Zufall oder gut platziert? Eine Großrazzia gegen die Einschleusung von Arbeitskräften aus Osteuropa für Fleischbetriebe – und die eigentlich spannende Frage nach der „illegalen Leiharbeit“

Das sind Schlagzeilen, die aufrütteln (sollen): »Rund 800 Beamte der Bundespolizei sind bei einer Großrazzia im Einsatz. Es geht um die Einschleusung von Arbeitskräften aus Osteuropa für Fleischbetriebe«, wird am 23.09.2020 unter der Überschrift Großrazzia gegen illegale Leiharbeit in der Fleischindustrie gemeldet. Und an anderer Stelle erfährt man: »Mehr als 60 Wohn- und Geschäftsräume hat die Bundespolizei deutschlandweit durchsucht – wegen des Verdachts der illegalen Einschleusung von Arbeitskräften für die Fleischindustrie … Im Fokus der Ermittler steht ein Konstrukt aus verschiedenen Zeitarbeitsfirmen: Über diese sollen in den vergangenen sechs Monaten mindestens 82 Menschen geschleust worden sein. Laut Bundespolizei gibt es zehn Hauptbeschuldigte im Alter von 41 bis 56 Jahren. Darunter sind acht Männer und zwei Frauen. Es gehe um den Vorwurf der banden- und gewerbsmäßigen Einschleusung und der Urkundenfälschung. Beschuldigt sind zwei Firmen, die unabhängig voneinander, aber nach demselben Muster vorgehen sollen. Sie sollen osteuropäische Staatsbürger mit falschen Dokumenten nach Deutschland geholt haben. Zudem sollen mit gefälschten Immatrikulationsbescheinigungen sogenannte Scheinstudenten als „Student in Ferienarbeit“ gebracht worden sein. Die Beschuldigten sollen Unterkünfte zur Verfügung gestellt, Fahrdienste organisiert und die Arbeiter bei Kontoeröffnungen und Behördengängen unterstützt haben … Bei der Razzia entdeckten die Beamten mehr als 20 Menschen, die mit gefälschten Dokumenten illegal beschäftigt worden seien. Sie sollen nun zunächst befragt und anschließend der Ausländerbehörde übergeben werden.«

Das kann man dieser Meldung entnehmen: Razzien in der Fleischindustrie: Ermittlungen wegen illegaler Leiharbeit: »Die Bundespolizei hat deutschlandweit wegen des Verdachts der illegalen Einschleusung Razzien in Geschäfts- und Wohnräumen der Fleischindustrie durchgeführt.« Und zur Sicherheit wird gleich nachgeschoben: »Politiker forderten erneut ein schnelleres Verbot von Leiharbeit in der Branche.«

Ein passender Schlag in der noch wackeligen Phase eines Gesetzgebungsverfahrens?

Moment, wird der eine oder andere möglicherweise an dieser Stelle einwerfen: Hat die medienwirksame Aktion vielleicht etwas zu tun mit einem Gesetzgebungsvorhaben, das derzeit im Parlament behandelt wird? Gemeint ist der Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz (Arbeitsschutzkontrollgesetz), Bundestags-Drucksache 19/21978 vom 31.08.2020. Der Bundestag hat kürzlich den Gesetzentwurf in erster Lesung behandelt. Er sieht vor, dass Kerntätigkeiten in der Fleischwirtschaft wie Schlachten, Zerlegen und Verarbeiten künftig nicht mehr von betriebsfremden Beschäftigten ausgeführt werden dürfen. Werkverträge und Leiharbeit sollen in der Branche von 2021 an verboten sein. Lobbyisten der Fleischindustrie versuchen, den Gesetzentwurf zumindest bei der Leiharbeit noch aufzuweichen. Und sie stoßen damit auch bei Abgeordneten der Regierungsfraktionen angeblich auf offene Ohren.

