„Generation Corona“? Auf alle Fälle ist man immer auch Gefangener seiner Kohorte, vor allem bei den Einstiegen und Übergängen in Ausbildung und Erwerbsarbeit

In den Medien wird seit längerem immer wieder diskutiert, ob man es mit einer „Generation Corona“ zu tun hat (bzw. haben wird). Gerade in diesen Tagen wird von ganz unterschiedlichen Seiten massiv auf angebliche oder tatsächliche Schäden für Kinder und Jugendliche berichtet aufgrund der Exklusion durch die Lockdowns, wobei große Teile der Debatte fokussiert sind auf die institutionelle Seite, also die (Nicht-)Öffnung der Kitas und der Schulen. Dabei erfahren viele junge Menschen erhebliche Beeinträchtigungen auch und gerade im außerschulischen Bereich, man denke hier an den Vereinssport und andere elementare soziale Aktivitäten, die teilweise seit einem Jahr brach liegen müssen.

Und ein Strang der „Generation Corona“-Debatte konzentriert sich auf die Folgen der Pandemie und des Umgangs mit ihr für das Ausbildungssystem, ob nun im dualen, fachschulischen oder im hochschulischen Bereich. Und auf die Frage, ob die davon betroffenen jungen Menschen nicht nur jetzt Schwierigkeiten haben, sondern man über die Krise hinaus mit Schäden an den Biografien rechnen muss. Mit diesem Thema beschäftigt sich die Sendung des Wirtschaftsmagazins „makro“ (3sat) am 2. März 2020, die den Titel trägt: Generation Corona – wie steht es um ihre Zukunft? »Verpasster Lernstoff, fehlende Praktika, weniger Ausbildungsplätze – viele Schüler und Azubis stehen vor großen Herausforderungen. Kurz vor dem Sprung „in den Ernst des Lebens“ wird die Generation Corona in ihrer Zukunftsplanung ausgebremst. „Je länger die Krise andauert, so gravierender sind ihre Auswirkungen auf Bildung, Gesundheit, Ernährung und Wohlbefinden der Kinder. Die Zukunft einer ganzen Generation ist in Gefahr“, warnt UNICEF. Und das ifo-Institut rechnet aus, dass genau auf diese Generation 3,3 Billionen Euro Kosten durch den Schulausfall zurollen könnten. Eine einfache Rechnung: Bildungsausfall gleich Lohnausfall im späteren Berufsleben. Doch wie steht es wirklich um die Chancen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die jetzt auf den Arbeitsmarkt starten. Schule fertig und dann?«

Zu der Sendung gab es ein Vorabinterview des ZDF, das am 1. März 2021 veröffentlicht wurde: „Der Effekt ist leider eindeutig“: »Wer unter Corona-Bedingungen ins Berufsleben startet, hat es doppelt schwer. Und, sagt Arbeitsmarktexperte Prof. Stefan Sell, die Nachteile werden nicht nur vorübergehend sein.«

Hier das Interview im Wortlaut:

makro: Kann man bereits beziffern, was die Start-Schwierigkeiten der „Generation Corona“ die Gesellschaft am Ende kosten?

Stefan Sell: Zwei notwendige Vorbemerkungen: Man sollte sehr vorsichtig sein, von einer „Generation Corona“ zu sprechen. Dies zum einen deshalb, weil hier eine Gesamtbetroffenheit eines Kollektivs behauptet wird, die scheinbar naheliegend, tatsächlich aber irreführend ist.

Das kann man verdeutlichen, wenn man sich die allgemeine Arbeitsmarktdebatte anschaut, denn dort wird auch eine „Wir sitzen alle in einem Boot“-Erzählung vorgetragen, die aber verdeckt, dass wir es mit einer die bereits vor Corona vorhandenen Ungleichheiten verstärkenden Polarisierung zu tun haben.

Die eine Hälfte kann sich trotz aller möglichen Unannehmlichkeiten und Spannungen bei der praktischen Ausgestaltung (was wiederum von den Wohnverhältnissen und anderen Parametern abhängt) zurückziehen in „sichere“ Heimarbeit und damit verbundene Kontakt- und Risikoreduzierung, während die Millionen Arbeitnehmer der anderen Hälfte mit überwiegend unterdurchschnittlichen bis sehr niedrigen Löhnen gar keine Option auf Home Office haben, sondern mit dem öffentlichen Personennahverkehr zu sehr risikobelasteten Arbeitsplätzen fahren müssen, wo sie am Anfang der Krise als „systemrelevante“ Berufe einen Moment lang gefeiert wurden.

