Die Schweiz hat sie auch: Wohnungsnot. Und demnächst eine Volksabstimmung über die „Initiative für mehr bezahlbare Wohnungen“

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, die in Teilen des Landes, vor allem in den (Groß)Städten, immer schwieriger werdende Versorgung mit Wohnraum als eines der ganz großen sozialpolitischen Themen in den vor uns liegenden Jahren zu identifizieren. Das spüren nicht nur die Hartz IV-Empfänger und die Menschen mit sehr kleinen Einkommen, sondern Wohnungsmangel diffundiert als Problem immer stärker in die Reihen der „Normalverdiener“.

So liest sich der Anfang des Beitrags Wohnst Du schon oder suchst Du noch? Die Wohnungsfrage als neue alte soziale und „Markt“-Frage, zunehmend auch für die „Mitte“, der hier am 10. September 2014, also vor mehreren Jahren, veröffentlicht wurde. Seither hat das angesprochene Problem in den Groß- und anderen Städten weiter und erheblich an gesellschaftlicher Sprengkraft zugelegt. Das schlägt sich in zahlreichen Berichten in den Medien nieder. Stück für Stück erobert die Wohnungsfrage als neue (alte) soziale Frage (vgl. dazu aus dem Jahr 2015 den Beitrag Eine expandierende Großbaustelle mit offensichtlichen Baumängeln: Die Wohnungsfrage als eines der zentralen sozialen Probleme der vor uns liegenden Jahre) Städte und Regionen, die sich bislang noch sicher gefühlt haben. Dazu nur als Beispiel das Thema einer Hintergrund-Sendung des Deutschlandfunks am 3. Januar 2020: »In Leipzig und anderen ostdeutschen Großstädten schnellen die Preise auf dem Wohnungsmarkt rasant in die Höhe. Die Löhne dagegen steigen langsamer als die Mieten. Die Folge: Die Zahl der Menschen mit Mietschulden wächst und alteingesessene Bewohner werden zunehmend aus ihren Vierteln verdrängt.«

Und wenn wir wohnungspolitisch an das nunmehr vergangene Jahr 2019 denken, dann wird vielen sicher der Vorstoß der rot-rot-grünen Regierung in der Stadt Berlin hin zu einem „Mietendeckel“, der nicht nur ein Mietenstopp vorsieht, sondern auch eine Absenkung bestimmter Mieten, die heute schon bezahlt werden, vor dem inneren Auge erscheinen. Dieses Ansinnen des Berliner Senats ist aus guten Gründen höchst umstritten, manche interessierte Kreise fahren aber Geschütze dergestalt auf, dass man den Eindruck bekommen könnte, die seit langem untergegangenen Sowjets wurden reanimiert und stehen erneut in der deutschen Hauptstadt.

Eine Allianz aus Vertretern der Immobilienbranche, bürgerlichen Parteien und Bauwirtschaft warnt vor einer „Verstaatlichung des Wohnungsmarkts“ – dieser Formulierung bezieht sich nun aber nicht auf die aktuelle Gefechtslage in Berlin, sondern man findet sie in einem Artikel, der sich mit der Schweiz beschäftigt, einem des Sozialismus sicher unverdächtigen Landes: Eine Schweizer Volksinitiative will für mehr bezahlbaren Wohnraum sorgen, so hat Michael Brächer im Handelsblatt seinen Bericht aus unserem Nachbarland Schweiz überschrieben. Nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund der aufgeheizten Debatte in Deutschland kann der Blick über den nationalen Gartenzaun möglicherweise inspirierend, auf alle Fälle aber interessant sein. Dies allein schon deshalb, weil man für Deutschland im internationalen Vergleich immer einen überdurchschnittlich hohen Anteilswert an Menschen, die zur Miete und nicht in eigenem Wohneigentum leben, ausweist.

