Wenn Helfer Opfer werden. Gewalt gegen Rettungskräfte

Es ist für einen halbwegs normal gestrickten Menschen schwer bis überhaupt nicht nachzuvollziehen, dass Menschen, die als Rettungskräfte Tag und Nacht wertvollste Hilfe leisten, bei der Ausübung der guten Tat selbst zu Opfern werden. Aber genau darüber wird seit Jahren immer wieder in den unterschiedlichsten Zusammenhängen in den Medien berichtet. Und auch einige wissenschaftliche Studien über das Thema wurden in den vergangenen Jahren zur Diskussion gestellt, so die Arbeit von Julia Schmidt (2012), Gewalt gegen Rettungskräfte sowie Marvin Weigert (2018), Gewalt gegen Einsatzkräfte der Feuerwehren und Rettungsdienste in Nordrhein-Westfalen, sowie Matthias Rau und Fredericke Leuschner (2018), Gewalterfahrungen von Rettungskräften im Einsatz – Eine Bestandsaufnahme der empirischen Erkenntnisse in Deutschland, in: Neue Kriminalpolitik, Nr. 3/2018 oder die Dissertation von Janina Lara Dressler (2017), Gewalt gegen Rettungskräfte. Eine kriminologische Großstadtanalyse.

Den Versuch einer Bestandsaufnahme haben Tobias Hofmann und Thomas Hachenberg (2019) mit ihrem Beitrag Gewalt in der Notfallmedizin – gegenwärtiger Stand in Deutschland vorgelegt. »In den letzten Jahren werden Mitarbeiter von Rettungsdiensten und Notaufnahmen immer häufiger Opfer von gewalttätigen Übergriffen während ihres Dienstes. Jedoch wird die Erfassung von Häufigkeiten, Arten, Ursachen, Täterprofilen sowie möglichen Lösungsansätzen und Schutzmaßnahmen in Deutschland bisher – im Vergleich zum angloamerikanischen Sprachraum – eher stiefmütterlich behandelt«, beklagen die beiden Verfasser. »Es liegen nur sehr wenige Arbeiten aus Deutschland zu diesem Thema vor. Die gefundenen Arbeiten zeigten, dass Gewalt im Rettungsdienst und in der Notaufnahme nicht nur ein Problem im angloamerikanischen Sprachraum ist. Bis zu 90% der Studienteilnehmer einer Befragung von Rettungsdienstmitarbeitern und 75% der teilnehmenden Mitarbeiter aus Notaufnahmen gaben an, in den letzten Monaten vor der Befragung Opfer von verbaler und/oder physischer Gewalt geworden zu sein. Die Mehrheit der Studienteilnehmer (je nach Studie zwischen 60 und 80%) fühlt sich gar nicht bis unzureichend auf aggressives und gewalttätiges Verhalten vorbereitet und wünscht sich professionelle regelmäßige Weiterbildung in Deeskalationstechniken und Selbstverteidigung.«

Und die dahinter stehende Problematik hat auch die Politik bewegt und gesetzgeberische Aktivitäten ausgelöst. Der Bundestag hatte im April 2017 höhere Strafen für Angriffe auf Rettungskräfte, Feu­erwehrleute und Vollstreckungsbeamte beschlossen. Auf solche Attacken stehen seitdem bis zu fünf Jahren Haft. Das „Gesetz zur Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften“ wurde am 27. April 2017 im Bundestag verabschiedet und am 30. Mai 2017 trat dann das Zweiundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches in Kraft. Damit wurden neue Straftatbestände (§§ 114, 323c Absatz 2 StGB) in das Strafgesetzbuch eingeführt.

In dem Artikel Angriffe auf Rettungskräfte – Warum eskaliert es immer öfter? von Thomas Beigang, der im Juli 2020 veröffentlicht wurde, werden die gesetzgeberischen Verschärfungen angesprochen: Geändert habe sich seitdem aber nichts, so wird der Rettungssanitäter Stephan Drews zitiert, der in der Rettungsleitstelle des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte arbeitet.

Nun ist es ja ein bekanntes politisches Muster, dass man bei skandalösen Entwicklungen gerne zu (straf)rechtlichen Verschärfungen greift, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren (manchmal aber auch nur zu simulieren) – vor allem, wenn es sich um Vorgänge handelt, die zutiefst verurteilt werden von den meisten Menschen, die niemals auf die Idee kommen würden, sich gegen Rettungskräfte zu wenden.