In so einer Situation könnten dann Schlagzeilen über kriminelle Machenschaften und die deutliche Hervorhebung „illegaler Leiharbeit“ für Unternehmen der Fleischindustrie den Boden dafür bereiten, dass mögliche Widerstände gegen die geplanten Einschränkungen im weiteren Gang der parlamentarischen Befassung beseitigt werden. Entsprechende Reaktionen ließen dann auch nicht auf sich warten: Guido Zeitler, Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), sieht in den Razzien am Mittwoch einen Beleg dafür, dass das Gesetz „ohne Abstriche beschlossen und umgesetzt werden muss“, berichtet das Handelsblatt (24.09.2020). Angesichts der Großrazzia rief der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) die Bundesregierung auf, das Gesetz für mehr Arbeitsschutz in der Fleischbranche „schnell und ohne Abstriche“ durchzusetzen. „Leiharbeit muss wie Werkverträge jetzt verboten werden“, erklärte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Und auch aus der Opposition kommt Schützenhilfe für den Bundesarbeitsminister: Die Grünen-Sprecherin für Arbeitnehmerrechte, Beate Müller-Gemmeke, bezeichnete die Razzien gegen die „kriminellen Machenschaften der Fleischindustrie“ als „überfällig“. Sie rief die Bundesregierung zu raschem Handeln auf. Die Linken-Politikerin Jutta Krellmann drängte ebenfalls auf ein Verbot von Leih- und Zeitarbeit und forderte schärfere Sanktionen, berichtet die Online-Ausgabe der Tagesschau.

Außerdem steht in wenigen Tagen, am 5. Oktober 2020, eine öffentliche Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales im Deutschen Bundestag auf der Tagesordnung, in der es um die Regelungen in dem Gesetzentwurf gehen wird.

Auf der anderen Seite könnte man einwenden, dass solche Razzien im Regelfall nicht per Knopfdruck auf den Weg gebracht werden (können), sondern oftmals am Ende langer Ermittlungen im Vorfeld stehen. So wäre dann auch dieser Hinweis zu lesen: »Die Bundespolizei hat diese Razzia monatelang vorbereitet – um tief einzudringen in den „Sumpf“, wie ein Ermittler das mutmaßliche Schleusernetzwerk nennt.« Claus Hecking und Nils Klawitter berichten unter der Überschrift Der Sumpf von Weißenfels: »Seit Anfang des Jahres ermitteln die Fahnder unter Federführung der Soko der Bundespolizeiinspektion Kriminalitätsbekämpfung Halle gegen ein Konstrukt aus verschiedenen Leiharbeitsfirmen. Diese sollen systematisch Menschen aus Belarus, der Ukraine, dem Kosovo und Georgien mithilfe gefälschter Papiere oder als sogenannte Scheinstudenten nach Deutschland gebracht haben – um sie an hiesige Schlachthöfen zu verdingen. Die Erträge aus dem illegalen Geschäftsmodell bezifferten die Ermittler auf 1,5 Millionen Euro … Die Ermittlungen begannen zu Jahresanfang, nachdem die Polizei bei Kontrollen an Grenzübergängen und Bahnhöfen immer wieder Reisende mit falschen Dokumenten entdeckt hatte – und sich Hinweise auf einen illegalen Einsatz in der Fleischindustrie verdichteten.« Hervorgehoben wird dann aber auch: Die »Großrazzia vom Mittwoch zeigt, wie dubios die Strukturen bei der Rekrutierung und Beschäftigung der Niedriglöhner sind.« Und daran anknüpfend wird der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zitiert: Für ihn »ist die Razzia eine Bestätigung, „dass wir mit unserem Gesetz auf dem richtigen Weg sind“. In Teilen der Fleischindustrie sei „die kriminelle Ausbeutung der Beschäftigten leider noch an der Tagesordnung“. Die geplanten Änderungen dürften deshalb „nicht durch lautes Gebrüll der Lobby verwässert werden“.«

Jan Keuchel und Michael Verfürden berichten in der Print-Ausgabe des Handelsblatts vom 24.09.2020 unter der Überschrift „Großrazzia in der Fleischindustrie“: Es soll sich »bei den zwei Firmen um Unternehmen mit den Namen Berkana und ICR handeln. Sechs der Verdächtigen wurden noch am Mittwoch vernommen, vier konnte die Polizei zunächst nicht auffinden … Bei sechs Beschuldigten handelt es sich laut Polizei um deutsche Staatsangehörige mit russischem Hintergrund. Hinzu kämen drei Polen und eine Frau aus der Ukraine. Sie sollen mindestens 82 Menschen aus Osteuropa mit gefälschten Dokumenten nach Deutschland geholt haben … Die Beschuldigten sollen die Arbeiter in Deutschland bei Behördengängen unterstützt und ihnen Unterkünfte und Transport organisiert, diese Leistungen aber auch vom Lohn abgezogen haben. Die Ermittler haben Werte in Höhe von 1,5 Millionen Euro beschlagnahmt. Den illegal eingereisten Leiharbeitern drohe nun die Ausweisung.« Seit Ende 2017 »vermehrt festgestellt, dass gefälschte Personaldokumente nicht nur zur illegalen Einreise genutzt werden, sondern auch für Verwaltungsformalitäten, die als Voraussetzung für eine scheinbar legale Arbeitsaufnahme in der Branche notwendig sind. Dabei gehe es etwa um die Anmeldung beim Einwohnermelde-, dem Gewerbe- oder auch dem Gesundheitsamt … Rekrutiert werden die Arbeiter in der Regel über Online-Stellenanzeigen, Posts in den sozialen Netzwerken, über ukrainische Personalvermittler und Visa-Agenturen oder über mündliche Empfehlungen. Die Interessenten übermitteln Passbilder und Kopien der Datenseite ihrer E-Reisepässe an die Schleuser, die wiederum die gefälschten Dokumente erstellen.«

