Wie immer im wirklichen Leben sind die Ursachen komplex und vielfältig. Aber die Sache an sich ist existenziell: Stromsperren. Die haben mehr als 300.000 Haushalte zu spüren bekommen

»Die Energieversorger in Deutschland klemmen immer häufiger wegen ausstehender Zahlungen den Strom ab. Die Stromsperre trifft vor allem arme Haushalte – und führen zu exorbitanten Folgekosten.« Das konnte man hier am 20. August 2016 lesen, in dem Beitrag Aus den Untiefen des Selbstverständlichen: Energiearmut als soziales Risiko und existenzielles Problem. Und das Zitat stammt ursprünglich aus dieser Sendung des Deutschlandfunks vom 18.08.2016: Von der Stromsperre in den Ruin: »Wohn- und Kinderzimmer bleiben dunkel, die Küche kalt. 2011 waren davon 312.000 Haushalte betroffen, 2014 schon 352.000 – Tendenz weiter steigend!«

Vor diesem Hintergrund könnte man den aktuellen Meldungen über eine neue Studie eine gewisse Entwarnung entnehmen, wenn es nur um die entpersonalisierten Zahlen gehen würde. »Im Jahr 2018 wurde etwa 4,9 Millionen Haushalten in Deutschland eine Stromsperre angedroht. Davon wurde rund 300.000 Haushalten der Strom gesperrt.« So die Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) unter der Überschrift Bezahlbarkeit von Energie. Was führt zu einer Stromsperre? Die Ursachen sind komplex und vielfältig. Dort wird berichtet, der „Marktwächter Energie“ habe die Ursachen des Zahlungsverzugs, die Herausforderungen bei der Lösungsfindung und die Folgen einer Sperrandrohung beziehungsweise Stromsperre in Deutschland aus Verbraucherperspektive untersucht.

Herausgekommen ist diese Veröffentlichung:

➔ Verbraucherzentrale Bundesverband (Hrsg.) (2019): Bezahlbarkeit von Energie. Eine Studie des Marktwächters Energie zu angedrohten beziehungsweise durchgeführten Stromsperren in Deutschland, Berlin, November 2019

In der Studie selber heißt es dann zu en Zahlen: »Rund 340.000 privaten Haushalten und gewerblichen Stromkunden wurde in Deutschland der Strom gesperrt.« (S. 8). Ergänzt um den Hinweis, dass die Anzahl in den vergangenen Jahren gleich geblieben sei.

Insofern kann man positiv zur Kenntnis nehmen, dass der noch vor einigen Jahren beobachtete Anstieg der Stromsperren offensichtlich gestoppt werden konnte, man kann sogar von einem leichten Rückgang sprechen, wenn man bedenkt, dass gleichzeitig die Bevölkerungszahl zugenommen hat.

Aber wir sprechen hier von mehr als 300.000 Haushalten, denen etwas gesperrt wurde, was wir alle als so dermaßen selbstverständlich erachten, dass uns lediglich bei Stromausfällen in Erinnerung gerufen wird, über welche existenzielle Angelegenheit wir hier berichten. Und wie hilflos wir und die Gesellschaft werden, wenn der Strom ausgefallen ist.

»Ohne Strom ist ein normales Leben in Deutschland jedoch kaum möglich. Er wird zum Heizen, Kochen und Kühlen genauso gebraucht wie für die Nutzung von Waschmaschine, Fernseher, Telefon und Computer. Unter anderem deswegen wird die Versorgung mit Energie vom Bundesverfassungsgericht als Teil des „menschenwürdigen Existenzminimums“ angesehen«, so die Studie unter Bezug auf Entscheidungen des BVerfG aus den Jahren 2010 und 2014: 1 BvL 1/09 und 1 BvL 10/12.

De Studie arbeitet detailliert unterschiedliche Perspektiven, Ursachen und Einflussfaktoren auf den Verlauf heraus. Dem Fazit kann man hinsichtlich der Problemdiagnose wie auch möglicher Handlungsoptionen entnehmen (S. 52):

»Probleme rund um die Bezahlbarkeit von Energie sind komplex und vielschichtig. Es greift zu kurz, ausschließlich die gestiegenen Strompreise beziehungsweise den niedrigen Regelsatz oder wahlweise nur den Energielieferanten, die Sozialbehörde oder den Verbraucher als monokausale Ursache des Problems auszumachen. Wenn Rechnungen für Strom unbezahlt bleiben, stecken meist größere Probleme, wie ein geringes Einkommen, ein hoher Energieverbrauch, verursacht durch beispielsweise unsanierte Gebäude sowie ineffiziente Geräte gepaart mit steigenden Energiepriesen, dahinter. Zeitlich ungünstige Abläufe bei der Auszahlung von Sozialleistungen, starre ALG- II-Regelsätze und eine mangelnde Berücksichtigung des Heizsystems im geförderten Wohnraum tragen ebenfalls zum Problem bei. Aber auch fehlende Kontrollmöglichkeiten des eigenen Verbrauchs, geschätzte Zählerstände und Unwissenheit über Zahlungs- und Abrechnungsmodalitäten erschweren die Lösungsfindung.«

