Nicht nur die Pflegeheime stecken im Niemandsland fest, zwischen den Fronten in Zeiten von Corona. Und immer wieder die Frage: Wer hat die Verantwortung für ein Leben zwischen Leben und Sterben?

Es ist im November 2020 zweifelsohne nicht mehr so, dass man sagen kann, wir sind alle völlig überraschend erwischt worden von dem, was als Corona-Krise über uns gekommen ist. Denn zum Jahresende 2020 sind wir bereits in der zweiten Welle und die erste hat uns einiges gelehrt – oder sagen wir besser, man hätte eine Menge lernen und ableiten können aus dem, was da passiert ist. Beispielsweise in den Pflegeheimen. Dort hatte das Virus bereits im Frühjahr seine Schneisen des Sterbens geschlagen und die vielen Menschen, die in den Einrichtungen arbeiten, haben unter oftmals völlig desaströsen Rahmenbedingungen versucht, den Laden irgendwie am Laufen zu halten und sich um die ihnen anvertrauten Menschen so gut es ging zu kümmern. Um das an dieser Stelle deutlich zu sagen: Wir können denjenigen, die in der ersten Welle die Stellung gehalten haben, nicht oft genug danken für ihren Einsatz. Und das gilt nicht nur für die Pflegeheime, sondern selbstverständlich und mehr als auch für die ambulanten Pflegedienste, deren Mitarbeiter tagein tagaus zahlreiche hilfebedürftige Menschen in ihren eigenen vier Wänden versorgen.

Und bereits in der ersten Welle haben wir die Erfahrung machen müssen, dass es eine Hierarchie der Aufmerksamkeit gibt. Während sich damals viele Berichte auf die Krankenhäuser bezogen (das müssen wir derzeit erneut beobachten und dann noch mit einem besonderen Fokus auf die Lage der Intensivstationen), sicherlich auch durch die Bilder aus Bergamo und anderen Orten des Schreckens bedingt, wurden die Heime und Pflegedienste wenn, dann nur anlassbezogen in das Scheinwerferlicht gezogen. Ansonsten waren sie am Ende auch der politischen Aufmerksamkeit. In diesem damaligen Umfeld ist dann beispielsweise der Beitrag Aus den Untiefen der Verletzlichsten und zugleich weitgehend Schutzlos-Gelassenen: Pflegeheime und ambulante Pflegedienste inmitten der Coronavirus-Krise entstanden, der hier am 29. März 2020 veröffentlicht wurde. Darin wurde darauf hingewiesen, dass die Pflegeheime und die Pflegedienste hinsichtlich der Versorgung mit Schutzkleidung am Ende der Nahrungskette standen. Dass es gerade hier, wo mit den verletzlichsten Menschen gearbeitet wird, erhebliche Probleme gab, überhaupt irgendwelche Masken zu bekommen, geschweige denn weiterführendes Material.

Im ersten – im Vergleich zu dem, was wir derzeit erleben deutlich – härteren Lockdown wurden dann viele Pflegeheime vollständig abgeschottet und die nachfolgende Debatte fokussierte verständlicherweise auf die Kritik vieler Angehöriger, dass sie keinen Zugang mehr bekommen haben zu den Bewohnern in den Heimen. Auf der einen Seite war diese Schutzmaßnahme völlig verständlich aus der Perspektive der Heime selbst, vor allem aufgrund der Ängste der Betreiber, auf einmal Corona-Hotspot, eine „Todesfalle“ zu werden. Auf der anderen Seite gab es ebenfalls verständlich eine massive Kritik daran, dass in den meisten Fällen überhaupt keiner mehr nachgeschaut hat, was in den Heimen passiert, wie es den Menschen geht und wie sie (nicht) versorgt werden. Denn leider gibt es neben die vielen Einrichtungen, in denen Leitung und Mitarbeiter unter bereits vor der Corona-Krise teilweise katastrophal schlechten Rahmenbedingungen alles gegeben haben, um die Menschen nicht nur irgendwie, sondern gut zu versorgen, auch schwarze Schafe, Heime mit hochproblematischen Zuständen. Nur dass dort jetzt überhaupt keiner mehr von außen nachschauen konnte und die, deren Verantwortung es wäre, das zu tun, also weniger die Medizinischen Dienste mit ihren aus anderen Gründen umstrittenen Qualitätsprüfungen, die ja ausgesetzt wurden, sondern die eigentlich zuständige Heimaufsicht als Verkörperung der staatlichen Verantwortung, die wiederum allein aufgrund ihrer tatsächlichen, oftmals desaströs schlechten personellen Ausstattung und auch der fachlichen Defizite gar nicht in der Lage waren (und sind), eine klare Zuständigkeit übernehmen zu können. Dies wurde umfassend behandelt in dem Beitrag Ein albtraumhaftes Dilemma in Zeiten von Corona: Menschen in Pflegeheimen vom 2. September 2020, der auch deshalb geschrieben wurde, weil die offiziellen Verbände der Pflegeheimbetreiber Strom gelaufen sind gegen jede Kritik an der Abschottung der Heime. Dort findet man auch einige Belege für den teilweise nur noch als katastrophal zu bezeichnenden Zustand der in kommunaler Verantwortung agierenden Heimaufsicht.