Die hier angedeuteten Spaltungslinien finden wir natürlich auch bei den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Zum anderen muss man die individuelle Ebene berücksichtigen. Es gibt bei den jungen Menschen, wenn wir an die soziale Isolation und das Distanzlernen denken, viele Einzelschicksale, die damit schwer oder gar nicht klar kommen und die unter der Krise leiden und auch letztendlich nicht wieder in Gänze korrigierbare Schäden für ihren weiteren Lebensweg erleiden werden, während andere unter den schwierigen Bedingungen dennoch relativ unbeschadet, aus einer späteren Perspektive vielleicht sogar gestärkt – aufgrund der Bewältigungserfahrungen – aus der Krise herauskommen werden.

Ihre Frage, was das „die Gesellschaft“ am Ende kosten wird, kann man nicht wirklich seriös beantworten. Was wir aus vergangenen Krisen, die aber alle hinsichtlich der Tiefe und der Intensität nur partiell mit dem zu vergleichen sind, was wir gegenwärtig erleben müssen, wissen: Es gibt wohl lebenslange, tendenziell negative Folgewirkungen für die Jahrgänge, die in der Krise an Übergangspunkten waren, also von der Schule in eine Ausbildung/Studium oder am Ende einer Ausbildung der Übergang in den Arbeitsmarkt.

Eine scheinbar konkrete Antwort auf Ihre Frage nach den Kosten liefern beispielsweise Bildungsökonomen wie Ludger Wößmann und andere: In der empirischen Wirtschaftsforschung gibt es kaum robustere Befunde als den positiven Einfluss von Schulbesuch und Kompetenzerwerb auf wirtschaftlichen Wohlstand. Geht etwa ein Drittel eines Schuljahres an Lernen verloren, so geht dies über das gesamte Berufsleben gerechnet im Durchschnitt mit rund 3 bis 4 Prozent geringerem Erwerbseinkommen einher, so ein Beispiel.

Scheinbar deshalb, weil ich den Eindruck habe, hier wird eine Zahlengenauigkeit präsentiert, die angesichts der vielen ineinandergreifenden Faktoren als „mutig“ charakterisiert werden muss.

makro: Es ist nicht lange her, da beklagten alle den Fachkräftemangel. Legt die Corona-Krise gerade den Grundstein für einen Fachkräftemangel 2.0?

Sell: Vor Corona gab es den vieldiskutierten Befund, dass wir im Kontext einer langjährig hervorragenden Arbeitsmarktentwicklung in einen teilweise massiven Fachkräftemangel gerutscht sind. Dieser hat neben der allgemeinen demografischen Entwicklung mit den Strukturproblemen unseres ansonsten vielgelobten Berufsausbildungssystems zu tun.

Der Fachkräftemangel manifestiert sich zunehmend auf der Ebene der mittleren Qualifikationen – bei den Facharbeitern, den Handwerkern, in den Gesundheits- und Sozialberufen, die überwiegend oder ausschließlich in der dualen oder fachschulischen Ausbildung qualifiziert werden.

Vor Corona hieß: Immer wenige Betriebe bilden aus. Auch die Anzahl der Bewerber ging stetig zurück, die Verschiebung der Ausbildungsnachfrage hin zu einem Studium war offensichtlich und wir hatten eine verstörende Gleichzeitigkeit von unbesetzten Ausbildungsstellen und einer nicht kleinen Gruppe an jungen Menschen, die überhaupt keinen Zugang zu irgendeiner Ausbildung finden konnten.

Dann kam die Corona-Krise und anders als bei der letzten großen Krise 2008/09 waren diesmal zahlreiche Dienstleistungsberufe betroffen, in denen viel ausgebildet wird. Der Effekt ist leider eindeutig: Im vergangenen Ausbildungsjahr wurden bereits 11 Prozent Ausbildungsverträge weniger abgeschlossen als im Jahr vor Corona. Und das ist nur der Durchschnitt.

In manchen Branchen reden wir von Einbrüchen in der Größenordnung von 30 und mehr Prozent, während sich andere Branchen nicht verschlechtert haben. Also auch hier muss man differenziert hinschauen. Für dieses Jahr gehen wir bereits von einem weiteren, zusätzlichen Rückgang der Ausbildungsplätze insgesamt von mehr als 10 Prozent aus. Das wäre ein zweiter, schwerer Schlag für ein bereits vor Corona in den Seilen hängendes Ausbildungssystem.

