Von einem „schlechten Tag für die Pflege“ über die absehbare Festschreibung eines weitgehend tariffreien Geländes bis hin zu den gefährlichen Untiefen „ortsüblicher Löhne“. Anmerkungen zum Arbeitsentwurf für ein Pflegereformgesetz

„Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, hat mit Enttäuschung auf die heutige Ent­­­scheidung der Caritas gegen einen Pflegetarifvertrag reagiert“, meldet das Ministerium am 25. Februar 2021 unter der Überschrift „Heute ist ein schlechter Tag für die Pflege“ und verlinkt dazu ein Video mit dem Statement des Ministers. Die Hintergründe dieser Entscheidung und die massive Kritik daran ist in diesem Beitrag vom 7. März 2021 ausführlich dargestellt worden: Was für ein unheiliges Desaster: Die katholische Caritas blockiert den Weg zu einem allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag für die Altenpflege, die Verbände der privatgewerblichen Arbeitgeber freuen sich und die Pflegekräfte ganz unten bleiben unten. Seitdem erlebt vor allem die Caritas (die evangelische Diakonie hatte lediglich das „Glück“, dass sie einen Tag nach der Arbeitsrechtlichen Kommission der Katholiken hätte entscheiden und Farbe bekennen müssen, worauf sie dann wegen der Caritas-Ablehnung „verzichtet“ und sich in die Büsche geschlagen hat) einen heftigen Gegenwind, worüber man sich nun auf Seiten des Verbandes pikiert, „betroffen“ und „empört“ zeigt.

In den Argumentationsversuchen der Caritas-Spitze wird nun immer wieder ein Strang erkennbar, der auf das „Bedrohungspotenzial“ für die eigenen, (angeblich) doch viel besseren Löhne in den katholischen Pflegeeinrichtungen abstellt. Danach bestände die Gefahr, dass es irgendwann einmal seitens der „Kostenträger“, also konkret der Pflegekassen, in den Preisverhandlungen eine Bezugnahme auf den einen, dann allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag geben würde, so dass dann die höheren Vergütungen in den anderen Einrichtungen nicht mehr gegenfinanziert werden (können).

Zugleich wird von denen, die versuchen, die Ablehnung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags mit Mindeststandards (denn um mehr ging es nicht) zu verteidigen, immer wieder darauf hingewiesen, dass es schon heute schwer sei, höhere Löhne für Pflegekräfte (die natürlich auch höhere Kosten zu Folge haben, die dann in den mit jeder Einrichtung zu vereinbarenden Versorgungsverträge bei den einrichtungsindividuellen Pflegesätzen anerkannt werden müssen) refinanziert zu bekommen. Nun muss man, auch wenn es jetzt kompliziert wird, die Dinge auseinanderhalten. Denn ein Blick in die Praxis zeigt oder scheint zu zeigen: Das Argument der unsicheren Finanzierung höherer Löhne durch die Kostenträger ist nicht von der Hand zu weisen. Darüber wird immer wieder berichtet – und aus dieser Erfahrung und Perspektive ist es erst einmal nicht unschlüssig, dass die Gefahr besteht, dass die Pflegekassen, sobald es einen niedrigeren Pflegetarif gibt, eben auch nur diesen zur Vereinbarung der Pflegesätze zugrunde legen würden. Und dass die, die besser bezahlen, im Regen stehen gelassen werden (was sie aber, wenn denn die Kritik richtig ist, heute schon erfahren).