Aber nun sind wir mittendrin in der zweiten Welle und erneut trifft es die Heime schwer: »Die Meldungen über Ausbrüche von SARS-CoV-2 in Pflegeheimen in Deutschland nehmen wie­der zu. Und auch die Zahl der dadurch gestorbenen Menschen«, konnte man beispielsweise dem Artikel Situation in Pflegeheimen spitzt sich zu entnehmen, der am 18. November in der Online-Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts veröffentlicht wurde. Und wenige Tage später die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift Niemand rein, niemand raus: »Die zweite Corona-Welle wütet in deutschen Pflegeheimen, das legen neue Zahlen nahe. Der Bund hat aber kein genaues Lagebild – und die Betreiber reagieren teils drastisch.« In weit mehr als 1.000 der bundesweit etwa 12.000 Alten- und Pflegeheime gibt es aktuell Corona-Fälle, so das Ergebnis einer Umfrage unter den Gesundheitsministerien der Bundesländer, eine Zahl, die sicher als Untergrenze zu werten ist – so auch der Hinweis in dem Artikel: »Einige Bundesländer lieferten nur sehr unvollständige Zahlen«. Und auf Basis der unvollständigen Daten muss man feststellen: »Demnach ist aktuell in Brandenburg jedes zehnte Heim betroffen, in Nordrhein-Westfalen jedes sechste, in Rheinland-Pfalz jedes fünfte. In Hessen haben 200 von gut 800 Pflegeeinrichtungen Corona-Infektionen gemeldet, also jedes vierte Heim.«

Und auf der Bundesebene muss man ebenfalls zugeben: man hat keinen Überblick, was in diesen besonders gefährdeten Einrichtungen passiert:

»Das Robert-Koch-Institut weist sie nicht in seinen täglichen Situationsberichten aus. Selbst das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und der dort angesiedelte Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, verfügen nicht über ein genaues Lagebild in den Heimen. Eugen Brysch, der Vorstand der deutschen Stiftung Patientenschutz, klagt: „Zwar reden die Regierungschefs viel von den vulnerablen Gruppen, aber die Fakten werden nicht zusammengetragen. Im neunten Monat der Pandemie ist für Bund und Länder die Situation der hier lebenden und arbeitenden Menschen eine Blackbox.“«

Man ahnt es schon: Die für die erste Welle beschriebenen und danach heftig kritisierten Einschränkungen des Besuchs bis hin zu den besonders umstrittenen Besuchsverboten tauchen jetzt wieder auf:

»Unbekannt ist zudem, wie viele Heimbewohner momentan isoliert werden. Trotz der Forderungen der Politik, die Heime in der zweiten Welle offen zu halten, sodass die Bewohner weiterhin von Angehörigen besucht und Therapiemöglichkeiten in Anspruch nehmen können, hat wieder ein beträchtlicher Anteil der Heime geschlossen.«

Das aber ist zum einen vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die wir in der ersten Welle gemacht haben, wie auch vor dem Hintergrund der mittlerweile vorliegenden Stellungnahmen auch aus juristischer Sicht ein echtes Problem: »Die Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen in Pflegeheimen im Rahmen der Corona-Pandemie verstoßen in weiten Teilen gegen das Grundgesetz.« So beginnt eine Mitteilung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO), in der auf die Ergebnisse eines Gutachtens hingewiesen wird, das man beim Mainzer Verfassungsrechtler Friedhelm Hufen in Auftrag gegeben habe. »Dem Gutachten zufolge müssen die negativen Auswirkungen der Maßnahmen auf die Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung viel stärker in den Blick genommen werden. Das Leiden von Demenzkranken unter einer für sie nicht begreifbaren Isolation sei dabei besonders zu berücksichtigen. Eine niemals zu rechtfertigende Verletzung der Menschenwürde liege in jedem Fall vor, wo Menschen aufgrund von Besuchsverboten einsam sterben müssen.«

