Go East – auch mit Hilfe einer Nicht-Sozialversicherung hier. Die Erntehelfer aus dem Osten und was das mit einer Modernisierung der Betriebsräte (nicht) zu tun hat

Am 23. Februar 2021 wurde hier in dem Beitrag Bald werden sie wieder kommen sollen. Die Saisonarbeiter. Und erneut will man sie möglichst billig haben berichtet: »Die Grünen im Bundestag stemmen sich gegen Pläne von Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner, die sozialversicherungsfreie Beschäftigung für Saisonarbeiter wie im vergangenen Jahr wieder auf 115 Tage auszuweiten. „Wir kritisieren scharf, dass die Bundesregierung erneut versucht, die Sozialversicherungen auf Kosten der systemrelevanten Arbeitskräfte in der Landwirtschaft zu umgehen“, so der agrarpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Friedrich Ostendorff, der in dieser Meldung zitiert wird: Grüne gegen beitragsfreie 115-Tage-Jobs für Saisonarbeiter. In der Zeit der Sozialversicherungsfreiheit müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer keine Sozialbeiträge zahlen, es besteht dann aber auch kein Sozialversicherungsschutz in der Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Man kann es tatsächlich so ausdrücken: „Wer 14 Stunden am Tag in Schwerstarbeit auf unseren Feldern schuftet, muss fair bezahlt werden und in Deutschland krankenversichert sein.“«

Und nun scheinen die Grünen und die vielen anderen Kritiker „Erfolg“ zu haben: Es wird keine Ausweitung der Nicht-Sozialversicherungspflicht der Arbeit der Erntehelfer auf 115 Tage geben. Sondern es werden „nur“ 102 Tage sein. Konsequent ist dann die Überschrift einer Pressemitteilung aus dem Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung: Bundeslandwirtschaftsministerin erreicht Ausweitung der kurzfristigen Beschäftigung. »Von März bis Ende Oktober 2021 können landwirtschaftliche Betriebe ihre ausländischen Saisonarbeitskräfte 102 statt 70 Tage (bzw. vier statt drei Monate) sozialversicherungsfrei beschäftigen.« Und damit wir auch alle verstehen, dass die Ministerin Julia Klöckner das nur für uns gemacht hat, lesen wir weiter: »Die Maßnahme ist einerseits ein Beitrag zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit heimischen Lebensmitteln.«

Und „andererseits“? Na ja, das richtet sich an die Landwirte, die nun Sicherheit bekommen, dass sie vier Monate lang keine Sozialabgaben für die Arbeit der osteuropäischen Erntehelfer zahlen müssen. Und ganz pingelige Beobachter könnten die Jubelmeldung aus dem Bundesbauernministerium dahingehend ergänzen, dass sie darauf verweisen, dass die Kritiker nicht nur den „Erfolg“ verbuchen können, dass es lediglich 102 statt der 115 Tage Sozialversicherungsfreiheit geworden sind, sondern geht man einige Monate zurück, dann kann man nachlesen, dass die Ministerin noch eine ganz andere Hausnummer aufrufen hat.

„Passend“ zum Tag der Arbeit am 1. Mai 2020 wurde hier berichtet:

»Bundesministerin Julia Klöckner zieht … alle Register, um Bauern zu Lasten der Erntehelfer großzügige Geschenke zu machen. So wirbt sie inzwischen unter falscher Flagge für eine noch größere Ausweitung des Sozialversicherungsprivilegs der Bauern. Die ursprünglich nur für 70 Tage geltende Befreiung von Sozialabgaben für Erntehelfer*innen wurde wegen der Corona-Krise bereits auf 115 Tage verlängert. Laut Klöckner reicht das nicht und soll deshalb bald 180 Tage betragen. Die Ministerin verbreitet dabei irreführend, es gehe um eine maximale Aufenthaltsdauer. Das ist falsch, weil für hier arbeitende EU-Bürger ein unbegrenztes Aufenthaltsrecht gilt. Für betroffene Beschäftigte hat der fehlende Sozialversicherungsschutz aber größte Nachteile wie etwa bei einer Erkrankung oder bei Invalidität.« (Quelle: IG BAU:  Lückenhafter Infektionsschutz bei Erntehelfern. Bundesministerin Klöckner setzt falsche Prioritäten).