Man muss die Dinge in einem ersten Schritt voneinander trennen: Das eine hat nur bedingt bis gar nichts mit dem anderen zu tun, am Ende dann aber doch. Aber eben erst in einem zweiten Schritt. Aus der aktuellen Situation heraus spricht nichts gegen die Zustimmung der sowieso außerhalb des Spielfeldes stehenden konfessionell gebundenen Träger von Pflegeeinrichtungen zu einem allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag mit höheren Standards als das, was über eine Pflegemindestlohnkommission als Branchen-Mindestlöhne festgelegt wurde und wird. Denn angeblich liegen die heute schon gezahlten Gehälter über dem, was die Gewerkschaft ver.di mit einer kleinen Gruppe an Arbeitgebern aus dem gemeinnützigen Bereich vereinbart hat, obgleich das für die vielen Pflegekräfte, die in den tariffreien Zonen der privatgewerblichen Anbieter unterwegs sind, eine teilweise erhebliche Verbesserung zum Ist-Zustand bedeuten würde. Man würde dann ja nur die Lücke zwischen ganz unten und der Welt der kirchlichen Regelwerke etwas verkleinern. Aber die nun so vehement beklagte „Finanzierungslücke“ für die Pflegeeinrichtungen, die heute schon besser bezahlen, ist davon erst einmal unbenommen, dieses Problem, sollte es denn von Einzelfällen in größerem Umfang bestehen, würde sich ja nicht dadurch ändern, dass jetzt die Einrichtungen, die bislang deutlich niedrigere Löhne zahlen, etwas weniger niedrigere Löhne zahlen müssten. Das verweist auf die Mechanik und die politische Gestaltung der konkreten Aushandlung der Refinanzierung in Verhandlungen über Versorgungsverträge, nicht aber auf ein Problem des nunmehr gescheiterten Tarifvertrags für die Altenpflege an sich.

Es wurde bereits berichtet, dass es auch aus den eigenen katholischen Reihen erheblichen Widerspruch gab zu der Ablehnungsentscheidung der Caritas-Kommission (und man muss an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Arbeitnehmervertreter in der Kommission für den Tarifvertrag gestimmt haben, der dann aber an den sogenannten „Dienstgebern“, also der „christlichen“ Arbeitgeberseite gescheitert ist). Darunter beispielsweise dieser bemerkenswerte Aufruf von 17 Professorinnen und Professoren aus der Christlichen Sozialethik :

➔ Sozialethische Stellungnahme zur Weigerung der Caritas, einem einheitlichen Tarifvertrag Altenpflege zuzustimmen, 04.03.2021

Darin finden wir neben vielen anderen wichtigen Punkten diese Argumentation: »Durch die neue Rechtsverordnung auf der Grundlage des von Ver.di und BVAP vereinbarten Tarifvertrags würde schließlich auch nicht ausgeschlossen, dass einzelne Anbieter ihre aufgrund eigener Tarifsysteme besseren Arbeitsbedingungen und höheren Zahlungen in Pflegesatzverhandlungen vertreten. Gemäß § 84 Abs. 2 SGB XI dürfen ihre dadurch entstehenden höheren Kosten nicht als unwirtschaftlich gelten und müssen daher – abgesehen vom Eigenanteil der Pflegebedürftigen – öffentlich refinanziert werden.«

Der genannte § 84 SGB XI ist mit „Bemessungsgrundsätze“ überschrieben und bezieht sich dabei auf die Pflegesätze, also die Entgelte der Heimbewohner oder ihrer Kostenträger für die teil- oder vollstationären Pflegeleistungen des Pflegeheims sowie für die Betreuung und für die medizinische Behandlungspflege. Der § 84 Abs. 2 SGB XI statuiert: „Die Pflegesätze müssen leistungsgerecht sein.“ Was nun genau „leistungsgerecht ist, darüber wird seit langem gestritten. Aber dann heißt es in dem gleichen Absatz des Paragrafen weiter – und darauf beziehen sich die Sozialethiker in ihrer Stellungnahme:

»Die Pflegesätze müssen einem Pflegeheim bei wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen, seine Aufwendungen zu finanzieren und seinen Versorgungsauftrag zu erfüllen unter Berücksichtigung einer angemessenen Vergütung ihres Unternehmerrisikos. Die Bezahlung von Gehältern bis zur Höhe tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen kann dabei nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden. Für eine darüber hinausgehende Bezahlung bedarf es eines sachlichen Grundes. Überschüsse verbleiben dem Pflegeheim.«

