.04.2021: Saisonstart im Corona Jahr: DGB fordert Schutz für Erntehelferinnen und Erntehelfer. Dort finden wir diese Hinweise:

»Die Ausweitung der sozialversicherungsfreien Beschäftigung auf 102 Tage für das Jahr 2021 betrifft aber nicht nur die Landwirtschaft. Im Juni 2020 gab es in NRW insgesamt fast 40.000 Saisonbeschäftigte; neben der Landwirtschaft meist im Bereich der Lagerwirtschaft, Post und Zustellung und in der Gastronomie, die nach dieser Regelung monatelang sozialversicherungsfrei gearbeitet haben – und das zusätzlich zu der Vielzahl an 450-Euro Jobs in diesen Bereichen. Auch hier kommt der Großteil der Beschäftigten aus osteuropäischen EU-Ländern.«

Und das, was die Gewerkschaften fordern, geht weiter über eine Infragestellung der 102-Tage-Regelung hinaus und verweist zugleich auf die Größe der Baustellen, die sich auftun:

»Der DGB fordert Sozialversicherungsschutz ab dem ersten Tag der Beschäftigung, einen schlagkräftigen Arbeits- und Infektionsschutz und das Ende von Mindestlohnbetrug, miesen und überteuerten Unterkünften und Missbrauch.« Da ist noch eine Menge zu tun.

Foro: © Stefan Sell