Und wieder einmal wird ein Netzwerk an Profiteuren erkennbar: »Auch Banken und Versicherungen sind nach Erkenntnissen der Ermittler betroffen. Hierbei würden auch Vermögensberater mitverdienen: Sie eröffnen auf Provisionsbasis Bankkonten, ohne die Dokumente zu prüfen, oder drängen Arbeitern Bausparverträge oder Lebensversicherungen auf. Die Prämien teilen sie mit den Anwerbern.«

Und weiter erfahren wir: »Die Einreise erfolgt in der Regel über Polen oder Rumänien, zumeist per Minivan oder Fernbus. Der Preis pro Interessent liegt laut den Ermittlern bei 300 bis 400 Euro. Die Tatverdächtigen stammen demnach überwiegend aus der Ukraine oder Moldawien.«

Dass die Menschen aus diesen Ländern kommen, ist aus Sicht der Experten nicht wirklich verwunderlich: »Dass die Vermittler ihre Leiharbeiter außerhalb der EU rekrutieren mussten, sei ein Resultat der Zustände in den Schlachthöfen, sagt Szabolcs Sepsi von der Beratungsstelle Faire Mobilität des Deutschen Gewerkschaftsbundes. „Die Fluktuation ist hoch, und das System braucht ständig Nachschub. Aber mittlerweile finden Sie nicht einmal mehr in Rumänen Leute, die zu diesen Bedingungen arbeiten wollen.“« (Hecking/Klawitter 2020).

Was macht man mit den Menschen, die aus bitterer Not in ihrer Heimat hier hoffen, ihr Glück finden zu können? Der folgende Satz aus dem Artikel von Keuchel und Verfürden spricht für sich:

„Die Arbeiter landen in der Fleischindustrie, aber auch in der häuslichen Pflege oder der Zwangsprostitution.“

Und auch bei der aktuellen Aktion stoßen wir wieder ganz schnell auf Tönnies – gleichsam der Auslöser für das laufende Gesetzgebungsverfahren, ein Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit im Kernbereich der Schlachtindustrie betreffend: »Von Weißenfels aus vermittelte die Berkana offenbar Leiharbeiter an mehrere Fleisch verarbeitende Betriebe in Sachsen-Anhalt und Sachsen – unter anderem auch an das örtliche Tönnies-Werk.«