Man muss allerdings genau lesen – und deshalb ist das auch kein Widerspruch zu der von anderer Seite vorgetragenen Kritik an der Nicht-Anerkennung höherer Kosten in Pflegesatzverhandlungen: Die Vorschrift im § 84 Abs. 2 SGB XI besagt nicht, dass die Gehälter nach einem Tarif oder den kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien refinanziert werden, sondern dass die eine Verhandlungsseite, also die Kostenträger, in einer konkreten Verhandlung nich per se höhere Kosten aufgrund einer tarifvertraglichen oder gleichgestellten Regelung der Kirchen als „unwirtschaftlich“ zurückweisen kann (das war in der Vergangenheit das Strukturproblem, was natürlich einen Angleichungsdruck nach unten ausgelöst hat, weil man sich an den unteren Kosten, die faktisch durch eine niedrige Bezahlung generiert wurden, orientiert und die weitergegeben hat). Aber andersherum wird auch ein Schuh daraus: Die Regelung bedeutet nicht, dass die Einrichtungen die Kosten auch tatsächlich erstattet bekommen müssen, das gibt die Vorschrift nicht her.

Man muss auf den § 72 SGB XI schauen: „Zulassung zur Pflege durch Versorgungsvertrag“ und der dort normierte Lohnbezug

Neben dem angesprochenen § 84 SGB XI gibt es einen vorgelagerten Paragrafen, der bei unserem Thema hier höchst relevant ist: der § 72 SGB XI, überschrieben mit „Zulassung zur Pflege durch Versorgungsvertrag“. Die Pflegekassen dürfen Pflege nur durch solche Pflegeeinrichtungen gewähren, mit denen ein Versorgungsvertrag besteht (§ 72 Abs. 1 SGB XI). Versorgungsverträge wiederum dürfen nur mit Einrichtungen geschlossen werden, die die in § 72 Abs. 3 SGB XI genannten Voraussetzungen erfüllen.

Und im § 72 Abs. 3 SGB XI findet man unter der Nummer 3 diese Vorschrift: Versorgungsverträge dürfen nur mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden, die »… eine in Pflegeeinrichtungen ortsübliche Arbeitsvergütung an ihre Beschäftigten zahlen, soweit diese nicht von einer Verordnung über Mindestentgeltsätze aufgrund des Gesetzes über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz) erfasst sind.«

Da ist sie, die Formulierung „ortsübliche Vergütung“. Das hört sich genauer an, als es in der Praxis ist. Aber vorher der Hinweis, dass diese Formulierung schon seit einigen Jahren im Gesetz steht und durchaus zu verstehen ist als eine Reaktion auf die frühere Kritik an den Lohndumping-Prozessen in der Altenpflege über das Instrument der Pflegesatzverhandlungen. Dazu aus einem Beitrag, der bereits 2009 veröffentlicht wurde – übrigens in der Fachzeitschrift des Caritas-Verbandes (vgl. Andreas Hänlein: Ortsübliche Vergütung ist schwer zu ermitteln, 2009):

Die Vorschrift, dass ambulante und stationäre Pflege auf Kosten der Pflegeversicherung nur noch in solchen Einrichtungen stattfinden darf, die ihre Beschäftigten „ortsüblich“ vergüten, wurde mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz 2008 eingeführt. Der Gesetzgeber hat damals die Aufnahme dieser neuen Voraussetzung für den Abschluss von Versorgungsverträgen damit begründet, dass durch den Ausschluss von Anbietern, die nicht mindestens die ortsübliche Vergütung zahlen, ein massiver Qualitätsverlust in Pflegeeinrichtungen verhindert werden soll. „Unverkennbar ist, dass hinter der neuen Regelung auch das Anliegen steht, Dumpinglöhne in der Pflege zu verhindern“, so Hänlein in seinem Beitrag aus dem Jahr 2009.