Und im vergangenen Jahr gab es noch weitere „Hilfen“ für die Arbeitgeber: Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) (hatten sich) auf ein Konzept geeinigt, dass unter anderem längere Aufenthaltsdauer und – wie in anderen systemrelevanten Bereichen auch – längere Arbeitszeiten beinhaltete. Damit durfte bis zu 60 Stunden pro Woche und ohne Sondergenehmigung bis zu 12 Stunden täglich gearbeitet werden. In dringenden, nicht näher definierten Ausnahmen konnten es sogar sechs Tage à 12 Stunden sein.

Apropos Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Der hatte doch Widerstand geleistet gegen eine erneute „Ausnahmeregelung“ in Form einer Verlängerung der 70-Tage-Frist im Vorfeld der jetzigen Entscheidung. Aber er hat dem neuerlichen Vorstoß der Landwirtschaftsministerin nichts entgegensetzen können – weil er dafür etwas anderes bekommen hat: sein nunmehr vom „Betriebsrätestärkungsgesetz“ zu einem „Betriebsrätemodernisierungsgesetz“ semantisch neutralisiertes Vorhaben, die Rechte derjenigen zu verbessern, die einen Betriebsrat gründen (wollen). Vgl. zu den Hintergründen ausführlicher die Beiträge Schafft er das vor dem „Nichts geht mehr“? Der Bundesarbeitsminister will Betriebsräte mit einem Stärkungsgesetz unter die Arme greifen vom 28.Dezember 2021 sowie Der Bundesarbeitsminister will Betriebsräte stärken, das Kanzleramt will das nicht bei den Mitbestimmungsrechten. Ein Update zum Entwurf eines Betriebsrätestärkungsgesetz vom 8. Januar 2021. Das nun hatte die noch regierende Koalition in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, aber bei der Umsetzung gab es Widerstand seitens der Union – und man ließ den Arbeitsminister zappeln mit seinem Entwurf. Nun hat man den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Betriebsratswahlen und der Betriebsratsarbeit in einer digitalen Arbeitswelt (Betriebsrätemodernisierungsgesetz) in einem Paket mit der neuerlichen Ausnahmeregelung die Saisonarbeitskräfte betreffend im Kabinett durchgewunken. Die Zustimmung zu dem einen war dann unauflösbar verbunden mit dem Bekommen des anderen. Insofern verwundert es nicht, wenn man auf den Seiten des BMAS nur diese „Erfolgsmeldung“ serviert bekommt: Bundeskabinett beschließt Betriebsrätemodernisierungsgesetz. Von den Erntehelfern fehlt hier jede Spur, die darf dann die Kollegin aus dem Bundesbauernministerium als ihren Erfolg verbuchen.

Fazit: Natürlich hat das eine – die „Modernisierung“ der Betriebsräte – nichts mit dem anderen – die Sonderregelungen die Erntehelfer betreffend – zu tun. Außer dass beide Huckepack durchs Kabinett gehievt wurden. Wenn man allerdings etwas über den Tellerrand hinausblickt, dann kann man schon einen Zusammenhang erkennen, denn ein strukturelles und großes Problem im Bereich der Erntehelfer ist natürlich darin zu sehen, dass hier die normalen Schutzfunktionen der Gewerkschaften und der betrieblichen Mitbestimmung nicht greifen, denn Betriebsräte gibt es hier nicht. Mit großen Anstrengungen bemühen sich die Gewerkschaften wie die IG BAU oder die Beratungsstelle Faire Mobilität, den Betroffenen vor Ort Hilfestellung anzubieten, aber das ist aus strukturellen Gründen einfacher geschrieben als getan.

Und was bedeutet nun die beschlossene Ausweitung der sozialversicherungsfreien Beschäftigung von 70 auf 102 Tage?