Von Wiederholungstätern und nicht so schnellen Arbeitsschutzbehörden

Das Unternehmen Tönnies war erst kurz vor den Razzien erneut in die Schlagzeilen geraten: Vor Corona-Ausbruch: Gravierende Arbeitsschutzverstöße bei Tönnies, so der Bericht von Henrik Hübschen und Marc Steinhäuser vom 20.09.2020: »Es ist eine lange Liste an Versäumnissen: Auf fünf Seiten hält die Bezirksregierung Detmold Mitte Mai fest, an welchen Stellen die Firma Tönnies wenige Wochen vor dem Corona-Ausbruch gegen die SARS-CoV2-Arbeitsschutzstandards verstößt und dabei das firmeneigene Hygiene-Konzept missachtet. Eine Kontrolle am 15. Mai 2020 ergab demnach: „Im gesamten Bereich der Schlachtung tragen die Mitarbeiter keine Mund-Nasen-Bedeckung.“ Das geht aus Berichten des Arbeitsschutzes hervor, die dem WDR-Magazin Westpol vorliegen. Demnach wurde Tönnies in der Pandemie zwischen Mitte März und Mitte Mai zunächst überhaupt nicht kontrolliert. Erst nach dem Corona-Ausbruch bei der Firma Westfleisch Anfang Mai rückten Kontrolleure in anderen Schlachtbetrieben an, so auch bei Tönnies. In Rheda-Wiedenbrück waren die Mängel offensichtlich: In der Kantine wurden „keine Maßnahmen getroffen, um die Anzahl der Sitzplätze zu reduzieren“, zudem sei keine Zwischenreinigung oder Desinfektion erfolgt. Insgesamt sehen die Arbeitsschützer an diversen Stellen im Betrieb Mitte Mai „gravierende Mängel im Hinblick auf die Vorgaben der SARS-CoV2- Arbeitsschutzstandards.“ Tönnies versprach schriftlich Besserung … Doch bis zur nächsten Vor-Ort-Kontrolle der Bezirksregierung vergehen zwei Wochen … Die Bezirksregierung teilte auf Anfrage mit, „schwerwiegende Mängel“ seien im Mai abgestellt worden … Mitte Juni gerät Tönnies in die Schlagzeilen – mehr als 2000 Mitarbeiter hatten sich mit Corona infiziert. Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) erklärt vielsagend, jetzt werde man „streng nach Recht und Gesetz verfahren.“ Plötzlich droht die Bezirksregierung Tönnies mit Zwangsgeldern für fehlende Unterlagen … erneute Kontrollen während der durch Corona bedingten zwischenzeitlichen Betriebsstilllegung fördern auf einmal grundsätzliche Probleme zutage: Ende Juni und Anfang Juli finden Prüfer nun gefährliche Arbeitsplätze bei Tönnies.« Die bedient Autoren stellen die entscheidende Frage: »Doch warum schaut der Arbeitsschutz erst nach dem Corona-Ausbruch bei Tönnies so gründlich hin?«

Wie ist das eigentlich mit dem (Nicht-)Hinschauen bei „Werkverträgen“?

An dieser Stelle können wir dann wieder den Kreis schließen zu den aktuellen Razzien gegen die Menschenbeschaffer der Fleischindustrie. In allen Meldungen wird von „illegaler Leiharbeit“ gesprochen. Das nun ist höchst interessant und bedeutsam.

Um das besser einordnen zu können, sei hier mein Beitrag Wenn Tönnies & Co. ihre Arbeiter nicht mehr über Subunternehmen und Werkverträge ausbeuten würden, dann kostet das eine Handvoll Cent. Zugleich aber ist die Engführung auf Werkverträge problematisch aufgerufen, der am 5. Juli 2020 veröffentlicht wurde. Dort findet man diese Aussage: »Ich habe immer wieder die These vertreten, dass es sich bei vielen Werkverträgen in der Fleischindustrie in Wirklichkeit um unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung handelt.« Zu dieser Wahrnehmung der „Werkverträge“ in der Felischinsurtei vgl. auch den Beitrag Zustände in der Fleischindustrie: Werkverträge oder illegale Arbeitnehmerüberlassung? von Elmar Wigand vom 12. Mai 2020, der zu dem Ergebnis kam: »Es ist völlig eindeutig, dass das bloße Stellen von Arbeitern nicht Gegenstand eines Werkvertrages sein kann.«

In diesem Kontext hatte ich den Beitrag Wem hilft eine Abkehr von Werkvertrag und Leiharbeit? von Anselm Elles und Otto A. Strecker vom Beratungsunternehmen AFC Consulting Group zitiert. Die haben ausgeführt: »Es ist wahrscheinlich, dass ein Teil der Werkverträge die rechtlichen Anforderungen an solche Vertragsverhältnisse nicht erfüllen kann. Dies setzt nämlich voraus, dass der Subunternehmer die tatsächliche Kompetenz hat, einen Betrieb im Betrieb zu organisieren, er die Personalsteuerung und Gewährleistung übernimmt und anderes mehr. Kaum zu glauben, dass dies für die Hälfte aller Beschäftigten in den großen Schlacht- und Zerlegebetrieben gelten soll. Anstatt aber einem Missbrauch durch Schein-Werkverträge wirksam zu begegnen, will man die Vertragsmodelle an sich verbieten. Das ist so, als wollte man zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit die Selbständigkeit an sich abschaffen.«

Anders formuliert: Hätten die angeblichen Werkverträge bei Tönnies & Co. nicht schon lange vor Corona dahingehend überprüft und verfolgt werden, ob es sich nicht in Wahrheit um „illegale Leiharbeit“ handelt? Warum sind die Behörden diesen seit langem vorgetragenen Vermutungen nie nachgegangen? Wir haben hier also eine vergleichbare Fragestellung wie die, warum die zuständigen Arbeitsschutzbehörden in Nordrhein-Westfalen erst dann wirklich gezuckt haben, als das Tönnies-Imperium in den Corona-Strudel versunken ist.