Das Ziel und eine allgemeine Vorschrift sind das eine, das andere sind die ganz praktischen Fragen: Beispielsweise die Frage, was unter einer „in Pflegeeinrichtungen üblichen Arbeitsvergütung“ zu verstehen ist. Für den Fall, dass das regionale Vergütungsgeschehen nicht maßgeblich von tariflichen Regelungen geprägt ist, ist nach der Begründung des Gesetzentwurfs auf das „allgemeine Lohnniveau“ abzustellen. Was ist das genau? Hänlein zitiert aus der Antwort der damaligen Bundesregierung auf eine Anfrage dazu diesen Satz: „Dieses allgemeine Lohnniveau wird in Anlehnung an den statistisch ermittelten Durchschnitt der vor Ort geltenden Löhne bestimmt.“ Zu diesem Konkretisierungsvorschlag merkt er kritisch an: »Schwierigkeiten bereitet er vor allem deshalb, weil der statistische Durchschnittslohn sprachlich kaum als der übliche Lohn bezeichnet werden kann, denn der rechnerische Durchschnitt sagt nichts darüber aus, wie viele Arbeitnehmer(innen) tatsächlich Löhne in dieser Höhe erhalten.« Er hat damals zugleich einen Lösungsvorschlag unterbreitet: »Diese Schwierigkeit lässt sich einigermaßen plausibel überwinden, wenn man sich auf einen Prozentsatz des Durchschnittslohnes verständigt – beispielsweise auf 90 Prozent – der nicht unterschritten werden soll. Bei dieser Verfahrensweise wäre es sehr wahrscheinlich, dass eine deutliche Mehrheit der Arbeitnehmer(innen) mehr verdient, als der Grenzwert angibt. Davon ausgehend könnte man sagen, ein Lohnsatz unter diesem Niveau sei nicht ortsüblich.« Aber es ergeben sich sogleich Folgefragen: Ist der Durchschnittslohn tatsächlich der richtige Maßstab? Müsste man nicht eher den Medianwert nehmen? Um nur eine Fragestellung zu erwähnen. Bis hin zu der eben nicht trivialen Aufgabe, die regionalen Durchschnittslöhne überhaupt genau ermitteln zu können.

Davon abgesehen: Die bis heute im Gesetz stehende Normierung mit der „ortsüblichen Arbeitsvergütung“ bedeutet natürlich, dass es in vielen Regionen, in denen der Alltag der Beschäftigten in Pflegeeinrichtungen durch eine dominante Marktposition nicht-tarifgebundener (und auch in absehbarer Zukunft nun keinem allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag unterworfenen) Betreiber von Pflegeeinrichtungen und -diensten geprägt wird, dass sich das daraus ergebende niedrige Arbeitsentgelt als eben „ortsübliche“ Vergütung darstellt und aufgrund der Aufnahme in den § 72 SGB XI die Voraussetzung für den Abschluss eines Versgungsvertrages erfüllt.

Aber das soll doch Geschichte werden? In Zukunft soll eine Vergütung nach Tarif Voraussetzung für einen Versorgungsvertrag werden. Oder?

Nun könnte der eine oder andere an dieser Stelle erst einmal zu Recht einwerfen, dass das in Zukunft dahingehend beseitigt werden soll, als dass eine Vergütung nach Tarif Voraussetzung werden soll, um diese Versorgungsverträge abschließen zu können. Dazu muss man sich in das nunmehr vergangene Jahr zurück versetzen. Im November 2020 wurde aus dem Bundesgesundheitsministerium diese Eckpunkte für die anstehende Reform der Pflegeversicherung bekannt:

➔ Bundesministerium für Gesundheit (2020): Pflegeversicherung neu denken: Eckpunkte der Pflegereform 2021, Berlin, 04.11.2020

Und dort findet man auf der Seite 3 diese Zielsetzung:

»Die Entlohnung entsprechend Tarif für ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen soll künftig Voraussetzung für die Zulassung zur Versorgung werden.«

Voila, weg ist die „ortsübliche Vergütung“. Das war im November 2020. Nun schreiben wir März 2021 und aus dem Bundesgesundheitsministerium erreicht uns deutlich konkreter als Eckpunkte sein können ein „Arbeitsentwurf“, wie der Gesetzgeber vorgehen sollte:

