Aus der Pflege- und Betreuungswelt 2020: Große regionale Unterschiede beim Anteil der Menschen mit Demenz. Und aus der Praxis: Der Heimplatz einer dementen Bewohnerin muss von einem Oberlandesgericht geschützt werden

In Deutschland leben nach jüngsten epidemiologischen Schätzungen rund 1,6 Millionen Menschen mit Demenz. Die meisten von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Durchschnittlich treten Tag für Tag etwa 900 Neuerkrankungen auf. Sie summieren sich im Lauf eines Jahres auf mehr als 300.000. Infolge der demografischen Veränderungen kommt es zu weitaus mehr Neuerkrankungen als zu Sterbefällen unter den bereits Erkrankten. Aus diesem Grund nimmt die Zahl der Demenzerkrankten kontinuierlich zu. Sofern kein Durchbruch in Prävention und Therapie gelingt, wird sich nach unterschiedlichen Vorausberechnungen der Bevölkerungsentwicklung die Krankenzahl bis zum Jahr 2050 auf 2,4 bis 2,8 Millionen erhöhen. Dies entspricht einem mittleren Anstieg der Zahl der Erkrankten um 25.000 bis 40.000 pro Jahr oder um 70 bis 110 pro Tag. Die Demenz trifft dabei, aufgrund der unterschiedlichen Lebenserwartung, in etwa zwei Drittel der Fälle Frauen (vgl. zu den Daten Deutsche Alzheimer Gesellschaft: Die Häufigkeit von Demenzerkrankungen, 2020).

Die meisten Menschen mit Demenz (etwa 75 %) leben in der eigenen Häuslichkeit und werden von ihrem Ehepartner oder aber den Kindern bzw. Schwiegerkindern betreut und gepflegt, was viel Engagement und Verzicht verlangt. Pflegende Angehörige stellen daher die wichtigste Säule in der Versorgung dar. Aber auch in den Pflegeheimen hat die Zahl und der Anteil der Menschen mit einer Demenz-Erkrankung in den zurückliegenden Jahren kontinuierlich zugenommen. Damit gehen ganz besondere Herausforderungen für die Pflegeheime einher, man denke hier nur neben dem erhöhten Betreuungs- und Pflegeaufwand (und das beispielsweise oftmals zu den am schlechtesten besetzten Zeiten, aufgrund der Nachtaktivität vieler Menschen mit Demenz) oder den architektonischen Herausforderungen, um Schutz und Sicherheit gewährleisten zu können.

Darüber hinaus gilt auf einer ganz abstrakten Ebene mit überaus konkreten Auswirkungen: »Die Versorgung dieser wachsenden Patientengruppe stellt das Gesundheitssystem sowie die Familien der Betroffenen vor Herausforderungen. Aus der Perspektive der Versorgung liegt die Herausforderung in einer sektorenübergreifenden Zusammenführung adäquater medizinischer, pflegerischer, psychosozialer, medikamentöser und nichtmedikamentöser Leistungen sowie sozialer Unterstützungsangebote. Diese Versorgungsleistungen sind wichtig, um den Komplikationen der Erkrankung entgegenzuwirken, ihre Progression zu verlangsamen und den Betroffenen so lange wie möglich ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben bei hoher Lebensqualität und sozialer Teilhabe in der eigenen Häuslichkeit zu ermöglichen.« (Bernhard Michalowsky, Anika Kaczynski und Wolfgang Hoffmann (2019): Ökonomische und gesellschaftliche Herausforderungen der Demenz in Deutschland – Eine Metaanalyse, in: Bundesgesundheitsblatt, Heft 8/2019, S. 981)

So etwas muss und kann nur vor Ort organisiert und sichergestellt werden. Die lokale und regionale Ebene allerdings ist sehr unterschiedlich betroffen, denn neue Forschungen verdeutlichen, dass es erhebliche regionale Unterschiede gibt, die man natürlich kennen und berücksichtigen sollte.