Das Bundeskabinett hat sich wie dargestellt geeinigt und nach Ostern muss sich der Bundestag damit beschäftigen. Man kann und muss davon ausgehen, dass die Koalitionsfraktionen das Ansinnen durchwinken werden. Der Beschluss bedeutet faktisch, dass osteuropäischen Erntehelfer auch dieses Jahr länger als normalerweise ohne reguläre Krankenversicherung arbeiten dürfen. »Bei dieser sogenannten „kurzfristigen Beschäftigung“ müssen Arbeiter laut der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) beispielsweise im Fall einer Corona-Erkrankung die Behandlungskosten mitunter selbst zahlen. Dabei bekommen sie meist nur den gesetzlichen Mindestlohn von 9,50 Euro die Stunde – oft minus Abzügen für Unterkunft und Verpflegung. Zudem würden der deutschen Sozialversicherung hohe Summen an Beiträgen verloren gehen«, so Jost Maurin in seinem Artikel Erntehelfer schlecht versichert. Nun wird der eine oder andere einwenden, dass doch die Arbeitgeberseite eine „Kompensation“ durch private Krankenversicherungen in Aussicht gestellt haben. Der Bauernverband dagegen begrüßte den Kabinettsbeschluss, dem der Bundestag noch zustimmen muss: „Es ist in der Praxis üblich, dass für versicherungsfrei beschäftigte ausländische Saisonkräfte ein private Krankenversicherung abgeschlossen wird.“

Dass die Betriebe für einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz der versicherungsfrei beschäftigten Saisonkräfte durch private Erntehelferversicherungen sorgen, wie die Arbeitsgemeinschaft der gärtnerischen Arbeitgeberverbände argumentiert, ist aber nur – aufgepasst – eine Empfehlung, der nicht alle folgen und oft deckt die private Versicherung auch nicht alles ab. So werden gerade die Kosten durch eine mögliche Corona-Infektion und eine damit verbundene Behandlung von vornherein in vielen Verträgen ausgeschlossen. Auch Jost Maurin geht auf diesen Punkt ein und nennt ein Beispiel: »Tatsächlich schließt zum Beispiel die Europa Versicherung AG in einem Vertrag für Erntehelfer Leistungen wegen „bei Versicherungsbeginn bestehenden und bekannten chronischen Erkrankungen … sowie für die in den letzten 3 Monaten vor Versicherungsbeginn behandelten Krankheiten“ aus.«

Das Argument mit der anderweitigen Absicherung der Erntehelfer wird auch vom Bundeslandwirtschaftsministerium aktiv aufgegriffen, wenn in der entsprechenden Pressemitteilung geschrieben wird: »Um sicherzustellen, dass kurzfristig Beschäftigte auch tatsächlich über eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall verfügen, soll für diese Beschäftigten eine Meldepflicht des Arbeitgebers zur Art der krankenversicherungsrechtlichen Absicherung des Arbeitnehmers eingeführt werden. Als privat krankenversichert soll ein kurzfristig Beschäftigter auch gelten, wenn er über seinen Arbeitgeber für die Zeit der Beschäftigung über eine private Gruppenversicherung abgesichert ist und dadurch die notwendige Versorgung im Krankheitsfall gewährleistet ist.« Und eine zweite als „Schutzvorschrift“ transportierte Regelung ist vorgesehen: »Zudem soll der Arbeitgeber zukünftig bei der Anmeldung einer kurzfristigen Beschäftigung bei der Minijobzentrale eine automatisierte Rückmeldung über Vorversicherungszeiten der Beschäftigten erhalten. So kann er beurteilen, ob die Zeitgrenzen für die kurzfristige Beschäftigung eingehalten wurden bzw. wann diese überschritten sind. Das schafft die notwendige Rechtssicherheit für die Arbeitgeber.« Zusammenfassend: Der Arbeitgeber soll verpflichtet werden, der Minijobzentrale zu melden, wie der Beschäftigte krankenversichert ist. Die Behörde muss dem Betrieb künftig auch automatisch mitteilen, ob die Aushilfe im selben Kalenderjahr schon mal kurzfristig beschäftigt war. Das würde verhindern, dass Arbeiter bei mehreren Betrieben solche Jobs länger als erlaubt ausüben.