➔ Bundesministerium für Gesundheit (2021): Arbeitsentwurf. Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Pflegeversicherung (Pflegereformgesetz), Stand: 12.03.2021

Da lohnt der genauere Blick in den Entwurf, konkret in den Vorschlag, den § 72 SGB XI betreffend. Nach dem vorliegenden Arbeitsentwurf soll im § 72 SGB XI der folgende Absatz 3a aufgenommen werden (S. 37f. des Arbeitsentwurfs):

»Ab dem 1. Juli 2022 dürfen Versorgungsverträge nur mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen sein, die ihren als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Beschäftigten im Pflege- und Betreuungsbereich eine Entlohnung zahlen, die in Tarifverträgen oder kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen, an die die Pflegeeinrichtungen gebunden sind, vereinbart ist. Mit Pflegeeinrichtungen, die nicht an Tarifverträge oder kirchliche Arbeitsrechtsregelungen gebunden sind, dürfen Versorgungsverträge abgeschlossen werden, wenn sie ihren Beschäftigten im Pflege und Betreuungsbereich eine Entlohnung zahlen, die die Höhe der Entlohnung ei nes räumlich, zeitlich, fachlich und persönlich anwendbaren Tarifvertrags nicht unterschreitet. Für kirchliche Pflegeeinrichtungen ist im Falle von Satz 2 auch die Zahlung einer Entlohnung, die die Höhe anwendbarer kirchlicher Arbeitsrechtsregelungen nicht unterschreitet, zulässig. Im Falle des Fehlens anwendbarer Tarifverträge oder soweit diese nicht auf alle Beschäftigten im Pflege- und Betreuungsbereich einer Pflegeeinrichtung anwendbar sind, ist eine ortsübliche Entlohnung zu zahlen.«

Es ist unschwer zu erkennen – weg ist die schlanke Formulierung, dass „ein Tarif“ Voraussetzung ist für einen Versorgungsvertrag – und die „ortsübliche Entlohnung“ ist wieder drin.

Sofort hat sich der Deutsche Caritasverband zu Wort gemeldet: »Entwurf für eine Pflegereform bleibt in wichtigen Punkten hinter den Erwartungen zurück«, so eine Pressemitteilung unter der Überschrift Tarifbindung darf keine Mogelpackung sein, die am 16.03.2021 veröffentlicht wurde. Zutreffend die Diagnose: »Der Mechanismus der Tarifbindung, der Pflegekräfte vor Dumpinglöhnen schützen soll, ist gegenüber früherer Ankündigungen stark aufgeweicht.« Caritas-Präsident Peter Neher wird mit diesen Worten zitiert: „Wir erwarten eine Tarifbindung, die diesen Namen verdient – sprich: Wer keine Tarifbindung vorweisen kann, darf nicht am Markt agieren … und eine solche Regelung wurde vom Bundesgesundheitsminister seit einem halben Jahr angekündigt. Auch private Arbeitgeber müssen verpflichtet werden, faire Löhne zu zahlen. „Die Tarifbindung muss ohne Wenn und Aber gelten. Eine Aushöhlung durch den Verweis auf ein ‚ortsübliches Entlohnungsniveau‘, wie jetzt im Entwurf zu lesen ist, ist nicht akzeptabel,“ so Neher. Nicht zuletzt sei völlig unklar, wie dieses zu bestimmen ist. „Bleibt es bei dieser Regelung, ist die Tarifbindung ein Etikettenschwindel,“ so Neher. „Das können wir nicht hinnehmen“.«