Quelle: BAGSO (2020): Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung von Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen aus Anlass der COVID-19-Pandemie, 11.11.2020

Das Gutachten von Hufen kann man hier im Original einsehen:

➔ Friedhelm Hufen (2020): Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung von Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen aus Anlass der COVID-19-Pandemie. Rechtsgutachten, Bonn: BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen, November 2020

In dem Gutachten findet man u.a. diesen wichtigen Punkt: »Die Schutzpflicht, die staatliche Behörden aktiv ausüben müssen, bezieht sich nicht nur auf das Vermeiden einer Ansteckung mit COVID-19, sondern auch auf die Grund- und Freiheitsrechte der Bewohnerinnen und Bewohner und ihrer Angehörigen.« Genau das ist bzw. wäre der Ausgangspunkt für eine nun sich (eigentlich) anschließende Operationalisierung der staatlichen Verantwortung, die auch in meinem Beitrag Ein albtraumhaftes Dilemma in Zeiten von Corona: Menschen in Pflegeheimen vom 2. September 2020 dringend angemahnt wurde:

»Die Frage nach der Verantwortung und der Zuständigkeit stellen und dabei den staatlichen Schutzauftrag aus dem Nebel holen und klar definieren, was es für eine moderne und konsequent an den Schutzbedürftigen und ihren Angehörigen ausgerichtete Aufsicht und auch Kontrolle braucht, sonst geht das ganze Chaos beim nächsten Mal wieder von vorne los. Die staatlichen Ebenen dürfen nicht erneut aus der Verpflichtung entlassen werden, wenigstens ein Minimum an Kontrolle und Verantwortungsübernahme sicherstellen. Und zwar überall und nicht nur in einigen sicher vorhandenen kommunalen Leuchttürmen. Darauf haben die Menschen einen Anspruch, den es einzulösen gilt.«

Und wir hatten nach der ersten Welle – eigentlich – genügend Zeit, diese Fragen verbindlicher zu klären, um zu vermeiden, dass wir in der von den meisten Experten vorausgesagten zweiten Welle in die gleiche Bredouille rutschen wie im Frühjahr. Dass das nicht überall, aber an vielen Stellen versäumt wurde, muss nun beklagt werden (vgl. dazu auch den Beitrag Erneut wieder nur Pest oder Cholera? Ein albtraumhaftes Dilemma in Zeiten von Corona: Menschen in Pflegeheimen in der zweiten Welle vom 12. November 2020).

Aber leider werden wir erneut Zeugen tradierter Mechanismen, die der Logik des „Schwarze Peter-Spiels“ folgen

Schauen wir stellvertretend als eines von vielen Fallbeispielen nach Berlin. »Bei einem großen Corona-Ausbruch mit Todesfällen in einem Lichtenberger Pflegeheim … sind mindestens 15 Heimbewohner im Zusammenhang mit einer Coronainfektion gestorben. Ein Teil der verbliebenen Bewohner musste in andere Einrichtungen verlegt werden. Neue Tests sind in der Auswertung«, berichtet der Berliner „Tagesspiegel“ unter der Überschrift Das Pflegepersonal hat wohl die Bewohner in Lichtenberg mit Corona angesteckt. „Vermutlich“ hat das Personal die Bewohner angesteckt. Das geht aus einem Bericht des Pandemiestabs hervor. »Danach sei das Heim den Nachbesserungen, die der Amtsarzt bereits Anfang Oktober mit Blick auf Kontakte und Hygiene gefordert hatte, nicht in ausreichendem Maße nachgekommen.« Und weiter: »Nach dem Bericht war der Lichtenberger Amtsarzt seit Anfang Oktober mehrfach im Pflegeheim Kursana Domizil Berlin-Lichtenberg, das zur Dussmann-Gruppe gehört. Er ordnete unter anderem Abstriche der Bewohner und des Personals an. Für Mitarbeiter mit direktem Kontakt zu erkrankten Bewohnern wurde Quarantäne verhängt. Das Gesundheitsamt habe das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit Berlin auch über Versäumnisse beim Arbeitsschutz informiert.«