Demenzerkrankungen sind regional in Deutschland unterschiedlich verteilt – und daraus resultieren dann auch unterschiedliche Herausforderungen für die Versorgung

»Bei der bundesweiten Verteilung von Menschen mit Demenz gibt es große regionale Unterschiede. Das ist das Ergebnis einer Studie des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und der Universitätsmedizin Greifswald … Der Studie zufolge liegt der Anteil von Menschen mit Demenz an der Gesamtbevölkerung auf Kreisebene derzeit zwischen ungefähr 1,4 und drei Prozent«, berichtet das Deutsche Ärzteblatt unter der Überschrift Demenzerkrankungen bundesweit unterschiedlich verteilt. Beim DZNE findet man diesen Beitrag: Verteilung von Menschen mit Demenz in Deutschland: Studie zeigt deutliche regionale Unterschiede. »Das Forschungsteam um Thyrian untersuchte anhand aktueller Daten, wie sich Demenzbetroffene über Deutschland verteilen. Für die Studie … schätzten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Anzahl von Betroffenen auf Kreisebene: Kreisfreie Städte und Kreise bilden jeweils eine geografische Einheit. Für jede einzelne der insgesamt 401 geografischen Einheiten berechneten die Forschenden die Anzahl der an Demenz erkrankten Personen im Alter ab 65 Jahren. Zudem errechneten sie den prozentualen Anteil von Menschen mit Demenz an der Gesamtbevölkerung sowie die regionale Bevölkerungsdichte für Betroffene.«

Ein Befund der Studie ist, dass es in Deutschland Gegenden gibt, in denen prozentual gesehen doppelt so viele Betroffene leben wie in anderen Teilen der Republik. Während beispielsweise im Kreis Freising der Anteil an Menschen mit Demenz an der Bevölkerung bei 1,4  Prozent liegt, so ist dieser Anteil in Görlitz oder Dessau-Roßlau mit mehr als 2,9  Prozent etwa doppelt so hoch. Man muss – immer schon mit Blick auf die Versorgung dieser Menschen – hinsichtlich der Bevölkerungsdichte unterscheiden: Die Ursache für den hohen Anteil von Demenzbetroffenen in einigen ländlichen Kreisen liegt in der Altersstruktur der jeweiligen Region, denn dort leben überdurchschnittlich viele ältere Menschen. In Ballungsgebieten wie etwa dem Ruhrgebiet gibt es ebenfalls einen hohen Anteil von Menschen mit Demenz aufgrund der Altersstruktur und weil diese Regionen zudem sehr dicht besiedelt sind. „In dünn besiedelten Gebieten ist der Weg zur nächsten ärztlichen Praxis oder Tagespflege in der Regel weit. Das macht die spezialisierte, wohnortnahe Versorgung schwierig. Denn betagte Menschen und besonders Menschen mit Demenz sind meist nur eingeschränkt mobil“, wird der Mitverfasser der Studie, Jochen René Thyrian, zitiert.

Die Versorgung muss regional angepasst optimiert werden. Dazu noch einmal Jochen René Thyrian: „Jeder Kreis steht vor einer individuellen Herausforderung. Es sollte geprüft werden, inwieweit die bisherigen Strukturen in der Region angemessen sind. Wenn es mehr Demenzbetroffene als bislang angenommen gibt, bräuchte man mehr Versorgungsangebote. Auch in der Stadtplanung kann man darauf achten, zum Beispiel durch mehr barrierefreie öffentliche Plätze und Gebäude. Ob der Anteil an Demenz erkrankter Menschen an der Gesamtbevölkerung eines Kreises ein Prozent oder drei Prozent beträgt, macht nun mal einen bedeutenden Unterschied. Es sollte also passgenaue regionale Lösungen geben, da die Kreise unterschiedlich betroffen sind.“

Solche Befunde passen in die seit langem geforderte Kommunalisierung/Regionalisierung der Pflegepolitik, denn die erforderlichen multidimensional angelegten Infrastrukturen und Dienste kann man nur vor Ort sinnvoll und das heißt differenziert entwickeln.