Bereits einen Tag vorher, am 15.03.2021, hat sich die Gewerkschaft ver.di ebenfalls kritisch zu Wort gemeldet: ver.di: Gesetzentwurf zur Pflegereform bringt keine höheren Löhne: »Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) kritisiert den Arbeitsentwurf für eine Gesetzesänderung zur Pflegeversicherung aus dem Bundesgesundheitsministerium, mit der vorgeblich eine Besserbezahlung von Pflegepersonen erreicht werden soll, als völlig unzureichend. „Dieser Entwurf ist einfach nur dreist. Oberflächlich wird der Eindruck erweckt, als würde der Versorgungsvertrag an faire Löhne gebunden. Tatsächlich wird damit aber weder ein Beitrag zur Verbesserung der Einkommen noch sonstiger Arbeitsbedingungen in der ambulanten und stationären Pflege geleistet,“ kritisierte Sylvia Bühler, Mitglied im ver.di-Bundesvorstand, die geplanten Regelungen scharf. „Ein solch unzulängliches Gesetz wäre überhaupt kein Ersatz für den Tarifvertrag, der auf die gesamte Altenpflege erstreckt werden sollte, aber vorerst an der Caritas gescheitert ist.“«

Und weiter: »Der Regelungsentwurf werfe zudem zahlreiche Fragen und Probleme auf. Damit werde nicht verhindert, dass Pseudo-Gewerkschaften mit Pflegeanbietern billige Gefälligkeitstarifverträge abschließen, wie das auch schon in der Vergangenheit der Fall sei, so Bühler weiter. Der Entwurf sei zudem voller Schlupflöcher; wenn kein Tarifvertrag herangezogen werden könne, solle auf ortsübliche Entlohnung zurückgegriffen werden. „Damit dreht man sich im Kreis, weil vielerorts die Löhne aktuell ja nur auf dem unzulänglichen Niveau des Pflegemindestlohnes liegen,“ so Bühler.«

Aber das war noch nicht alles – das am Anfang dieses Beitrags zitierte Argument aus dem Caritas-Lager, dass ein allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag für die Altenpflege zu einer Bedrohung für die (angeblich) höheren Löhne tarifvertraglich oder nach kirchlichem Arbeitsrecht vergüteter Anbieter werden kann, wird nun seitens der Gewerkschaft offensichtlich bestätigt – und das, obwohl der geplante Tarifvertrag Altenpflege doch aufgrund der fehlenden Zustimmung aus dem kirchlichen Lager gescheitert ist. Die Gewerkschaft schreibt dazu:

»Noch dazu sei die gesicherte vollständige Refinanzierung von tarifvertraglich vereinbarten Gehältern sowie entsprechende Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen gefährdet. Hier soll künftig geprüft werden, ob diese eine nach ortsüblichen Maßstäben wirtschaftliche Entlohnungsstruktur vorsehen. Das sei völlig inakzeptabel. Tariflöhne müssten weiterhin immer als wirtschaftlich gelten, so Bühler.«

Das wäre ja ein Rückschritt zu heute, wenn das so stimmen sollte. Da hilft nur ein Blick in das Original, also den Arbeitsentwurf aus dem Hause Spahn (CDU) – und wir werden fündig auf der Seite 38 des Entwurfs. Dazu muss man wissen, dass neben den bislang hier behandelten § 72 und 84 SGB XI gibt es auch noch den § 82 SGB XI, der unter der höchst relevanten Überschrift „Finanzierung der Pflegeeinrichtungen“ steht. Dort sind die unterschiedlichen anteiligen Finanzierungssäulen normiert, aus denen dann auch die Eigenanteile für die Pflegebedürftigen abgeleitet werden. Im Arbeitsentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium finden wir nun diesen Hinweis:

Nach § 82b wird folgender (neuer) § 82c zusätzlich eingefügt:

㤠82c Wirtschaftlichkeit von Personalaufwendungen

(1) Ab dem 1. Juli 2022 darf

1. bei tarifgebundenen oder an kirchliche Arbeitsrechtsregelungen gebundenen Pflegeeinrichtungen eine Entlohnung der Beschäftigten bis zur Höhe der aus dieser Bindung resultierenden Vorgaben oder
2. bei allen anderen Pflegeeinrichtungen eine Entlohnung der Beschäftigten bis zur Höhe der Entlohnung eines räumlich, zeitlich, fachlich und persönlich anwendbaren Tarifvertrags

nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden, wenn der Tarifvertrag oder die
kirchliche Arbeitsrechtsregelung, nach der oder nach dem entlohnt wird, eine nach ortsüblichen Maßstäben wirtschaftliche Entlohnungsstruktur vorsieht. Für eine darüber hinausgehende Entlohnung der Beschäftigten bedarf es eines sachlichen Grundes.“