Auch Anselm Elles und Otto A. Strecker haben ihre Bedenken zu Papier gebracht: »Das Vorhaben des Arbeitsministers lenkt davon ab, dass auch die Behörden in Bezug auf die Enge in den Betrieben auf beiden Augen blind gewesen sein müssen. In Schlachthöfen sind täglich zahlreiche amtliche Veterinäre vor Ort. Deren Hauptaufgabe ist zwar „nur“ die Überwachung der Fleischhygiene. Wenn aber die Verstöße gegen Corona-bedingte Hygieneanforderungen so eklatant sind, hätte man wohl den einen oder anderen Hinweis an andere Aufsichtsbehörden erwarten müssen. Da es sich um Hochrisiko-Betriebe handelt, hätte man ohnehin mit verstärkten Kontrollen auch durch Gesundheitsämter und die amtliche Lebensmittelüberwachung rechnen dürfen. Ein massives Defizit der staatlichen Kontrollsysteme ist erkennbar.«

Das sollten wir in Erinnerung behalten, wenn der Gesetzgeber möglicherweise die Inanspruchnahme von Werkverträgen und auch Leiharbeit in den Kernbereichen der Schlachtindustrie formal verbietet durch das als Entwurf vorliegende „Arbeitsschutzkontrollgesetz“. Denn dort findet man neben anderen Regulierungen diese, für den Arbeitsschutz gut gemeinte, aber ganz offensichtlich frustrierende Perspektive aufgezeigt: die Einführung einer Mindestbesichtigungsquote. Schauen wir in den Gesetzentwurf:

Im § 21 des Arbeitsschutzgesetzes soll ein neuer Absatz 1a eingefügt werden:
»Die zuständigen Landesbehörden haben bei der Überwachung nach Absatz 1 sicherzustellen, dass im Laufe eines Kalenderjahres eine Mindestanzahl an Betrieben besichtigt wird. Beginnend mit dem Kalenderjahr 2026 sind im Laufe eines Kalenderjahres mindestens 5 Prozent der im Land vorhandenen Betriebe zu besichtigen (Mindestbesichtigungsquote). Von der Mindestbesichtigungsquote kann durch Landesrecht nicht abgewichen werden. Erreicht eine Landesbehörde die Mindestbesichtigungsquote nicht, so hat sie die Zahl der besichtigten Betriebe bis zum Kalenderjahr 2026 schrittweise mindestens so weit zu erhöhen, dass sie die Mindestbesichtigungsquote erreicht.«

Ab 2026 sollen 5 Prozent der Betriebe „besichtigt“ werden. Dazu will man die Länder verpflichten. Aber immerhin werden neue Jobs geschaffen, denn im § 23 des Arbeitsschutzgesetzes soll folgender Absatz 5 eingefügt werden: »Bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin wird zur Intensivierung der Bundesaufsicht über die Aufsichtstätigkeit der Länder eine Bundesfachstelle für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit eingerichtet. Sie hat die Aufgabe, die Jahresberichte der Länder einschließlich der Besichtigungsquote nach § 21 Absatz 1a auszuwerten und die Ergebnisse für den statistischen Bericht über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und über das Unfall- und Berufskrankheitengeschehen in der Bundesrepublik Deutschland … zusammenzufassen.« Das ist doch mal was.

Ein krankes und krankmachendes System

Um bei all diesen juristischen Details nicht den Blick auf das zu verlieren, was in dieser Branche in einem Teil der Unternehmen jeden Tag abläuft, sei dieser Beitrag empfohlen: Das Schweinesystem: Was Insider über die Ausbeutung in der Fleischindustrie verraten: »In deutschen Schlachthöfen werden Menschen und Tiere gleichzeitig ausgebeutet, sagen Insider. Sie berichten von Alkoholsucht, Druck und Gewalt«, so Sebastian Leber. Er bezieht sich auf Rechercheergebnisse des Vereins „Soko Tierschutz“: «Seine Rechercheure haben selber in den überfüllten Sammelunterkünften gelebt, in Sälen mit Stockbetten geschlafen.« Und dann solche Erfahrungen zu Tage gefördert: »Da seien zum Beispiel die Arbeiter afrikanischer Herkunft, die für 16-Stunden-Schichten, sechs Tage die Woche, im Monat knapp 700 Euro erhielten. Einer verletzte sich, hatte eine tiefe Schnittwunde an der Hand und erklärte seinem Vorarbeiter, er brauche Hilfe. Der Vorarbeiter schickte ihn blutend zurück auf seinen Posten. Er sagte nur: „Arbeiten! Arbeiten! Zeit ist Geld!“.«

