Ein „Doppelpack“ vom Bundesverfassungsgericht zugunsten des Streikrechts der Gewerkschaften

Das mit dem Streikrecht ist in Deutschland so eine Sache. Immer wieder wird auf unsere Verfassung verwiesen, konkret auf Artikel 9 Grundgesetz, der diesen Absatz 3 enthält: »Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.« Das war’s dann auch schon mit dem, was die Verfassung zu einem Streikrecht ausführt. In Deutschland gibt es kein Streikgesetz und auch kein ausdrücklich so genanntes „Recht auf Streik“, doch in langjähriger Rechtsprechungspraxis hat sich das faktische Streikrecht durch die Entscheidungen der Gerichte – vor allem des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts – etabliert und konkretisiert. Wir haben es in diesem Bereich vor allem mit Richterrecht zu tun. Wichtig dabei: Ein Streik muss von einer Gewerkschaft ausgerufen werden und zudem bestimmte Kriterien erfüllen, um nicht rechtswidrig zu sein.

Vor diesem Hintergrund sind zwei aktuelle Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu lesen, mit denen ausdrücklich das Streikrecht auf Seiten der Arbeitnehmer gestärkt wird.

Aus den Untiefen des Dauerkonflikts zwischen dem Online-Handelsgiganten Amazon und der Gewerkschaft ver.di: Der Betriebsparkplatz des Versandhändlers ist kein verfassungsrechtlich vor Arbeitskampfmaßnahmen schützenswertes Gut

Die meisten kennen die Meldungen von immer wiederkehrenden Streikaktionen der Gewerkschaft ver.di vor den Toren der Versandlager von Amazon. Seit Jahren versucht die Gewerkschaft, den amerikanischen Handelsgiganten in die (deutsche) Tarifbindung zu zwingen, bislang ohne erkennbaren Erfolge. Und Amazon versucht vor Ort, den Bewegungsspielraum der zumeist überschaubaren Streikteilnehmer zu begrenzen. Also ganz praktisch: Man wollte vermeiden, dass diese Gewerkschafter auf den großen Betriebsparkplätzen für ihre Sache werben. Zum Sachverhalt kann man der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. August 2020 – Verfassungsbeschwerden gegen Streikmaßnahmen auf dem Betriebsgelände der Arbeitgeberinnen erfolglos – entnehmen:

»Seit 2014/2015 kommt es bei den beiden beschwerdeführenden großen, nicht tarifgebundenen Handelsunternehmen zu gewerkschaftlich initiierten Streiks. Die Gewerkschaft zielt auf Anerkennungstarifverträge dieser Arbeitgeber für die einschlägigen Tarifverträge des Einzel- und Versandhandels. An einzelnen Streiktagen versammelten sich daher Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaft mit den streikenden Beschäftigten kurz vor Schichtbeginn auf dem jeweiligen Betriebsparkplatz. Dieser ist sehr groß und durch Schilder als Privatgrundstück gekennzeichnet. Er befindet sich direkt vor dem Haupteingang des Betriebs, der nur über den Parkplatz erreicht werden kann, und wird aufgrund der außerörtlichen Lage auch von fast allen Beschäftigten genutzt.«

Amazon hat sich auf das Hausrecht auf dem Parkplatz berufen, um jede Streikpostenaktivitäten auf ihrem Parkplatz dort zu untersagen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschied nach Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen, dass die Streikmaßnahmen dort hinzunehmen seien – dazu das Urteil vom 20.11.2018, 1 AZR 189/17. Das BAG hat das Ansinnen von Amazon wie schon zuvor das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 29. März 2017 – 24 Sa 979/16 zurückgewiesen. Das LAG hatte ausgeführt: »Amazon müsse eine Einschränkung ihres Besitzrechtes im Hinblick auf die von Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz geschützte gewerkschaftliche Betätigungsfreiheit hinnehmen. Ver.di könne angesichts der örtlichen Verhältnisse mit der Belegschaft nur auf dem Parkplatz kommunizieren und arbeitswillige Mitarbeiter zur Teilnahme an dem Arbeitskampf auffordern. Die betriebliche Tätigkeit von Amazon würde hierdurch nicht beeinträchtigt; auch müsse Amazon keine weiteren Betriebsmittel zur Unterstützung des Arbeitskampfes zur Verfügung stellen.«

Das Bundesverfassungsgericht hat nun in aller Klarheit die Urteile der Vorinstanzen bestätigt (vgl. ausführlich BVerfG, Beschluss vom 09. Juli 2020 – 1 BvR 719/19).

»Das Bundesarbeitsgericht stellt zentral darauf ab, dass die Gewerkschaft ihre Rechte überhaupt wahrnehmen können muss. Zum Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG gehöre daher auch die persönliche Ansprache der Arbeitswilligen vor Antritt der Arbeit, um sie zum Streik mobilisieren zu können. Die Beschwerdeführerinnen müssten eine damit verbundene Einschränkung ihrer Rechte hinnehmen. Das Bundesarbeitsgericht hat insoweit geprüft, ob andere Möglichkeiten bestanden, den Streik durchzuführen. Wenn das Gericht hier unter Berücksichtigung der örtlichen Umstände zu der Überzeugung gelangt, dass die konkret auf eine Arbeitskampfmaßnahme bezogene Ansprache Arbeitswilliger nur auf dem Betriebsparkplatz möglich sei, ist das verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.«

Und ein Verbot des Einsatzes von streikbrechender Leiharbeit ist verfassungsrechtlich in Ordnung. Eine wichtige Entscheidung aus Karlsruhe

Nur einen Tag nach der Amazon-Entscheidung wurde eine weitere und überaus bedeutsame arbeitsrechtliche Ansage aus Karlsruhe bekannt: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen das Verbot des Einsatzes von Streikbrechern, so ist die Pressemitteilung des Gerichts überschrieben.