Möglicherweise hat die bislang umstrittene bis überhaupt nicht erkennbare Wirksamkeit der bislang letzten gesetzgeberischen Aktivität, hinter der sicher die gute Absicht steht, etwas zum Schutz der betroffenen Rettungskräfte zu tun in der Hoffnung, die abschreckende Wirkung höherer Strafen werde das erreichen können, auch etwas zu tun mit der konkreten Art und Weise der Gewalt gegen Rettungskräfte, vor allem, in welchen Kontexten diese ausgeübt wird.

Dazu findet man zum einen in den eingangs angesprochenen wissenschaftlichen Studien zahlreiche Hinweise. Man kann nun auch ergänzend einen Blick in die Ergebnisse einer neueren Umfrage werfen, die vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) veröffentlicht wurden:

➔ Peter Sefrin, Annette Händlmeyer, Thomas Stadler und Wolfgang Kast (2021): Erfahrungen zur Gewalt gegen Rettungskräfte – aus der Sicht des DRK, in: Der Notarzt, 2021, S1-S19

Bei der nicht repräsentativen Studie wurden insgesamt 425 Fragebogen von Notfallsanitätern, Rettungsassistenten, Rettungssanitätern und weiteren Rettungsdienstmitarbeitern ausgewertet. Die Daten wurden von August bis November 2019 erhoben, also in der Vor-Corona-Zeit.

Die Verfasser der Studie bilanzieren in ihrer Zusammenfassung:

»Berichte über Gewalt gegen Rettungskräfte werden immer häufiger. Vor diesem Hintergrund sollten spezielle Faktoren eruiert werden. Im Jahr 2019 führte das Deutsche Rote Kreuz (DRK) eine Umfrage zum Thema Gewalt gegen Einsatzkräfte im Rettungsdienst durch. In insgesamt 425 Fragebogen berichteten Einsatzkräfte über mindestens eine Gewaltanwendung in den vergangenen 12 Monaten. Ziel der Befragung war nicht die Erfassung der konkreten Anzahl der Übergriffe, sondern das Gewinnen von Angaben zu den Rahmenbedingungen.

Die betroffenen Rettungsdienstmitarbeiter waren zu 73,4% männlich und überwiegend in der Altersgruppe der 18 – 29-Jährigen. Es waren sowohl Notfallsanitäter (29,4%), Rettungsassistenten (14,8%) und Rettungssanitäter (33,6%) als auch weitere Rettungsdienstmitarbeiter betroffen. Die Übergriffe waren hauptsächlich verbal (40,3%). Der Anteil der tätlichen Gewalt betrug 14,4%. Die körperlichen Angriffe ereigneten sich meist seltener als 1 – 2-mal pro Monat (83,8%), während die verbalen Angriffe oft häufiger erfolgten. Jeder 2. Angriff passierte im innerstädtischen Bereich (52,2%), wobei sozial problematische Wohngebiete vordergründig waren. Die Verteilung ist jedoch abhängig von Orten mit verschiedenen Einwohnerzahlen.

Am häufigsten fanden die Gewaltanwendungen abends und nachts statt, meist während der Versorgung des Patienten (56,7%). Der Täter war in drei Viertel der Fälle der Patient selbst, jedoch zu gleichen Teilen auch Freunde (42,6%) und Angehörige (40,7%). Ein Schwerpunktort der Übergriffe sind unabhängig von der Größe der Orte Großveranstaltungen. Soweit feststellbar spielten Alkohol und Drogen eine wesentliche Rolle.

Die Folge seitens der Betroffenen war bei 2,1% eine so schwere Schädigung, dass sie zu einer Krankschreibung von 1 Tag und im Extremfall bis zu 40 Tagen führte. In jedem 2. Fall wurde die Polizei entweder aufgrund des Meldebildes oder durch den Rettungsdienst vor Ort alarmiert.

76% der Betroffenen wünschen eine gesonderte Schulung im Umgang mit Gewalt im Rahmen der Fortbildung. Das Mittel der Wahl seitens der Politik zur Verbesserung der Situation ist nach Meinung der Rettungsdienstmitarbeiter die Anhebung der pekuniären Strafen. Eine weitere Strafverschärfung scheint vor dem Hintergrund des Täterprofils und der Umgebungsbedingungen und der bei der in der Bevölkerung teilweise bestehenden Respektlosigkeit kein gangbarer Weg zu sein. Inwieweit eine intensivere Aufklärung zu einer Verbesserung der Situation führen kann, kann derzeit nur vermutet werden.«

Foto: © Stefan Sell