Es handelt sich um ein krankes System, das „beschämende und menschenverachtende Zustände“ nicht nur toleriere, sondern gezielt hervorbringe. In dem Artikel wird auch Karin Vladimirov von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) zitiert mit Blick auf die Werkverträge: »Ein zentraler Fehler dieses Systems sei, dass Fleischkonzerne das Schlachten und Zerlegen von Tieren an Subunternehmen auslagern könnten. Von den geschätzt 40 000 Arbeitern in deutschen Schlachthöfen verfügen etwa drei Viertel über Werkverträge, viele kommen aus Bulgarien oder Rumänien und erhalten Dumpinglöhne.« Soweit, so bekannt. Aber lesen wir weiter, denn die Gewerkschafter berichtet davon, wie die Unternehmen versuchen, den legal erscheinenden Anstrich zu wahren: »Sie berichtet von Menschen, die „psychische und physische Schwerstarbeit verrichten müssen“. Durch die Farbe ihrer Mützen seien die Werkarbeiter von der Stammbelegschaft leicht unterscheid- und somit separierbar: „Sowohl am Fließband als auch in den Pausenräumen ist ihnen untersagt, sich mit der Stammbelegschaft zu unterhalten.“ Die Unternehmen wollten so verhindern, dass die Werkarbeiter von grundlegenden Arbeitnehmerrechten und Standards erführen, auf die sie sich dann berufen könnten. In manchen Betrieben gebe es extra Sicherheitskräfte, die aufpassten, dass die verschiedenen Gruppen nicht zueinanderfinden.«

Und die Gewerkschafterin sagt auch, dass seit Jahren Verbesserungsvorschläge gemacht wurden. Mit welchem Ergebnis?

Karin Vladimirov von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG)sagt: „Wir haben in Gesprächen oft die Hände gereicht. Es wurde immer auf sie draufgehauen.“

Abschließend zurück zu den Erfahrungen der „Soko Tierschutz“: »Um die eigene Ausbeutung, aber auch die Misshandlungen des Viehs zu ertragen, flüchteten sich viele in massiven Alkoholkonsum. In einem großen Schlachthof in Bayern werde der Kopfschlächter, also derjenige, der für das Betäuben der Tiere und Durchtrennen der Hauptschlagader verantwortlich ist, von seinen Kollegen „Weißbier“ genannt. „Der Mann erscheint schon morgens alkoholisiert zur Arbeit, und zwar täglich.“ … „Es sind keine Ausnahmen, die wir aufgedeckt haben“, sagt Mülln, „ganz im Gegenteil. In der Fleischbranche führt jede Stichprobe zum Treffer.“ Sieben Schlachthöfe hat die „Soko Tierschutz“ bislang infiltriert, in allen wurden massive Verstöße dokumentiert. Sechs der Betriebe wurden von den Behörden dauerhaft stillgelegt. „Die hohe Schließquote liegt nicht am Eifer der Behörden“, sagt Friedrich Mülln, „sondern daran, dass die Missstände derart gravierend waren. Ihnen blieb keine andere Wahl.“«

Und auch hier stoßen wir wieder auf das „Kontrollproblem“. Es wurde bereits bei der Tönnies-Debatte der Hinweis vorgetragen, dass doch Veterinäre in den Unternehmen vor Ort anwesend seien und dass die eingreifen könnten/müssten, wenn es Arbeitsschutzverstöße gibt. Warum soll das gelingen, wenn sie nicht einmal da eingreifen, wofür sie zuständig sind, also beim Tierschutz? Dazu nur dieser Passus:

»Bei großen Betrieben muss ständig ein amtlicher Veterinär anwesend sein. Dass dieser im Zweifel wegsehe, liege auch daran, dass die eingesetzten Aufpasser keine Beamten seien. Die hoheitliche Aufgabe der Kontrollen werde an private Tierärzte ausgelagert. „Die hängen natürlich an ihrem Job, und wenn sie zu oft den Betrieb aufhalten, werden sie ausgetauscht.“ In ländlichen, bevölkerungsarmen Regionen kämen zudem persönliche Beziehungen zwischen Veterinären und Schlachthofpersonal vor – und sei es nur, dass die Kinder dieselbe Kita besuchen.«