»Das heterogene Forderungs- und Informationsmanagement von Energielieferanten bildet einen weiteren Faktor dafür, dass von Stromsperren bedrohte Verbraucher ihren Strom nicht rechtzeitig und/oder vollständig bezahlen können. So bleiben vor Vollzug einer Energiesperre mildere Mittel wie Ratenzahlung und Stundung mitunter ungeprüft. Des Weiterhin wird die Energieversorgung nicht immer sofort wiederhergestellt, selbst wenn tragfähige Lösungen für die Regulierung des Zahlungsrückstands gefunden wurden, wodurch weitere Kosten entstehen können. Nebenforderungen der Energielieferanten führen darüber hinaus zu hohen Rückständen, deren Regulierung bisweilen nur schwer möglich ist. Eine Verlängerung von Mahn- und Sperrfristen sowie eine Deckelung der Mahn- und Folgekosten könnten hier Abhilfe schaffen.«

»Unabhängige Beratungsangebote von den Wohlfahrtsverbänden und den Verbraucherzentralen zum Umgang mit Finanzen sowie Förderprogramme für Energieeffizienzmaßnahmen können zu Verhaltensänderungen und damit zur finanziellen Entlastung beitragen, die es Verbrauchern ermöglicht, ihren Verpflichtungen gegenüber den Energielieferanten besser nachzukommen. Als Vermittler zwischen Verbraucher, Energielieferant und gegebenenfalls Sozialbehörden finden sie zeitnah Lösungen, tragen langfristig unter anderem zu einer verbesserten Zusammenarbeit zwischen den Akteuren bei und helfen, Stromsperren abzuwehren beziehungsweise zeitnah aufheben zu lassen. Das zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung.«

»Insgesamt ist ein Bündel an Maßnahmen erforderlich, um Energieschulden, Zahlungsrückständen und Stromsperren entgegenzuwirken. Das ist insbesondere wichtig, wenn Haushalten mit verletzlichen und somit schützenswerten Verbrauchergruppen wie Hochschwangeren, Familien mit Säuglingen und kleinen Kindern sowie chronisch kranken und alten Menschen der Strom gesperrt wird.« Bei diesem letzten Punkt kann und muss man dann durchaus die Frage aufwerfen, ob diesen besonders vulnerablen Personengruppen überhaupt der Strom gesperrt werden darf.

In der Vergangenheit wurde in den Berichten über das Problem der Energiearmut immer wieder darauf hingewiesen, dass gerade Hartz IV-Empfänger oftmals zu den Betroffenen gehören. Das hängt nicht nur, aber auch damit zusammen, dass aus dem Regelsatz von derzeit 424 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen mit 37,60 Euro pro Monat auch die Kosten für Energie und Wohninstandhaltung abgedeckt werden müssen. Die Energiekosten wurden pauschaliert in den allgemeinen Regelsatz eingespreist, sie wegen eben nicht separat bezahlt. Und der Anstieg der Stromkosten war in der Vergangenheit deutlich größer als der Anstieg des Anteilswerts für Energie im Regelsatz. Vgl. dazu bereits den Beitrag Hartz IV: Teurer Strom, Energiearmut und das ewige Pauschalierungsdilemma vom 16. Februar 2015.

Praktisch helfen kann ein Datenaustausch zwischen Jobcentern und dem Grundversorger. »Ein Modell, das bereits in einigen Kommunen erfolgreich praktiziert wird. So zum Beispiel in Saarbrücken. Dort waren 2012 vier Kinder einer von Stromsperrung betroffenen Familie bei einem Brandunglück ums Leben. Inzwischen willigen dort Hartz-IV-Bezieher*innen in einen Datenaustausch zwischen Energieversorger und zuständigem Jobcenter ein. Kommt es zum Zahlungsrückstand können Probleme in der Kommunikation zwischen Jobcenter und Versorger meist gelöst werden. Nur bei rund einem Prozent der angekündigten Energiesperren komme es seitdem tatsächlich zur Sperrung, teilt die Stadt Saarbrücken mit«, berichtet Tim Zülch in seinem Artikel Energiearmut muss nicht sein vom 6. März 2019. Auch hier geht es um Handlungsoptionen.

»Sparen ist eine Lösung: »150 bis 600 Euro pro Jahr und Haushalt lassen sich hier nach unseren Erfahrungen einsparen«, sagt Sven Schoß vom Strom-Check der Caritas Berlin. Er berät mit seinem Team Menschen, die soziale Leistungen beziehen, und kann helfen, stromsparende Geräte zu finanzieren.« Aber auch das erfährt man von denen, die an der Praxisfront arbeiten: „Teilweise haben unsere Klienten riesige Plasmafernseher an den Wänden. Die verbrauchen so viel Strom, dass man die Wohnung gar nicht mehr anders heizen muss.“ Nach seiner Erfahrung sind vor allem auch Kühlschränke, die nicht auf dem aktuellen Stand sind, große Stromfresser.