Der vor Corona in einigen Branchen klar erkennbare Fachkräftemangel wird sich massiv verstärken. Nur ein Beispiel: Allein in den knapp zehn Jahren zwischen 2010 und 2019 – dem Jahr vor Corona – ist in den Bereichen Gastronomie, Hotellerie, Tourismus und Einzelhandel jeder dritte Ausbildungsvertrag weggebrochen. Bei den Köchen waren es über 45 Prozent weniger. Und gerade in diesen Bereichen hat die Corona-Krise überdurchschnittlich reingehauen. Man kann erwarten, dass die Unternehmen hier weiter überaus restriktiv auf Sicht fahren müssen.

Hier haben wir leider eindeutige Zahlen: Bereits in der Finanzkrise 2008/09 gab es einen Einbruch bei den Ausbildungszahlen. Die Erfahrung in und mit der damaligen Krise war, dass der mit ihr verbundene Rückgang der tatsächlichen abgeschlossenen Ausbildungsverträge nicht wieder korrigiert werden konnte. Das Niveau der Zahl der Verträge blieb deutlich unter dem Krisenniveau. Das ist leider auch jetzt für die Zeit nach Corona zu erwarten. Zudem ist der negative Effekt der Coronakrise im vergangenen Jahr quantitativ größer als der in der Finanzkrise.

Und wir dürfen nicht nur die reinen Zahlen sehen: Denken Sie an die vielfältigen ganz praktischen Probleme, die junge Menschen haben, die bereits in der Ausbildung waren, als Corona über uns kam und die seit einem Jahr unter unmöglichen Bedingungen ihre Ausbildung zu beenden versuchen. Hier wird es zwangsläufig erhebliche Qualitätsprobleme geben. Das gilt auch für viele Studierende, die seit einem Jahr keine Hochschule mehr von innen sehen und mit anderen Menschen gemeinsam arbeiten konnten.

makro: Die Bundesregierung hat allerhand Überbrückungsmaßnahmen beschlossen, um Azubis die Ausbildung zu retten, z.B. Ausbildungsprämien für Unternehmen. Was taugen diese Maßnahmen in der Praxis?

Sell: Eine klare Antwort: Leider bislang nicht viel bis gar nichts. Wir haben ja seit dem Sommer des vergangenen Jahres das Bundesprogramm „Ausbildungsplätze sichern“. Hört sich gut an, leidet aber unter einem typisch deutschen Konstruktionsproblem: Zu klein dimensioniert und dann auch noch so voraussetzungsvoll, dass viele Betriebe die Leistungen gar nicht in Anspruch nehmen. Man hätte angesichts des schweren Schlags für wichtige Teile des dualen Berufsausbildungssystem klotzen statt kleckern müssen.

makro: Werden die Folgen der Corona-Krise für Berufseinsteiger temporär sein oder von Dauer? Wird sich das mit der Zeit auswachen?

Sell: Die bisherigen Befunde aus der Forschung zeigen, dass die negativen Folgen für Berufseinsteiger nicht nur vorübergehend, sondern gemessen an den zu erwartenden Lebenseinkommen dauerhaft sein werden.

Ein möglicher Trost könnte darin bestehen, dass die weniger werdenden jungen Menschen heute auf Arbeitsmärkte stoßen, in denen aufgrund der anstehenden Verrentungswelle bei den geburtenstarken Jahrgänge die eigene (durch allgemeine und sich verschärfende Knappheit gekennzeichnete) Marktposition deutlich besser ist als früher, so dass es dadurch vielleicht zu schnellen Verbesserungen kommen wird.

Eine Gruppe, die einem besondere Sorgenfalten verursachen sollte, sind aber die Personengruppen, die bis zur Corona-Krise im Windschatten der guten Arbeitsmarktentwicklung besser als zuvor erwartet in eine Ausbildung und/oder eine Erwerbsarbeit übertreten konnten: Ich meine hier vor allem die Geflüchteten.

Für viele von ihnen, die ansonsten untergekommen wären, ist mit der Corona-Krise das gerade für diese Gruppe so elementare Netzwerk an personenbezogener Unterstützung und Begleitung des Übergangs bis hin zu den Sprach- und Integrationskursen weggebrochen. Nicht wenige von ihnen werden deshalb auch enorme Schwierigkeiten haben, in eine Ausbildung oder Erwerbsarbeit – vor allem im schwer gebeutelten Dienstleistungsbereich – vermittelt werden zu können. Wenn die zu lange draußen bleiben, haben wir in der Folge eine weitere „Problemgruppe“ auf dem Arbeitsmarkt.

Das Interview führte Carsten Meyer.