Das schaffen die Schweizer auch – und sogar mehr, wie Michael Brächer erläutert: »Mit einer Wohneigentumsquote von gerade einmal gut 40 Prozent gilt die Eidgenossenschaft als das Land mit den meisten Mietern in Europa. Gleichzeitig sind die Mieten deutlich höher als in den meisten Nachbarländern. Eine Dreieinhalbzimmerwohnung in Zürich kostet im Schnitt rund 2.500 Franken (2.290 Euro), in Genf werden sogar 2.700 Franken (2.473 Euro) fällig. Die hohen Mieten haben auch mit dem hohen Durchschnittseinkommen der Schweizer zu tun. Relativ betrachtet geben die Bewohner des Alpenlandes rund ein Viertel ihres verfügbaren Einkommens für Wohnraum aus, das entspricht in etwa den Verhältnissen in Deutschland.«

Zugleich muss man wie in Deutschland auch in der Schweiz genau hinschauen, wenn es um Wohnraummangel, Wohnungsnot und eine überbordende Mietenentwicklung geht – das ist nicht überall so: »Tatsächlich werden in der Schweiz Tausende neue Wohnungen gebaut – doch oft an den falschen Orten. Während es in den Städten wie Zürich oder Genf an freien Wohnungen mangelt, stehen landesweit rund 75.000 Wohnungen leer – das entspricht einer Geisterstadt in der Größe von Bern. In manchen ländlichen Gemeinden liegt die Leerstandsquote bei zwölf Prozent«, so Brächer. Wie kann es sein, dass vor diesem Hintergrund dennoch auch in den ländlichen Regionen viel neu gebaut wird? Der Schweizer Mieterinnen- und Mieterverband »sieht die Schuld bei renditeorientierten Investoren. So habe sich der Anteil von Mietwohnungen, die sich in der Hand von Versicherern, Banken, Immobilienfonds oder Aktiengesellschaften befinden, seit der Jahrtausendwende von 29 auf 39 Prozent erhöht.«

Das mit den „renditeorientierten Investoren“ kenne wir aus Deutschland zur Genüge – dabei gibt es aber in der Schweiz eine Besonderheit, die wir bei uns so nicht haben: »Ein Grund für den Boom sind die niedrigen Zinsen: Auf der Suche nach Rendite investieren Banken, Versicherer und Pensionskassen Milliarden in den Markt. Ausländische Anleger bleiben dabei außen vor, ihnen untersagt die sogenannte „Lex Koller“ den Grunderwerb.«

Gemeinsam mit linken Parteien, Genossenschafts- und Wohlfahrtsverbänden hat der Mieterverband rund 100 000 Unterschriften für eine Volksinitiative gesammelt, über die am 6. Februar abgestimmt wird. Das Ziel: Das Gesetz soll den Staat dazu verpflichten, für die Entstehung von mehr bezahlbaren Mietwohnungen zu sorgen. Demnach soll der Staat künftig sicherstellen, dass es sich bei zehn Prozent der Neubauten um gemeinnützige Wohnungen handelt.

»Der Mieterinnen- und Mieterverband Schweiz lancierte 2015 zusammen mit dem Verband Wohnbaugenossenschaften Schweiz, dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB), der SP Schweiz und den Grünen die nationale Initiative «Mehr bezahlbare Wohnungen». Sechs Monate vor Ablauf der Sammelfrist wurde sie am 18. Oktober 2016 mit 105’000 gültigen Unterschriften eingereicht. Am 9. Februar 2020 kommt die Initiative an die Urne.« Das findet man auf der Website der Initiative:

Initiative „Mehr bezahlbare Wohnungen“

Ein offizielle Seite zur anstehenden Volksabstimmung wird vom Bundesamt für Wohnungswesen BWO bereitgestellt: Volksinitiative „Mehr bezahlbare Wohnungen“.

Und natürlich sind auch die Gegner dieser Initiative im Netz mit einer eigenen Seite vertreten, die man sich hier anschauen kann:

Komitee „Nein zur Mieterverbandsinitiative“

Die „Initiative für mehr bezahlbare Wohnungen“ verspricht Abhilfe angesichts des in Teil der Schweiz grassierenden Wohnungsmangels – vor allem in Städten wie Genf oder Zürich ist bezahlbarer Wohnraum Mangelware: Die Aktivisten wollen den Staat per Volksinitiative dazu verpflichten, für mehr Wohnungen gemeinnütziger Genossenschaften zu sorgen, die nur zum Selbstkostenpreis vermietet werden dürfen. Es geht bei der Initiative im Kern darum dass es sich bei zehn Prozent der Neubauten um gemeinnützige Wohnungen handeln muss. »Zudem sollen Kantone und Gemeinden dazu ermächtigt werden, ein Vorkaufsrecht für geeignete Grundstücke einzuführen. Ein solches Vorkaufsrecht soll es auch dann geben, wenn der Bund oder bundesnahe Betriebe sich von Grundstücken trennen. Diese Maßnahme zielt vor allem auf die staatliche Schweizer Eisenbahn, die – ähnlich wie in Deutschland die Deutsche Bahn – auch über große Grundstücksbestände verfügt«, berichtet Michael Brächer.