➔ Das Pflegeheim Kursana Domizil Berlin-Lichtenberg gehört zur Dussmann-Gruppe. Die Altenpflege ist eines von fünf Geschäftsfeldern der Gruppe, verantwortlich dafür ist die Kursana: Kursana „Domizile, Residenzen und Villen“ (so nennt man das auf der Website des Unternehmens) werden in Deutschland, Italien, Österreich, der Schweiz und Estland betrieben. Zum Heimbetreiber Kursana muss man wissen: Die Kursana Residenzen GmbH ist derzeit der fünftgrößte Betreiber von Pflegeheimen in Deutschland (nach Korian, Alloheim, Victor’s Group und Orpea). Das Unternehmen betreibt 96 Pflegeheime mit über 9.000 Pflegeplätzen.

Zurück in die Berliner Tiefen und Untiefen vor Ort: »Was Versäumnisse in Alten- und Pflegeheimen konkret bedeuten können, berichtet ein Insider: miserable Ausbildung des Personals, Missachtung von Hygieneregeln, mangelnde Kontrolle der Einhaltung der Regeln durch die Verantwortlichen des Heims, mangelhafte Unterweisung des externen Personals wie Reinigungskräften sowie fehlende Deutschkenntnisse bei Personal aus dem Ausland. In Lichtenberg seien Schutzmasken trotz entsprechender Vorgaben nicht getragen worden, sagte er. Der Betreiber habe sich schuldig gemacht.«

In diese Kerbe haut dann auch die Politik: Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) wurde mit der Bewertung zitiert, »nach ihrer Einschätzung könnten menschliches Versagen und Betreiber, die das Thema Hygiene nicht so richtig ernst nähmen, zu solchen Ausbrüchen führen.«

Das blieb nicht unbeantwortet: »Aufruhr und Empörung bei Berlins Pflegeeinrichtungen und -verbänden: Nach Corona-Ausbrüchen in Pflegeheimen – unter anderem mit 15 Toten in Lichtenberg und 16 Todesfällen in Lankwitz – hatte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) … scheinbar Schuldige ausgemacht. Die Einrichtungen seien in der Verantwortung, sie sprach von „menschlichem Versagen“. Außerdem würden Heimbetreuer das Thema Hygiene „nicht wirklich ernst nehmen“«, kann man nun diesem Artikel entnehmen: Pflegeverbände empört über Kritik von Berlins Gesundheitssenatorin nach Corona-Todesfällen. Dort wird gegen die Senatorin scharf geschossen:

»Dagmar Kupsch, Einrichtungsleiterin im Haus Havelbeck, zeigte sich fassungslos ob der Äußerungen Kalaycis. Sie wisse nicht, woher der Eindruck der Senatorin stamme. Es gäbe nur vereinzelt Heime, in denen nicht alle Maßnahmen eingehalten würden. Die meisten Einrichtungen würden sich jedoch penibel an die Vorgaben halten und für gute Pflege zahlreiche Einschränkungen in Kauf nehmen.
Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin, sieht in Kalaycis Worten eine pauschale Schuldzuweisung an Pflegeeinrichtungen und das dort seit Monaten hochengagierte Personal. „Statt pauschaler Vorwürfe brauchen wir eine differenzierte Aufklärung und vor allem funktionierende und gut ausgestattete Gesundheitsämter in den Bezirken“, sagt sie.
Natalie Sharifzadeh, Geschäftsführende des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe Nordost (Dbfk), reagiert ebenfalls empört: „Das ist eine Dreistigkeit, zumal der Senat sich in der letzten Zeit nicht hervorgetan hat.“ Weder hätte das Personal an vorderster Front Ausgleichszahlungen für seine erschwerte Arbeit bekommen, noch seien Schutzmaterialien immer zugänglich gewesen. „In der Vergangenheit gab es häufiger Materialengpässe etwa bei Masken, Handschuhen und Hauben.“«

Einige versuchen, den Kopf aus den Schützengräben zu heben. So findet es Oliver Bürgel von der Liga Berlin, dem Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege in der Hauptstadt, falsch, dass die Senatorin persönliches Versagen in den Mittelpunkt stelle und so „Öl ins Feuer“ gieße. Er wünscht sich »mehr Unterstützung von der Politik, die vor Ort mit Verantwortlichen nach Lösungen suchen solle. Dies könnten regelmäßige PCR-Tests bei Personal, Bewohnern und Besuchern sein – gestellt und finanziert von der Politik«, wie der Paritätische Wohlfahrtsverband ergänzt.

