Sterbehilfe: Eine normativ höchst anspruchsvolle Debatte über die (Un-)Möglichkeit des „freien Sterbens“ – oder doch nur auf der Rutschbahn in ein Geschäftsmodell mit outgesourcten „Suizidhelfern“?

»Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.«

Mit diesen Worten hat das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 eine dieser wegweisenden Entscheidungen gefällt, die wie ein Fallbeil wirken. Es handelt sich um den Anfang der Mitteilung des hohen Gerichts, die unter der unmissverständlichen Überschrift Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verfassungswidrig gesetzt wurde. Wer die Entscheidung des Gerichts im Original und damit in aller Ausführlichkeit nachlesen will, der kann das hier machen: BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15

Einen ausführlichen Bericht über die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts findet man in diesem Beitrag vom 26. Februar 2020: Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ist verfassungswidrig, urteilt das Bundesverfassungsgericht. Zur Ambivalenz der Ängste vor dem Morgen. Die Entscheidung ist (nicht nur) für den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ein schwerer Schlag, denn der leistet auf vielfältige Art und Weise Widerstand gegen jegliche Öffnung der Sterbehilfe. Erst kurz vor dem Urteil aus Karlsruhe war der Minister in die Kritik geraten, denn das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat auf Weisung des Ministers mehr als hundert Anträge auf Sterbehilfe abgelehnt. Zwar ist die Bonner Behörde aufgrund eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts seit 2017 – dass schwer und unheilbar kranke Patienten „in extremen Ausnahmefällen“ einen Anspruch auf eine tödliche Substanz zur Selbsttötung hätten – verpflichtet, die Anträge im Einzelnen zu prüfen. Allerdings hatte Spahn persönlich das ihm unterstellte Arzneimittel-Bundesinstitut anweisen lassen, die Begehren pauschal zurückzuweisen.

Das Urteil des BVerfG hat teilweise heftige Kontroversen ausgelöst (bzw. weiter vorangetrieben). Dazu nur zwei Beispiele:

➔ In den Kirchen scheinen manche vom bisherigen „Nein“ zur Sterbehilfe abzurücken. Einige Theologen und Kirchenvertreter können sich vorstellen, dass Patienten in kirchlichen Einrichtungen Zugang zu tödlichen Substanzen erhalten, sollte ein solches Gesetz erlassen werden, so Michael Hollenbach in seinem Beitrag Bald Sterbehilfe in kirchlichen Einrichtungen? Man kann sich vorstellen, dass das gerade in den Kirchen ein ganz heißes Eisen ist. Auf der einen Seite: Ein klares Nein zur Sterbehilfe fordert der Katholik Thomas Schüller. Gerade mit Blick auf die zunehmende Zahl an Fällen von Sterbehilfe in den Benelux-Ländern erklärt der Münsteraner Professor für Kirchenrecht: „Ich glaube, das ist die einzige mögliche katholische Antwort, dass da die Kirche gefordert ist, die Front zu halten. Das heißt, gar keinen Millimeter abweicht, dass die Lehre der Kirche eindeutig ist, dass unbedingt jedes Leben zu retten und zu schützen ist.“ Und was kommt von der evangelischen Seite? Für die evangelische Regionalbischöfin Petra Bahr aus Hannover, Mitglied im Deutschen Ethikrat, bedeutet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Sterbehilfe einen Paradigmenwechsel: „Was man merkt, ist, dass sich in diesen Diskussionen um die Sterbehilfe und auch den Suizid etwas verschoben hat, weil der Begriff der Selbstbestimmung und der Autonomie sehr zentral geworden ist.“ Martin Dutzmann hingegen, der Repräsentant der Evangelischen Kirche in Deutschland gegenüber Bundesregierung und Bundestag, warnt davor, die Selbstbestimmung absolut zu setzen. Beim Urteil des Verfassungsgerichtes entsteht der Eindruck, „als sei hier nur ein einzelner Mensch, der ganz alleine und ohne äußere Einflüsse für sich selber entscheidet. Das ist nicht unser Freiheitsverständnis.“ Und schränkt später ein, dass sich die evangelische Kirche der Sterbehilfe nicht grundsätzlich verweigern würde. „Je nachdem, welches Verfahren der Gesetzgeber beschreibt, können wir uns selbstverständlich vorstellen, dass das auch in evangelischen Einrichtungen, Kliniken, Altenheimen geschieht. Es ist dann die Frage, wie.“ Eine Position, die in der evangelischen Kirche durchaus umstritten ist. In katholischen Häusern sei ein assistierter Suizid nicht denkbar, betont hingegen Franz-Josef Bormann, Professor für katholische Moraltheologie an der Universität Tübingen. Der Theologe warnt vor einer „schiefen Ebene“, auf die man geraten könne. Er verweist auf die Erfahrungen aus den Niederlanden und Belgien: „Überall dort, wo man einen strukturierten Pfad zur Suizidassistenz geschaffen hat, steigen die Fallzahlen. Es zeigt, dass das Angebot der Suizidassistenz die Nachfrage generiert.“