»Bei Hauseigentümern und Immobilienverbänden stößt die Initiative naturgemäß auf wenig Gegenliebe. Eine Allianz aus Vertretern der Immobilienbranche, bürgerlichen Parteien und Bauwirtschaft warnt vor einer „Verstaatlichung des Wohnungsmarkts“, durch die die Mieten sogar steigen könnten. Die Initiative sorge für unnötige Bürokratie, denn es brauche einen „Kontrollapparat“, um die neuen Regeln zu überwachen. Wohnungsbau werde damit noch komplizierter, zudem drohten zusätzliche Kosten in Millionenhöhe. Sogar von „sozialistischen Eingriffen in die Eigentumsrechte“ ist die Rede. „Es kann nicht sein, dass die große Mehrheit über ihre Wohnungsmiete auf dem privaten Markt und über Steuern die Zeche bezahlen soll, damit ein paar wenige vom Privileg einer gemeinnützigen Wohnung profitieren“, sagt etwa Olivier Feller, Nationalrat der Schweizer FDP.«

Und was sagt die Schweizer Regierung zu dem Vorstoß der Initiative? Sie empfiehlt den Bürgern, die Initiative abzulehnen, und stellt stattdessen 250 Millionen Franken für den gemeinnützigen Wohnungsbau in Aussicht. Auf der offiziellen Seite zur anstehenden Volksabstimmung findet man diesen Hinweis: Bundesrat und Parlament lehnen die Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» ab:

»Der Bundesrat stellt in seiner Botschaft klar, dass die von der Initiative geforderten Markteingriffe weder nötig noch realistisch sind. Dies gilt nicht nur für die Vorgabe, dass mindestens zehn Prozent der neu gebauten Wohnungen im Eigentum gemeinnütziger Wohnbauträger sein müssen. Auch die geforderten Vorkaufsrechte und die postulierten Vorkehrungen zur Verhinderung des Verlustes von preisgünstigem Wohnraum sind mit den Grundsätzen einer marktwirtschaftlichen Wohnungsversorgung nicht vereinbar. Die Umsetzung der geforderten Massnahmen würde zudem den Bund und die Kantone finanziell über Gebühr belasten. Deshalb empfiehlt der Bundesrat die Volksinitiative zur Ablehnung.
Der Bundesrat ist sich aber bewusst, dass das Wohnen in der Bevölkerung einen hohen Stellenwert hat und dass es trotz aktueller Marktentspannung regional und für verschiedene Bevölkerungsgruppen schwierig bleibt, eine angemessene und finanziell tragbare Wohnung zu finden. Er hat deshalb entschieden, die Ablehnung mit einem Rahmenkredit im Umfang von 250 Millionen Franken zur Aufstockung des Fonds de Roulement zugunsten des gemeinnützigen Wohnungsbaus zu verbinden … Damit soll der gemeinnützige Wohnungsbau seinen aktuellen Marktanteil von rund vier Prozent längerfristig halten können. Dieser Bundesbeschluss tritt in Kraft, falls die Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» von Volks und Ständen abgelehnt wird.«

Für den gemeinnützigen Wohnungsbau einen „Marktanteil von rund vier Prozent längerfristig halten zu können“ – das klingt nicht gerade ambitioniert.

Man darf gespannt sein, wie die Abstimmung Anfang Februar 2020 ausgeht, denn: »Doch trotz aller Kritik sehen die Schweizer die Initiative bislang sehr positiv. Zwei Drittel würden wohl mit „Ja“ stimmen, geht aus der jüngsten Umfrage für den Schweizer Rundfunk durch das Meinungsforschungsinstitut Gfs Bern hervor. Die Zustimmung zieht sich demnach durch sämtliche Bevölkerungsgruppen und Sprachregionen des Landes«, kann man dem Artikel von Brächer entnehmen. Aber: Demoskopen erwarten, dass der Vorsprung der Befürworter der Initiative in den kommenden Wochen abschmelzen könnte – der Wahlkampf hat gerade erst begonnen. Und man muss wissen: »Die Hürden liegen hoch. Damit die Gesetzesänderung zustande kommt, muss nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung mit Ja stimmen. Auch die meisten der 26 Kantone müssten der Initiative den Segen erteilen – gerade in ländlichen Gegenden, wo genossenschaftliches Wohnen kaum eine Rolle spielt, könnte sich das Vorhaben schwertun.«