Corona-Schnelltests als problemgenerierende Problemlösung: Große Hoffnungen werden derzeit überall mit dem Einsatz von Corona-Schnelltests verbunden. »Positiv oder negativ – das Ergebnis liegt in Minuten vor. So soll die Verbreitung des Virus verhindert werden. Doch Heime müssen Tausende Abstriche machen«, berichtet Ingo Bach in seinem Artikel Die Durchführung von Corona-Schnelltests belastet Berlins Pflegekräfte. »Die Vorteile liegen auf der Hand: Ergebnisse liegen binnen kurzer Zeit vor, ein Labor ist nicht nötig. Deshalb hat das Bundesgesundheitsministerium Mitte Oktober eine neue Corona-Testverordnung in Kraft gesetzt. Darin ist unter anderem festgelegt, dass Pflegeheime einen Anspruch auf diese sogenannten Antigenschnelltests haben, die ihnen Bund und Länder zur Verfügung stellen.« Hört sich gut an. Also theoretisch, die erfahrenen Leser werden bereits die Stirn runzeln, wenn sie auf die Formulierung „die ihnen Bund und Länder zur Verfügung stellen“ stoßen. Aber selbst wenn wir einmal annehmen, dass die ausreichende Belieferung der Einrichtungen auch tatsächlich gelingen und auch eine Refinanzierung der Kosten für die Schnelltests über den Rettungsschirm für die Pflegeheime und -dienste, die auch was abbekommen, sichergestellt sein sollte: »Mit den Tests sollen vor allem die Pflegekräfte und Pflegebedürftige regelmäßig auf eine Infektion mit dem Virus geprüft werden, wenn dort noch kein bestätigter Infektionsfall vorliegt. Zudem sollen Besucher der Heime getestet werden, bevor sie die Einrichtungen betreten.« Man ahnt, dass das viele, sehr viele Test-Fälle sind, die da zusammen kommen.

Und das muss ja jemand machen: Jeder einzelne Test – der übrigens von extra geschulten Fachkräften durchgeführt werden soll/muss (die Pflegeassistenten dürfen den Test bislang nicht durchführen, was aber aufgeweicht werden soll) – nehme inklusive Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung rund 20 Minuten Arbeitszeit in Anspruch. Bei einer Einrichtung mit 120 Plätzen, die monatlich also 2.400 Tests durchführen könnte, sind das rein rechnerisch 800 Arbeitsstunden pro Monat. Nun wird der eine oder andere an dieser Stelle völlig verständlich daran denken, dass doch die Personalausstattung in den meisten Heimen bereits vor Corona teilweise nur als desaströs schlecht zu bezeichnen war und sich die Arbeitsbelastung durch und seit Corina nochmal gesteigert hat, ohne die Test-Aufgabe, die jetzt noch oben drauf gepackt werden muss.

Und es gibt dann nicht nur entweder die Heime, die ambulanten Pflegedienste oder die ausschließlich von pflegenden Angehörigen durchgeführte häusliche Pflege, sondern in den vergangenen Jahren haben sich immer neue Misch- oder Zwischenformen auf dem „Pflegemarkt“ etabliert, bei denen die Grenzen zwischen stationär (mit den dort auf dem Papier gegebenen Auflagen) und dem weitgehend jeder Regulierung und Kontrolle entzogenen rein privaten Bereich der häuslichen Pflege zunehmend verschwimmen bzw. keines der sowieso schon als defizitär kritisierten Instrumente greifen kann, weil sie hier schlichtweg nicht greifen können. Auch dazu ein aktuelles Beispiel aus Berlin, das sich auf die in den vergangenen Jahren expandierenden „Demenz-WGs“ bezieht:

»Durch die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes … ist geregelt, dass ambulante Pflegedienste, die Intensivpflege in Einrichtungen, Wohngruppen und sonstigen gemeinschaftlichen Wohnformen erbringen, die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung von Infektionsübertragungen sicherstellen müssen und auch von den Gesundheitsämtern überwacht werden dürfen.
Nicht überwacht werden dürfen privatrechtliche Wohnformen. So zum Beispiel eine Wohngemeinschaft von demenzkranken Seniorinnen und Senioren in Spandau. Acht Wohnungen sind belegt und werden von einem privaten Pflegeteam rund um die Uhr betreut.«