➔ Immer wieder wird als Alternative bzw. als Gegenmodell zur Sterbehilfe auf die moderne Palliativmedizin und deren Angebote verwiesen. Und wenn Burkhard Schäfers schreibt: »Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin warnt vor der Normalisierung der Suizidbeihilfe«, dann verwundert das erst einmal nicht. Aber offensichtlich ist das nicht so eindeutig, denn er hat seinen Beitrag betitelt mit Palliativmediziner uneins über Sterbehilfe. Auslöser ist eine Stellungnahme von Fachärzten, die ständig mit Schwerstkranken und Sterbenden zu tun haben: Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) schrieb auf deren Aufforderung hin einen Brief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Darin heißt es, die DGP, die rund 6.000 Mitglieder hat, bekräftige ihre ablehnende Haltung zur Suizidbeihilfe. »Das wollen fast 50 Fachleute aus den Bereichen Medizin, Philosophie und Recht so nicht stehenlassen. Eine von ihnen ist Bettina Schöne-Seifert, Professorin für Medizinethik an der Universität Münster.« „An keiner Stelle wird deutlich – was aber Fakt war und ist – dass dieser Vorschlag vom Vorstand alleine stammte und nicht intern abgesprochen war, und nicht mit der zuständigen Ethikkommission wirklich diskutiert und kritisch geprüft – sondern ein Alleingang“, so ihre Kritik. Und weiter: »Die liberale Medizinethikerin befürchtet, dass der Vorstand die DGP politisch instrumentalisiere, indem er ein eindeutiges Votum der Palliativmedizin contra Sterbehilfe suggeriere. Allerdings hätten sich bei einer Umfrage vor fünf Jahren 40 Prozent der Mitglieder für den ärztlich assistierten Suizid ausgesprochen. Trotzdem werde versucht, nach dem Aus für Paragraf 217 erneut hohe Hürden in der Suizidbeihilfe zu erreichen.« Sie befürchtet, dass alte Seilschaften auch im Verhältnis zwischen Kirchengremien und politischen Gremien dafür sorgen werden, dass eine kleinere Schwester von 217 wieder auf den Tisch kommt. Der Vorsitzende der Fachgesellschaft hingegen, Lukas Radbruch, der die Klinik für Palliativmedizin an der Universität Bonn leitet, vertritt eine andere Position: „Es geht ja nicht darum, dass wir irgendjemand den Suizid verbieten. Das kann man nicht in Deutschland, das ist auch nie die Diskussion gewesen. Sondern die Frage ist, wie leicht macht man den Zugang dazu. Wenn man es zu leicht macht, wird doch ein gesellschaftlicher Druck entstehen, dann werden doch vielleicht Menschen diesen Weg gehen, die das später bereuen würden, wenn sie die Gelegenheit dazu gehabt hätten. Da glaube ich tatsächlich, dass Lebensschutz Vorrang haben sollte.“ »Palliativmediziner Radbruch sagt, die liberalen Sterbehilfegesetze in Belgien, den Niederlanden und der Schweiz zeigten, wie rasch ethische Grenzen überschritten würden. Etwa wenn es um Demenzkranke, Kinder und Jugendliche geht.«

Die Politik muss nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ihre Haltung zur geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung neu ordnen. Und nach der Entscheidung aus Karlsruhe ist klar, dass auch der Gesetzgeber tätig werden muss.

Der § 217 StGB unter der Überschrift „Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“

(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht


ist in der bisherigen Fassung mit dem Grundgesetz unvereinbar.

Gesundheitsminister Jens Spahn hat angesichts dieser veränderten Bedingungen Wissenschaftler zur Stellungnahme aufgefordert. Mit einem neuen „legislativen Schutzkonzept“ will der Minister Rechtssicherheit für alle Beteiligten schaffen. Dazu gehören auch die Ärzte.