Die hier vorgestellte Studie im Original:

➔ Jochen René Thyrian et al. (2020) Die Prävalenz an Demenz erkrankter Menschen in Deutschland – eine bundesweite Analyse auf Kreisebene, in: Der Nervenarzt, published online: 12 May 2020

Ein Blick nach ganz unten: Wenn einem dementen Mensch auf einer Demenzstation in einem Pflegeheim der Platz gekündigt werden soll, dann kann nur ein Gericht helfen

»Für viele ist es eine Erleichterung, für sich oder ältere Angehörige endlich einen Platz in einem Seniorenheim gefunden zu haben. „Auf Dauer“ soll es dann meist sein. Mit einer Kündigung rechnet man nicht. Doch auch hier kann es zu Kündigungen kommen.« So beginnt eine Pressemitteilung des Oberlandesgerichts Oldenburg, die unter der noch offen gehaltenen Überschrift Verlust des Zimmers im Seniorenheim? steht. Der Frage wird aber sogleich das hier nachgeschoben: „Kündigung unwirksam“. Um welchen Sachverhalt ging es hier?

»Die alte Dame zog 2015 in die Demenzabteilung des Heims in Osnabrück. Nachdem die Seniorin nach einem Krankenhausaufenthalt medikamentös neu eingestellt wurde, zeigte sie sich viel unruhiger als zuvor. Das Heim erklärte die Kündigung und forderte den Auszug der Seniorin. Die Heimleitung behauptete, die alte Dame störe den Heimfrieden erheblich, laufe ständig umher, gehe in die Zimmer anderer Bewohner, öffne dort Türen und Fenster und schaue bei der Intimpflege zu. Sie sei aggressiv und boxe die Pflegekräfte, stelle ihnen und anderen Bewohnern das Bein und fahre sie mit dem Rollator an. Außerdem esse und trinke sie nicht mehr richtig. Sie stelle eine Gefahr für sich und andere dar.«

Der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts hat den Streit um die Kündigung zwischen einem Heim und einer Heimbewohnerin rechtskräftig entschieden: Die Seniorin darf im Heim wohnen bleiben. Die Kündigung ist unwirksam.

»Das Landgericht Osnabrück wies die Räumungsklage des Heims ab. Die Kündigung sei unwirksam. Der Senat bestätigte die Entscheidung des Landgerichts. Ein Heimvertrag könne von Seiten des Heims nur aus wichtigem Grund gekündigt werden (§ 12 Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz – WBVG), wenn dem Heim ein Festhalten am Vertrag nicht zumutbar sei. Dies sei hier nicht der Fall. Abzuwägen seien die Interessen des alten Menschen, einen Umzug und die damit verbundenen Schwierigkeiten zu vermeiden und die Interessen des Heims, sich von dem Vertrag zu lösen. Vorliegend sei zu berücksichtigen, dass dem Heim die Demenzerkrankung der alten Dame bereits bei deren Einzug bekannt gewesen sei. Gewisse Verhaltensauffälligkeiten seien daher hinzunehmen. Es sei auch nicht erkennbar, dass es tatsächlich schon zu Sach- oder gar Körperschäden gekommen sei. Das Heim habe auch nicht dargestellt, dass es bereits Maßnahmen ergriffen habe, um die Seniorin von dem geschilderten Verhalten abzuhalten. Die Abwägung ergebe, dass sich das behauptete Verhalten der alten Dame in dem Rahmen bewege, der von dem Betreiber eines Pflegeheims von Bewohnern einer Demenzabteilung noch hingenommen werden müsse. Die alte Dame darf ihr Zimmer jetzt behalten.«