Im Oktober war in der Wohngemeinschaft das Coronavirus ausgebrochen. Eine Frau kam ins Krankenhaus und wurde dort positiv getestet, verstarb später an dem Virus. Eine weitere Frau liegt im Sterben, vier Bewohner wurden am 14. Oktober im Krankenhaus positiv getestet. Das Gesundheitsamt untersagte eine Zeitlang den Zutritt für Besucherinnen und Besucher, die Wohngemeinschaft unterlag einer „Kohortenisolation“. Mittlerweile ist diese beendet, das Pflegepersonal getestet und die Wohnung wieder für Besuch geöffnet.

Das berichtet Robert Klages in seinem Artikel Corona-Tote in Demenz-WG in Berlin-Spandau – Angehörige stellen Strafanzeige gegen Pflegedienst. Über die angeblichen Zustände in dieser Wohngemeinschaft erfahren wir: »Angehörige berichten, im Laufe des Jahres sei das Pflegepersonal, die Putzfrau, der Koch und Gäste ohne Schutzmaßnahmen wie Masken und Desinfektionsmittel in dem Haus aus und ein gegangen. Obwohl bereits bestätigte Coronainfektionen vorlagen, wurden weiterhin Seniorinnen und Senioren zum Probewohnen vorbeigebracht. Die … Betreuerin der Verstorbenen und weitere Angehörige erzählen, die Chefin des Pflegedienstes habe sich über die Coronamaßnahmen lustig gemacht, das sei alles „totaler Humbug und totaler Quatsch“.«

Und dann kommt mit Blick auf das hier und anderer Stelle immer wieder beklagte System der organisierten Nichtzuständigkeiten ein interessanter Passus:

»Spandaus Amtsärztin bestätigt auf Nachfrage, dass seit Mitte September zahlreiche E-Mails der Angehörigen eingetroffen waren, die hygienische Mängel in der Wohngemeinschaft beklagten.
Da es sich um eine privatrechtliche Wohnform handelt und keine Intensivpflege erbracht werde, habe man jedoch keine Befugnis, hier etwas zu unternehmen. Es handele sich um eine Lücke im Gesetz, auf die seit Jahren hingewiesen werde.
Das Ordnungsamt, das Sozialamt und die Heimaufsicht waren über die Mails informiert. Die Senatsverwaltung für Gesundheit will sich auf Nachfrage nicht zu dem Fall äußern. Am 7. Oktober hatte die Heimaufsicht der Senatsverwaltung eine Begehung der Wohngemeinschaft durchgeführt. „Hierbei konnten offenbar keine Hygienemängel festgestellt werden“, sagt Spandaus Amtsärztin. Der Besichtigungstermin erfolgte angekündigt.«

Konsequenzen? »Eine Prüfung des Sozialamtes ergab: „Die gesamte Beschwerdelage deutet am ehesten auf erhebliche Pflegemängel … hin.“ Den Angehörigen wird empfohlen, selbst Strafanzeige zu erstatten sowie den Pflegeanbieter zu wechseln.«

Verlassen wir die Ebene der Fallbeispiele und kommen zu einem Fazit, das allen nicht schmecken wird, die immer gleich „die“ oder „eine“ Lösung haben möchten. Offensichtlich sind wir bei sicher partiellen Fortschritten immer noch gefangen in der Lähmschicht aus der ersten Welle, nur dass mittlerweile die Stimmen, die gegen eine Teil-Abschottung der Heime (Teil-Abschottung, weil sich das Zumachen und Nicht-mehr-Reinlassen auf die Angehörigen und andere Berufe wie Therapeuten bezieht, während das Pflegepersonal selbstverständlich rein und raus muss) argumentieren und protestieren, deutlich mehr geworden sind und auch explizite juristische Argumente gegen eine Verweigerung des Besuchs in den Einrichtungen vorgetragen werden. Auf der anderen Seite muss man die Not der Verantwortlichen vor Ort verstehen und nachvollziehen, die sich nicht schuldig machen wollen an einem möglichen Corona-Ausbruch durch eine Nicht-Unterbindung der Besuche. Und die unter enormen Druck stehen, unter schon vor Corona oftmals personalseitig skelettösen Bedingungen den Betrieb aufrechterhalten zu müssen – plus neuer Zusatzaufgaben, die mit der Pandemie einhergehen, Stichwort Schnelltests.