Der Deutsche Ethikrat ist der Bitte des Ministers nachgekommen und hat über das „Recht auf Selbsttötung?“ diskutiert, so der Titel der Veranstaltung. Zumindest eine weitere Veranstaltung zum Thema ist bereits terminiert. Am 17. Dezember soll es um „Sterbewünsche und suzidales Begehren“ gehen. »Die mehrstündige Debatte im Ethikrat machte deutlich, dass der Karlsruher Richterspruch keineswegs widerspruchsfrei ist. Der Bayreuther Jurist Stephan Rixen etwa betonte, dass die Richter einerseits das Selbstbestimmungsrecht sehr hoch bewertet hätten. Andererseits aber hätten sie Einwände gegen eine gesellschaftliche Normalisierung des Suizids benannt und den Weg für Beratungsangebote geöffnet, die bewusst Alternativen zur Selbsttötung eröffneten«, so dieser Bericht über die Tagung: Debatte im Ethikrat zur Sterbehilfe zeigt Meinungsbandbreite. »Einen breiten Raum in der Debatte nahme die Frage ein, wie der Gesetzgeber sicherstellen kann, dass ein Selbsttötungsentschluss frei verantwortlich ist. Die Kölner Strafrechtlerin Heike Rostalski sah hier die Gefahr eines „Paternalismus durch die Hintertür“. Das wäre der Fall, wenn der Bundestag etwa eine Beratungsregelung einführte oder zeitliche Fristen vorgäbe, um die Dauerhaftigkeit eines Suizidwunsches zu dokumentieren.« Der Heidelberger Gerontologe Andreas Kruse warnte vor einem Trend zur Erleichterung des Suizids. »Kruse warnte, das Karlsruher Urteil könnte dazu beitragen, statt einer anspruchsvollen medizinischen, pflegerischen oder psychologischen Versorgung eher die Lebensbeendigung durch Suizid ins Zentrum öffentlichen und individuellen Interesses zu stellen.« Und der Tübinger katholische Theologe Franz-Josef Bormann wird so zitiert: »Wenn Suizidbeihilfe zur Normalität werde, könne das Alte und Kranke unter Druck setzen, Familie oder Gesundheitssystem von Kosten oder Versorgung zu entlasten.«

Anno Fricke hat in der Online-Ausgabe der „Ärzte Zeitung“ unter der Überschrift Was heißt eigentlich „freies Sterben“? über die Tagung berichtet. Auch er zitiert den Theologen Franz-Josef Bormann. Mit diesem aufschlussreichen Passus: »Es sei … ernst zu nehmen, dass Ärzte nicht zu Beschaffern von Tötungsmedikamenten degradiert werden sollten, sagte Bormann. Gleichwohl sei unbestritten, dass sich eine wachsende Zahl von Ärzten die Suizidassistenz vorstellen könne. Hier bedürfe es eines Quantums Kreativität. Vielleicht müsse ein neuer Berufsstand geschaffen werden, der des Suizidassistenten.«

Mit Sicherheit hat er dabei nicht daran gedacht, dass so etwas bei ganz anderen Akteuren auf einen überaus fruchtbaren Boden fallen wird – bei der sich herausbildenden Sterbehilfewirtschaft. Es gibt verschiedene Organisationen in Deutschland, die gewerbliche Sterbehilfe – nach der Entscheidung des BVerfG wieder – anbieten, darunter auch der Verein Sterbehilfe Deutschland. Aushängeschild dieses Vereins ist der mehr als umstrittene ehemalige Hamburger Justizsenator Roger Kusch. Der freut sich, dass die mehrjährige Zwangspause nun vorbei ist. In einem Interview mit ihm – Gewerbliche Sterbehilfe: „Wir haben eine vernünftig handhabbare Rechtslage“ – relativiert er sogleich die Mehrjährigkeit der Zwangspause. In der zweiten Hälfte »haben wir wieder Sterbehilfe geleistet – und zwar von unserem Züricher Verein aus, da haben wir den Angehörigen von sterbewilligen Mitgliedern die Möglichkeit gegeben, ihren Angehörigen zu helfen.« Helfen, das hört sich so selbstlos an. Er wird auf den Preis angesprochen: Nach den Informationen des Interviewers »kostet die Mitgliedschaft in Ihrem Verein 2.000 Euro und die eigentliche Sterbehilfe selbst dann noch mal 2.700 Euro. Das ist dann schon auch ein lukratives Geschäft oder?« Die Antwort von Kusch: »Nein! Ihre Zahl ist sogar zu niedrig.« Und er klärt auf: Richtig sind die 2.000 Euro als Mitgliedsbeitrag. Und außerdem: Die Sterbehilfe an sich ist „kostenlos“, aber: Wer die Zusage für eine „kostenlose Sterbehilfe“ vom Verein bekommt, »zahlt einen zweiten Mitgliederbeitrag, der ist gestaffelt nach Dauer der Mitgliedschaft zwischen 2.000 und 7.000 Euro.«

Das ist doch mal eine Hausnummer. Für den Anfang.