In der Vergangenheit wurde man immer wieder mit dem Einsatz von Leiharbeitern gegen streikende Arbeitnehmer eines Unternehmens konfrontiert – eine aus Sicht der Arbeitgeber nachvollziehbare Umgehungsstrategie, aus Sicht der Gewerkschaften natürlich ein massives Unterlaufen der durch den Arbeitskampf beabsichtigten Schädigung des Arbeitgebers durch den Entzug der Arbeitskraft. Der Gesetzgeber hat 2017 im § 11 Abs. 5 AÜG ein explizites Verbot der Inanspruchnahme von Leiharbeitern zum ausdrücklichen Unterlaufen eines konkreten Arbeitskampfes normiert. Im Absatz 5 des § 11 AÜG heißt es:

»Der Entleiher darf Leiharbeitnehmer nicht tätig werden lassen, wenn sein Betrieb unmittelbar durch einen Arbeitskampf betroffen ist. Satz 1 gilt nicht, wenn der Entleiher sicherstellt, dass Leiharbeitnehmer keine Tätigkeiten übernehmen, die bisher von Arbeitnehmern erledigt wurden, die
1. sich im Arbeitskampf befinden oder
2. ihrerseits Tätigkeiten von Arbeitnehmern, die sich im Arbeitskampf befinden, übernommen haben.
Der Leiharbeitnehmer ist nicht verpflichtet, bei einem Entleiher tätig zu sein, soweit dieser durch einen Arbeitskampf unmittelbar betroffen ist. In den Fällen eines Arbeitskampfes hat der Verleiher den Leiharbeitnehmer auf das Recht, die Arbeitsleistung zu verweigern, hinzuweisen.«

Eine klare Ansage des Gesetzgebers – und dagegen wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt. Das BVerfG erläutert: »Die Beschwerdeführerin wendet sich als Arbeitgeberin in der Unterhaltungsindustrie gegen das 2017 eingeführte Streikbrecherverbot in § 11 Abs. 5 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG). Hiernach darf der Entleiher Leiharbeitskräfte nicht auf bestreikten Arbeitsplätzen tätig werden lassen, wenn sein Betrieb unmittelbar durch einen Arbeitskampf betroffen ist. Das Verbot schränke sie insbesondere in der Wahl der Mittel eines Arbeitskampfes ein und verletze dadurch ihre Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG.« Bei der „Arbeitgeberin aus der Unterhaltungsindustrie“ handelt es sich um den bundesweit tätigen Kinobetreiber CineStar.

Die Verfassungsbeschwerde, so die Richter in Karlsruhe, sei unbegründet. Dabei wird wie folgt argumentiert:

»Grundsätzlich ist es den Tarifvertragsparteien selbst überlassen, ihre Kampfmittel den sich wandelnden Umständen anzupassen, um dem Gegner gewachsen zu bleiben und ausgewogene Tarifabschlüsse zu erzielen.« Das bedeutet also, dass es durchaus nicht von vornherein unzulässig sein muss, wenn Arbeitgeber versuchen, Arbeitskampfmaßnahmen der Gegenseite zu unterlaufen. »Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie darf nicht gefährdet werden, was nur gilt, solange zwischen den Tarifvertragsparteien ein ungefähres Kräftegleichgewicht – Parität – besteht.« Aber Disparitäten, so die Verfassungsrichter, »die nicht strukturell bedingt sind, sondern auf inneren Schwächen einer Koalition beruhen«, müssen vom Gesetzgeber nicht ausgeglichen werden.

Die angegriffene Regelung eines Verbots der streikbrechenden Leiharbeit sei „im engeren Sinne verhältnismäßig“, so das BVerfG. Und begründet wird das damit, dass die Regelung im § 11 Abs. 5 AÜG strukturelle Disparitäten zuungunsten der Gewerkschaften vermeidet und gerade deshalb zulässig, ja notwendig sei. In den Worten des hohen Gerichts:

»Die Arbeitgeber werden in ihrer Entscheidung beschränkt, Leiharbeitskräfte einzusetzen, um sich gegen einen Streik zu wehren. Doch verbietet die Vorschrift nicht den generellen Einsatz von Leiharbeitskräften im Betrieb, sondern nur den unmittelbaren oder mittelbaren Einsatz als Streikbrecher. Der Gesetzgeber verfolgt damit Ziele von so erheblichem Gewicht, dass sie grundsätzlich geeignet sind, auch gewichtige Grundrechtsbeschränkungen zu rechtfertigen. Das gilt für das Ziel, auch Leiharbeitskräften ein sozial angemessenes Arbeitsverhältnis zu sichern, wie auch für das Ziel, die Funktionsfähigkeit der grundrechtlich gewährleisteten Tarifautonomie zu sichern, weil die Arbeitnehmerüberlassung in gesteigertem Maße im Arbeitskampf eingesetzt worden sei und dies die Kräfte erheblich zulasten der Gewerkschaften verschiebt. Damit zielt die Regelung auf die grundlegende Parität der Tarifvertragsparteien ab. Die Gewerkschaften verfügen entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin auch nicht bereits über stärkere Kampfmittel. Gerade sie sind auf ein ausgewogenes Kräfteverhältnis im Arbeitskampf angewiesen, um ihre Positionen auf Augenhöhe zu verhandeln. Damit verletzt der Gesetzgeber auch nicht die staatliche Pflicht zur Neutralität. Es ist ihm gerade nicht verwehrt, die Rahmenbedingungen im Tarifvertragsrecht zu ändern, um Parität wiederherzustellen.«

Die ausführliche Fassung findet man hier: BVerfG, Beschluss vom 19. Juni 2020 – 1 BvR 842/17.