➔ Zum Thema Schnelltests kann man dem Beitrag Corona-Fälle in Pflegeheimen häufen sich entnehmen: »Die Heim-Verantwortlichen setzen große Hoffnungen auf Schnelltests, mit denen Bewohner, Mitarbeiter und auch Besucher auf Corona getestet werden können. Das BMG hatte Mitte Oktober versprochen, dass Alten- und Pflegeheime die sogenannten Corona-Schnelltests mit bis zu 20 Tests pro Bewohner und Monat großzügig nutzen könnten. atsächlich aber zeigen sich bislang erhebliche Mängel in der Umsetzung der Strategie: Bevor die Tests eingesetzt werden dürfen, müssen die Pflegeheime Testkonzepte erarbeiten, und die wiederum muss das lokale Gesundheitsamt genehmigen, damit die Tests später von den Krankenkassen erstattet werden. Dabei kommt es … oftmals zu erheblichen Verzögerungen. Der BIVA-Pflegeschutzbund befragt aktuell Einrichtungsmitarbeiter in ganz Deutschland, ob sie die Schnelltests bereits einsetzen. Ein erstes Zwischenfazit: Keine fünf Prozent der antwortenden Einrichtungen gaben an, diese bereits anzuwenden. Die Heime sind allerdings auch gar nicht dazu verpflichtet, die Schnelltests einzusetzen. Manche Betreiber berufen sich dabei auf den zweifellos schon vor Corona herrschenden Personalmangel. In anderen Fällen kommt es zu Lieferengpässen. Anders als beim Schutzmaterial müssen die Träger und Heime sich die Tests selbst beschaffen. Doch auf dem Markt herrsche nun „das gleiche Chaos, wie im Frühjahr bei den Masken“, ärgert sich Bernhard Schneider, Geschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung GmbH. Als großer Träger könne er hohe Mengen an Tests selbst beschaffen. Kleinere Einrichtungen hätten es aber schwerer, sich auszustatten.» Und dann dieser hinsichtlich der Nicht-Zuständigkeit aufschlussreiche Passus: »Auf Anfrage teilt ein Sprecher des BMG mit, die Umsetzung der Teststrategie erfolge in den Bundesländern und den Einrichtungen vor Ort. Das BMG setze lediglich den „rechtlichen Rahmen“.«

Das verweist auf die bereits vor Monaten angemahnte Verantwortungsgemeinschaft zwischen Staat und den Einrichtungen (und den Pflegediensten, die wieder einmal untergehen in der Debatte). Und Verantwortungsgemeinschaft heißt in diesem nicht nur „grundrechtssensiblen“, sondern im wahrsten Sinne des Wortes existenziellen Bereichs zwischen Leben und Sterben eine Verbindlichkeit des Staates, in der Ausnahmesituation, in der wir uns mit Corona befinden, eindeutig Mitverantwortung für die Menschen in den Einrichtungen zu übernehmen und diese auch transparent zu machen. Gerade die Angehörigen brauchen in dieser Zeit eine verbindliche Struktur, an die sie andocken können, mit der sie überhaupt kommunizieren können.

Allerdings muss man derzeit, nach den weitgehend verlorenen Monaten des Sommers, zur Kenntnis nehmen, dass das bekannte Muster des „Durchwurschtelns“ dominiert, was natürlich dazu führen muss, dass wir sehr weit streuende Resultate haben, je nach der Verfasstheit der Situation vor Ort und den (nicht-)handelnden Akteuren dort. Das lässt sich natürlich niemals einebnen und auf ein einheitliches Niveau heben, aber dennoch muss man verbindlichere Strukturen und Prozesse anmahnen, immerhin geht es hier nicht um die Frage, ob man irgendein Produkt reklamiert oder umtauschen möchte.

Aber Hoffnung ist unterwegs, könnte man jetzt zum Abschluss anmerken: Angeblich soll der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung an einem Konzept arbeiten, wie man das Schutzbedürfnis der Einrichtungen mit den Besuchsbedarfen und -rechten der Bewohner und ihrer Angehörigen gestalten kann. Es wird für den Dezember erwartet.