Das muss man sich mal klar vor Augen führen: Über die Formulierung „wenn der Tarifvertrag oder die kirchliche Arbeitsrechtsregelung, nach der oder nach dem entlohnt wird, eine nach ortsüblichen Maßstäben wirtschaftliche Entlohnungsstruktur vorsieht. Für eine darüber hinausgehende Entlohnung der Beschäftigten bedarf es eines sachlichen Grundes“ schreibt man einfach rein, dass in Zukunft „eine nach ortsüblichen Maßstäben wirtschaftliche Entlohnungsstruktur“ der Bezugspunkt für die Nicht-Anerkennung der Wirtschaftlichkeit darstellt – auch, wenn es sich um tarifvertragliche Regelungen handelt, die höher angesiedelt sind.

Das gilt dann – wenn das Gesetz werden würde – auch für die kirchlich getragenen Einrichtungen, die doch angeblich gerade verhindert haben, dass ein allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag mit etwas höheren Mindestentgelten als den Mindestlohnsätzen das Licht der Welt erblicken kann, weil man befürchtet, irgendwann einmal könnte das der Bezugspunkt werden für die „Kostenträger“.

Wenn dieser Arbeitsentwurf an dieser Stelle so bleibt, dann wird man tatsächlich eine Orientierung an den „ortsüblichen Maßstäben“ bekommen – und die sind in vielen Regionen eben Verhältnisse in Einrichtungen und Diensten von privatgewerblichen Trägern, die frei von irgendwelchen Tarifverträgen weiter agieren können, denn auch die Tarif-Voraussetzung wird mit dem Entwurf aus dem hause Spahn abgeräumt.

Das wäre aus Sicht der kirchlichen Verbände ein wirklich „tolles Ergebnis“ – man hätte sich doppelt ins Knie geschossen, weinmal wegen des enormen Image-Schadens, den man sich durch die Ablehnung des Tarifvertrags eingehandelt hat und dann auch noch durch eine die heutige beklagte Situation sogar noch verschlechternde Regelung seitens des Gesetzgebers.

Wobei man da natürlich darauf hinweisen muss, dass es sich um einen „Arbeitsentwurf“ handelt, der hoffentlich noch korrigiert wird, bevor er überhaupt den Status eines Gesetzentwurfs annehmen wird.

Aber auf alle Fälle ist dieser wirklich dreiste Versuch ein weiteres Beispiel, dass man in Teilen der Politik die Pflege, hier die Altenpflege, nicht für voll nimmt und offensichtlich noch einen weiteren Schlag ins Gesicht der Pflegekräfte platziert. Gleichzeitig werden die feuchten Träume der privatgewerblichen Arbeitgeber in der Pflege, die weiter in ihrem tarifpolitischen Wilden Westen herumreiten wollen, demütigst von Teilen der Ministerialbürokratie sicherlich auf Druck der politischen Führung – also von Jens Spahn – in die anstehende Pflege“reform“ eingebaut. Jens Spahn kümmert sich nicht nur aufopferungsvoll um Apotheker (vgl. dazu als neuestes Beispiel für die Schildbürgerstreiche des Ministers den Beitrag „Dumm und dämlich verdient“, in dem berichtet wird, mit welchen Geldsegen die Apotheker bei der Verteilung der „kostenlosen“ FFP2-Masken auf Anweisung des Ministers höchstpersönlich beglückt worden sind), sondern er sorgt sich auch um bestimmte Arbeitgeber in der Pflege. Aber er kümmert sich nicht um die Pflegekräfte, vor allem nicht um die, die ganz unten sind. Pech gehabt. Und außerdem wehren sie sich ja auch nicht. Und spenden tun sie dem Minister auch nicht.