Also, sogar eine Meldepflicht wird eingeführt – dann können doch die Betriebe nicht einfach wegen der Nur-Soll-Bestimmung einfach die (wenn auch fragile) Absicherung umgehen. Ja, aber … Wie immer muss man das Kleingedruckte zur Kenntnis nehmen: Diese beiden Meldepflichten gelten aber erst ab Januar 2022, so eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums. Wie praktisch, dann ist der deutsche Spargel des Jahres 2021 aber sowas von gegessen und die Erntehelfer wieder zurück in Polen oder Rumänien.

Polen oder Rumänien? Die Leute in diesen Ländern werden aber auch immer anspruchsvoller und auf sie ist immer weniger Verlass bei den alljährlichen Klimmzügen den deutschen Spargel & Co. zu retten.

Go (noch weiter) East!

»Die Spargelernte war jahrelang eine Co-Produktion polnischer und rumänischer Helfer. Doch viele von ihnen wollen nicht mehr auf deutschen Feldern schuften. Arbeitskräfte aus Georgien sollen einspringen«, berichtet Ulrich Crüwell in seinem Artikel Erntehilfe kommt diesmal aus Georgien. Und was dort als Beispiel geschildert wird, ist höchst lehrreich und verdeutlicht zugleich, dass es auch in diesem Schattenland der prekären Beschäftigung höchst unterschiedliche Hierarchien gibt, die sich herausgebildet haben:

»Heutzutage würde er nicht mehr nach Deutschland kommen, sagt Christof Kamedulski. Doch vor zwanzig Jahren war die wirtschaftliche Situation in seiner polnischen Heimat eine gänzlich andere. Damals habe er kaum eine andere Wahl gehabt, als sich in Deutschland als Spargelstecher zu verdingen. Für Polen wie ihn hat sich die Situation verbessert – auch auf hiesigen Spargelhöfen. „Wir machen die Logistik“, sagt Kamedulski, der zum fest angestellten Vorarbeiter aufgestiegen ist. Die harte Feldarbeit haben rumänische Frauen und Männer übernommen. Doch wie lange die sich das noch antun werden, ist eine Frage, die Spargelanbauer wie Jürgen Jakobs umtreibt. „Wir sind für Rumänen keine attraktiven Arbeitgeber mehr“, sagt der Verbandsvorsitzende der ostdeutschen Spargelanbauer. Denn mehr als den Mindestlohn von 9,50 Euro pro Stunde könnten er und seine Kollegen nicht zahlen.«

Also nicht mal mehr für die Rumänen sei man „attraktiv“. Die Lösung liegt nahe und zugleich ziemlich weit weg: Georgien. »Zunächst sei geplant gewesen, dass 500 Arbeitskräfte aus Georgien nach Deutschland kommen. Daraus seien mehr als 5.000 geworden«, berichtet Jürgen Jakobs von den ostdeutschen Spargelbauern. Und dahinter steht ein „wunderbares“ Potenzial, garniert mit einer weiteren staatlichen Hilfestellung: »Mehr als 80.000 Georgier hätten sich beworben, so der Landwirt. Dabei handele es sich um ein Pilotprojekt der Bundesagentur für Arbeit. Die Behörde kümmert sich um die Arbeitsverträge und auch die Anreise.« Was für ein Potenzial für die Zukunft, wo man doch ärgerlicherweise Geld in die Hand nehmen muss, um beispielsweise die Rumänen, die noch wollen, nach Deutschland zu bringen (der eine oder andere wird sich an das vergangene Jahr erinnern, als Flüge nach Deutschland organisiert und – schmerzhaft für die Kasse – bezahlt werden mussten). Aber auch hier kommt Hoffnung auf, wenn man den Blick weiter nach Osten richtet: »Die Georgier dagegen, die in den kommenden Tagen ins Flugzeug nach Deutschland steigen, sind da anspruchsloser: Sie bezahlen ihre Flüge selber.«